Raphaela Edelbauer: Die Inkommensurablen
Buch
Es klingt immer ein bisschen nach Verheißung, wenn über Raphaela Edelbauers dritten Roman „Die Inkommensurablen“ berichtet wird. Die NZZ schreibt, das Buch wirke „wie ein ‚Sissy‘-Film auf Drogen“, der Deutschlandfunk verspricht einen „traumnovellenartigen Trip“ in das queere, habsburgische Wien, die Autorin selbst spricht im Bücher-Podcast der FAZ über ihre Faszination für Stricherlokale, Halbweltfiguren und Opiumhöhlen im Wien kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Sebastian Galyga hat sich hineingeworfen in die fabulier- und formulierfreudige Welt der „Inkommensurablen“ – und eine Zeitreise erlebt, die mal vergnüglich, mal monströs, vor allem aber hochaktuell daherkommt.
Zeitenwende in 24 Stunden
von Sebastian Galyga
„Lassen Sie mich raten: Sie waren noch nie in Wien“, sagte die Frau fast begierig. „Um ehrlich zu sein, war ich noch niemals irgendwo.“
Die Welt ist groß und undurchsichtig, wenn einer, so wie der siebzehnjährige Hans, eigentlich das ganze Leben auf einem Tiroler Bauernhof als Knecht verbracht hat. Und umso wirrer, wilder und wütender erscheint alles, wenn einer sich – ebenfalls wie der Hans aus Tirol – am Vorabend des offiziellen Kriegseintritts Österreich-Ungarns im Jahr 1914 erstmalig vom heimischen Hof weg in die ferne Hauptstadt begibt.
Bereits aus dieser Ausgangssituation ist ersichtlich, was die österreichische Autorin Raphaela Edelbauer in ihren Roman mit dem etwas widerständig daherkommenden Titel „Die Inkommensurablen“ ausführlichst beleuchtet: eine Zeitenwende. Und damit könnte das Buch ja kaum aktueller und gegenwartsbezogener sein. Der junge Hans, der übermüdet und mit wenigen, abgegriffenen Münzen in den Taschen nach Wien kommt, hat eigentlich den Plan, eine Psychoanalyse bei der bekannten Analytikerin Helene Cheresch zu beginnen. Er glaubt nämlich, die Fähigkeit zu besitzen, die Gedanken anderer Menschen lesen und voraussehen zu können. Vom Wiener Westbahnhof aus stolpert er jedoch von einem Ereignis des Zeit- und Weltgeschehens ins nächste. Er trifft auf Burschenschafter, Bettler, Arbeiter und Universitätsprofessoren; auf die höchsten Militärführer, die den Krieg vorbereiten; auf junge Musiker, die den Aufbruch in der Arbeit Arnold Schönbergs preisen; auf Suffragetten, die das Wahlrecht und die Selbstbestimmtheit für Frauen erkämpfen wollen; auf queere Menschen, die in der frigiden und konservativen k. u. k. Monarchie dazu verdammt sind, ein Leben im Untergrund zu führen … und all das in nur einem Tag. Denn die Handlung des Romans erstreckt sich über gerade einmal vierundzwanzig Stunden.
Trotz des kleinen Zeitfensters taucht „Die Inkommensurablen” in etliche Welten tief ein. Was Edelbauer ab der ersten Seite ganz famos gelingt, ist die Perspektive der zentralen Figur. Hans ist der naive, etwas dumme und unwissende Bauerntölpel vom Lande, der die großstädtischen Weltereignisse staunend anschaut, naiv nachfragt und verunsichert wird. Viele Lesende dürften ihm dabei einen Schritt voraus sein, was aber auch bedeutet, dass sie sich neben Hans ausruhen und völlig zu Recht verwirrt sein können, wenn da im Abstand von nur wenigen Seiten mathematische Vorträge an der Universität auf trunken berauschte Streitgespräche über Ontologie, Epistemologie oder Musiktheorie und politische Diskurse über Krieg, Nationalismus, Gleichberechtigung und die (gleichgeschlechtliche) Liebe auf Hans einstürzen. So viel sei gesagt: Edelbauer hat großes Vertrauen in die Konzentrationsfähigkeit ihres Publikums. „Die Inkommensurablen“ ist wahrlich ein voraussetzungsreiches Buch, aber eben auch ein großer, selbstironischer Spaß!
Dass Hans, über dessen Schulter die Lesenden die Romanhandlung verfolgen, ein weißer und heterosexueller Mann ist, könnte Eindimensionalität zur Folge haben, doch Edelbauer erzählt die Geschichte eben nicht aus Sicht der „großen Männer“. Vielmehr bricht sie direkt mit der erwartbaren Perspektive, indem sie ihrer Hauptfigur unter anderem die lesbische Mathematikstudentin Klara zur Seite stellt. Ihr folgt Hans in den Untergrund, in dem sich (damals gesetzlich verbotenes) queeres Leben abspielt und diverse andere marginalisierte Existenzen auftauchen. Trotzdem verwendet der Roman Queerness weder als Knalleffekt noch als Feigenblatt. Vielmehr macht es seinen gegenwärtigen Blickwinkel aus, dass er thematisiert, wie es Frauen, queeren Menschen, sowie all jenen, die nicht reich und adelig waren, damals eigentlich ging. Edelbauers Danksagungen – die unter anderem die queere Wiener Buchhandlung Löwenherz erwähnen – sowie dem Text anhängende Quellenangaben bürgen dabei für die historische Korrektheit der Beschreibung queer-lesbischen Lebens. Nicht, dass das im Fiktionalen relevant wäre, aber es ist schön zu sehen.
Weiterhin beweist Raphaela Edelbauer mit ihrem neuen Buch eine große Wandlungsfähigkeit. In ihrem letzten Roman „Dave“ beschäftigte sie sich mit künstlichen Intelligenzen und der Zukunft, nun also mit der Vergangenheit Österreich-Ungarns, Kriegsanfängen, Traumdeutung, Musik, Mathematik und lesbischen Lebensrealitäten zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Sprachlich hat sie sich dabei auf Krachtsche Weise ganz ins Manieristische vergraben. In der Sprechweise ihrer Protagonist:innen, wie auch der erzählenden Figur, bildet sie den Vorabend des Weltkriegs nach, durch inversiv gebaute Sätze und aus heutiger Sicht unzeitgemäße Phrasen quillt aus jedem Absatz die literarische Absicht der Zeitreise hervor. Meist bereitet das Vergnügen. Meist. Zuweilen misslingt der Versuch, das überfordernde Rauschgefühl der Zeitenwende, des historischen Augenblicks, erfahrbar zu machen allerdings auch, und das Lesen wird sehr anstrengend. Wie Hans und die Wiener Gesellschaft überrannt werden von den Ereignissen, bläht sich dann auch die Erzählung so sehr auf, dass sich die sprachkünstlerische Leichtigkeit zum angsteinflößenden Monstrum wandelt. Doch im Gegensatz zum historischen Moment lassen sich Zeilen und Sätze ja zum Glück erneut lesen, erleben und somit verarbeiten.
Was „Die Inkommensurablen“ aber wirklich zur lohnenden Lektüre macht, ist der Gegenwartsbezug, den bereits der Titel andeutet. Das Phänomen der Inkommensurabilität hat in unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen abweichende Bedeutungen. So forscht die junge Mathematikerin Klara im Roman zu inkommensurablen Zahlen, also Zahlen, die keine gemeinsamen Teiler haben. Aus heutiger Sicht ist aber besonders die philosophische Perspektive relevant: Zwei Meinungen oder Positionen sind inkommensurabel, wenn sich keine gemeinsamen Grundverständnisse mehr finden lassen, um sie überhaupt miteinander zu vergleichen. Wenn zwei Menschen nicht einmal mehr dieselben Fakten akzeptieren, sind die Argumente, die sie daraus ableiten, inkommensurabel.
Dieses Phänomen lässt sich auf Ereignisse wie das Attentat von Sarajevo anwenden, das das Weltgeschehen im Juni 1914 radikal umlenkte, aber auch auf heute. Ganz offensichtlich will der Roman mit dem historischen Stoff in die Gegenwart stechen und Parallelen zu Fake-News-Debatten und aktuellem politischen Extremismus ziehen. Er tut das unaufdringlich genug, um nicht die eigentliche Handlung mit nervig moralisierenden Klingen zu zersäbeln, doch hinter der Kunstsprache, dem Sezieren der Vergangenheit, verbirgt sich stets eine moderne Perspektive, die den Roman erst auszeichnet. Diese Qualität lässt sich auf die queeren Aspekte der Erzählung übertragen. Dadurch, dass Edelbauer Dimensionen wie Klasse, Objektivität, Gleichberechtigung und Queerness in die historischen Geschehnisse einzieht, macht sie „Die Inkommensurablen” vom Historienroman zur literarischen Errungenschaft der Gegenwart.
Die Inkommensurablen
von Raphaela Edelbauer
Hardcover, 352 Seiten, € 25,
Klett-Cotta