Tár

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Cate Blanchett spielt die begnatete amerikanische Dirigentin und Komponistin Lydia Tár, die als erste Frau ein großes deutsches Orchester leitet. Auf dem Höhepunkt ihrer Karriere bereitet die offen lesbische Musikerin die mit Spannung erwartete Einspielung von Gustav Mahlers 5. Sinfonie vor. Doch als sie mit dem Freitod eines ehemaligen Protegés in Verbindung gebracht wird, gerät ihre streng durchgetaktete Welt ins Wanken. Für ihre formidable Darstellung einer hochkomplexen Frauenfigur wird Cate Blanchett aller Wahrscheinlichkeit nach am Montag ihren dritten Oscar entgegennehmen. Barbara Schweizerhof über die vielen Schichten eines meisterhaften Dramas zwischen feministischem Porträt und abgründigem Geisterfilm.

Foto: Focus Features

Ritual und Verführung

von Barbara Schweizerhof

Es klingt fast wie eine Kinoempfehlung für das Nischensegment der Klassik-Liebhaber: ein Film über den Karriereniedergang einer fiktiven Dirigentin der Berliner Philharmoniker. Vielleicht deshalb fügen viele Besprechungen zwei der wichtigsten Begriffe der öffentlichen Diskussion der letzten Jahre, #Metoo und „Cancel Culture“, an, um für Todd Fields Film „Tár“ zu werben. Nicht dass sich dafür keine gute Gründe im Film selbst finden ließen. Denn ja, es gibt insbesondere eine Szene, in der die von Cate Blanchett verkörperte Lydia Tár sich mit einem Studierenden anlegt, der von sich behauptet, als „Bipoc pangender person“ könne er nichts mit „cis white male composers“ wie Bach anfangen. Der Karriereniedergang, den Lydia Tár erleiden muss, hat aber weniger mit ihrer hinterhältig-scharfen Bloßstellung des Studierenden zu tun als mit ihrem übergriffigen Verhalten gegenüber jungen Frauen, die ihr untergeordnet oder anders von ihr abhängig sind. Der Vergleich zum Verhalten eines Harvey Weinsteins ist nicht völlig von der Hand zu weisen. Aber das eigentlich Interessante an Todd Fields Film ist tatsächlich weniger, dass er ein Weinstein- Szenario mit einer Frau im Zentrum erzählt, und so unsere Wahrnehmung „verfremdet“, sondern wie es ihm gelingt, auf diese Weise Strategien der Macht, des weiblichen Begehrens und nicht zuletzt der Musikbranche offen zu legen.

In der Realität unserer Gegenwart gibt es keine Frau, die das erreicht hat, was Lydia Tár erreicht hat. Allein schon der Filmtitel behandelt ihren Nachnamen wie ein Markenzeichen: „Tár“. Und dann wäre da noch die Liste ihrer Errungenschaften, die in einer der ersten Szenen kein anderer als der „New Yorker“-Redakteur Adam Gopnik – der sich hier selbst spielt – als Moderator eines Publikumsgesprächs mit Tár vorliest. Da wird Leonard Bernstein als ihr Förderer genannt, werden akademische Grade und zahlreiche bekannte Orchester, die sie schon dirigiert habe, aufgelistet, da wird hervorgehoben, dass sie als erste Frau das Philharmonische Orchester in Berlin anführe, dass sie Komponistinnen und Musikerinnen mit zahlreichen Initiativen fördere und und und. Die Vorstellung klingt so bombastisch, dass man sie für eine Parodie halten könnte. Dann kommt für einen Moment Társ Assistentin Francesca (Noémie Merlant), die in den Kulissen steht, ins Bild. Ihre Lippen sprechen die Aufzählung mit, und man begreift, dass sie es ist, die diese biografischen Angaben verfasst hat. Heißt das, dass nicht alles wahr ist, womit Lydia Tár sich schmückt? Schon ist ein mysteriöses Spannungsfeld geschaffen zwischen der Hauptfigur dieses Films, ihrer Umgebung und uns, den Zuschauer:innen.

Das Podiumsgespräch in New York, bei dem auch ihre durchaus angeberisch betitelte Autobiografie „Tár on Tár“ vorgestellt wird, erscheint im Nachhinein als letzter Karrierehöhepunkt. Denn danach geht es für Lydia Tár bergab, zuerst kaum merklich und dann in immer schnelleren Schritten. Im Film aber kehrt sie zunächst wie unberührt zurück nach Berlin, wo sie mit Lebensgefährtin Sharon (Nina Hoss) eine Tochter großzieht und besagte Philharmoniker leitet, mit Sharon als Konzertmeisterin. Saisonziel ist es, die 5. Sinfonie von Gustav Mahler zur Aufführung zu bringen.

Foto: Focus Features

Der Film folgt Lydia bei den sorgfältigen Vorbereitungen dafür. Wie in einer Art „Trainings-Montage“ werden Handlungen und Handgriffe rund um dieses hochkulturell-repräsentative Ritual herum gezeigt: der Besuch beim Schneider, der für Lydias Outfit Maß nimmt und Stoffe zuschneidet; der Griff zum teuren Caran d’Ache-Stift, mit dem sie ihre Notation beginnt; das Aufschlagen von schweren, stoffbeschlagenen Bänden; die Beratung mit Tontechnikern und natürlich auch der Termin mit einem Fotografen für das Plattencover. Wobei letzteres ein Moment der Irritation bereit hält, weil gleichzeitig explizit die Rede davon ist, dass es nur eine digitale Aufnahme von Társ live dirigierter „Fünfter“ geben wird.

Solche Widersprüche weisen zugleich den Weg in die Intrigen, die man Lydia dazu im Verdeckten spinnen sieht: Da sind die kleineren Dinge wie eben jenes Plattencover, bei dem sie sich bildlich in explizite Nachfolge zu Leonard Bernstein setzt. Aber da sind auch die geschickt eingefädelten Manipulationen, mit der sie für die Einstellung genau jener jungen russischen Cellistin sorgt, die ihr gefällt und der sie später ein großes Solo zuschiebt. Sie setzt – unter der Vorgabe von Sachzwängen und Vorurteilsfreiheit – den altgedienten Kapellmeister ab, enttäuscht dann aber die brave Assistentin Francesca, die auf die Stelle gehofft hatte. In einer den wohltemperierten Wohlklang unterbrechenden Szene sieht man sie im Schulhof ihrer Tochter ein kleines Mädchen einschüchtern. Und währenddessen wird Lydia Tár langsam aber sicher eingeholt von Gerüchten um eine ehemals von ihr geförderte Dirigenten-Schülerin, die sich umgebracht hat. Man sieht, wie Lydia hektisch in ihren eigenen E-Mails nach dem Namen sucht, als sie vom Selbstmord erfahren hat. Auf dem Bildschirm leuchten Sätze auf mit Sätzen wie „sie ist unstabil“, „für ihr Orchester völlig ungeeignet“ und „eine unzuverlässige Mitarbeiterin“. Ganz offenbar hat sie die Karriere der jungen Frau systematisch zerstört.

Foto: Focus Features

Statt psychologischer Einsichten ins Seelenleben seiner machtbewussten und erfolgreichen Heldin vermittelt „Tár“ auf verführerische Weise in sinnlichen Bildern, wie sich diese Macht und dieser Erfolg wohl von Innen anfühlen müssen. Die Details der Arbeit, die Lydia ausübt, mit den teuren Utensilien, benutzt in behüteter Umgebung, in der alle Geräusche von außen nur wie gedämpft eindringen, erscheinen zunehmend als Karten- bzw. Glashaus. Zwischendurch Flüge im Privatjet und Essen in dünn besuchten Restaurants mit weißen Tischdecken und viel Personal. Und natürlich die Auftritte mit Dirigierstab vorm Orchester: der Inbegriff von Macht, wenn die Instrumente wie Marionetten auf ihre Körpersprache reagieren.

Aber, und das macht „Tár“ so unglaublich spannend, in dieser Blase von Privileg gibt es auch beständige Irritationen: banale – wie die Störung durch zu laute Nachbarn, über die Tár in Aufregung gerät; aber auch rätselhafte – wie ein nachts plötzlich zu ticken beginnendes Metronom oder die undefinierbare Frauenschreie, die sie immer wieder beim Joggen im Park hört. Zwischendurch glaubt man sich fast in einem Geisterfilm, so subtil und übergangslos wechselt der Film von Hochkultur-Umgebung zu Horror-Szenario.

Foto: Focus Features

Fields große Kunst besteht dabei darin, mit Auslassungen zu arbeiten: Wer Lydia Tár ist und was sie tatsächlich getan hat, müssen die Zuschauer:innen für sich selbst zusammensetzen. Weder zeigt er die Sitzungen, in denen über ihr Verhalten diskutiert wird, noch die öffentlichen Diskussionen auf Social Media. Auch was zwischen ihr und der verstorbenen jungen Frau war, wird nie in Szene gesetzt, der angespannte Austausch darüber mit Assistentin Francesca ist aussagekräftig genug.

Wovon Field dagegen subtil, aber dennoch klar erzählt, sind die erotischen Strategien von Tár, die sich in der anfangs genannten Szene gegenüber dem Bipoc-Studierenden als „U-Haul lesbian“ bezeichnet. Am Anfang zum Beispiel sieht man Lydia in New York beim koketten Gespräch mit einer Bewunderin, und hört, wie sie deren Handtasche komplimentiert. Zuhause in Berlin stellt sie dieselbe Handtasche ab und behauptet, sie von einem alten Bekannten geschenkt bekommen zu haben – mehr sieht man von der Affäre nicht. Was es damit auf sich hat, spiegelt sich in der duldsam-wissenden Reaktion von Ehefrau Sharon (Nina Hoss spielt sie großartig mit faszinierenden Nuancen als Gedemütigte), die darüber klagt, Lydia in New York telefonisch nicht erreicht zu haben. Im Verhältnis zu Francesca – die alle anderen fast immer nur „das Mädchen“ nennen – lässt Lydia Tár die Spuren eines Überdruss‘ erkennen, den eine gewisse Ergebenheit provozieren kann. In der Begegnung mit der jungen russischen Cellistin dagegen scheinen ihre Lebensgeister geradezu neu zu erwachen, in einer Mischung aus intellektuellem Interesse, Jagdinstinkt und Generationenneid. Auch wenn ihr Dirigentenstern am Ende untergeht, behält diese so reich dimensionierte weibliche Heldin ihr Leben in der eigenen Hand. So schäbig es am Ende auch scheinen mag.




Tár
von Todd Field
US 2022, 158 Minuten, FSK 12,
deutsche SF & englische OF mit deutschen UT

Ab 2. März im Kino

 

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