Simon Froehling: Dürrst
Buch
Zwölf Jahre hat es gedauert, bis der Schweizer Autor und Dramaturg Simon Froehling seinem Erstling „Lange Nächte Tag“ aus dem Jahr 2010 ein zweites Buch folgen ließ. Ging es im Debüt um Sex, Drugs und die Suche nach Identität, geht es nun in „Dürrst“ um Kunst, Beziehungen und die Diagnose „bipolare Störung“ – all das erzählt mittels eines schwulen Protagonisten und mit explizit queerem Blick. Tobias Schiller findet, dass sich das Warten auf den neuen Froehling gelohnt hat.
Lebensdur(r)stig
von Tobias Schiller
Im letzten Jahr schien innovative deutschsprachige queere Literatur vor allem von Schweizer Autor:innen zu kommen. Konkret waren es Yael Inokai, Kim de l’Horizon und Simon Froehling, die Impulse setzten und damit auch die großen Buchpreisjurys erreichten. Das führte dazu, dass de l’Horizon sowohl mit dem Deutschen als auch mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet wurde, während Inokai auf der Longlist des ersten vertreten war und Froehling mit seinem Roman „Dürrst“ die Shortlist des zweiten erreichte. Letzterer wurde von der deutschen Kritik dennoch erstaunlich wenig beachtet. Zu Unrecht, denn auch dieses Buch ist formal wie inhaltlich bemerkenswert.
Wie eng der Zürcher Froehling Form und Inhalt miteinander verwebt, zeigt schon das „Dürrst“-Cover. Dort ist unter dem Titelschriftzug in petrolfarbenen Buchstaben mit eingestanzten weißen Schatten das Objektiv einer Wegwerfkamera zu sehen. Betrachter:innen werden also direkt adressiert und mit dem Blick von außen konfrontiert. Beides hat einen unmittelbaren Bezug zu Froehlings Plot, seinem Protagonisten und seiner Erzählperspektive. Denn der Erzähler von „Dürrst“ spricht in der zweiten Person, adressiert mit seinem Du aber nur scheinbar die Lesenden, sondern vor allem sich selbst.
Andreas Durrer ist ein schwuler Mann Anfang vierzig, der seinen titelgebenden Spitznamen seiner hageren Gestalt verdankt. Er stammt aus einem reichen Elternhaus und arbeitet in einem Museum. Nebenbei pendelt er zwischen Zürich und Athen, wo er sich eine kleine Wohnung gekauft hat, die er nach und nach renoviert. Während er in Athen eine geheime Affäre mit einem jüngeren, ungeouteten Mann pflegt, trifft er in Zürich unerwartet auf Paul. Für Dürrst ist die Begegnung ein Geschenk des Himmels, denn die Beziehung zu Paul gibt ihm Ruhe und motiviert ihn, lange Liegengelassenes wieder aufzunehmen – allem voran seine eigene Kunst, denn in seinem früheren Leben war Dürrst erfolgreicher Künstler.
Wir erfahren, dass er bereits als Jugendlicher aus der elterlichen Villa floh, unter anderem mit notorischen Klappenbesuchen gegen deren Enge rebellierte, um nebenbei eher durch Zufall zum gefeierten Wunderkind des Kunst- und Kulturbetriebs zu werden. Sein erstes Werk war die detailgetreue Nachbildung von „Giovanni’s Room“, wie ihn James Baldwin in seinem gleichnamigem queeren Klassiker beschrieb. Die Obsession, mit der Dürrst an seiner Kunst arbeitete, prägte auch sein restliches Leben, in dem er stets die Extreme suchte. Bis bei ihm eine bipolare Affektstörung diagnostiziert wurde, was ihm die künstlerische Arbeit zunehmend erschwerte und sie schließlich zum Erliegen zu brachte.
„Stille schätzt du am meisten, denn solange du nicht zu arbeiten beginnst, steht dem Gelingen noch nichts im Weg, stehst du dir selbst noch nicht im Weg.“
Simon Froehling ist sich sehr bewusst, dass Vergangenheit und Gegenwart untrennbar verbunden sind, weil sie fortwährend ineinander hineinwirken. Demzufolge erteilt er klassischen Chronologien und linearen Zeitverläufen in seinem Roman eine klare Absage. „Dürrst“ verwischt die Grenzen zwischen dem Damals und dem Heute, zwischen Kindheit, Jugend und Erwachsenenleben, und amalgamiert sämtliche Zeitebenen zu einer Einheit.
Dieses Spiel mit der Temporalität ist meisterhaft umgesetzt und legt Gedanken an queertheoretische Diskussionen hinsichtlich einer queeren Zeitlichkeit nahe, die losgelöst von Reproduktion und Vererbung die Linearität als Norm infrage stellt. Gleichzeitig spiegelt es konsequent die mentalen Zustände des Protagonisten wider, ist die Psyche doch nicht chronologisch organisiert. Umso folgerichtiger also, dass sich die Frage nach der Zeitlichkeit auch in einem neuen Werk spiegelt, das Dürrst plant, und in dem das Motiv der Wegwerfkamera eine zentrale Rolle spielt.
„Die einzelnen Fotos, immer das Abbild der Gegenwart, nämlich jener, in der du auf den Auslöser drückst, zeigten in der Summe einer jeweiligen Kategorie, also durch ihren seriellen Charakter, gleichzeitig eine Vergangenheit auf, obwohl eine erkennbare Chronologie fehle und würden, da es sich um eine Arbeit handle, die sich endlos entfalten könnte, zusätzlich in die Zukunft verweisen, wodurch die Frage nach dem ‚Wie weiter?‘ beschworen werde.“
Die fehlende erkennbare Chronologie ist es auch, die Dürrsts unzuverlässige Erinnerungen kennzeichnet. Worin sich wiederum ein Trauma offenbart, das – so scheint es im Roman – unter schwulen Männern oft schwer benennbar ist, weil die Grenzen von Einverständnis und Begehren unter ihnen zu selten thematisiert werden. Hier zeigt sich unter anderem eine Parallele zu Édouard Louis „Im Herzen der Gewalt“, aber auch Reminiszenzen an Fritz Zorns Klassiker „Mars“ klingen an, dessen Hauptfigur wie Andreas Durrer an der Zürcher Goldküste aufwächst und mit psychischen Problemen zu kämpfen hat. Bei alledem scheint der Protagonist seinem Erfinder Simon Froehling, der auch als Lyriker, Dramaturg und Übersetzer tätig ist, sehr nah zu sein. Diesen Eindruck bestätigt nicht zuletzt der Blick auf dessen biografische Stationen.
Dennoch unterläuft „Dürrst“ jedweden Versuch, den Roman als Autofiktion zu kategorisieren. Vielmehr entwindet sich Froehlings Prosa gängigen Genre-Zuschreibungen, ist sowohl Coming-of-Age- als auch Künstlerroman, Collage und literarische Performance. Da stehen schonungslose Erinnerungsfragmente neben einer zärtlichen Liebesgeschichte, exzessive Momentaufnahmen treffen auf satirische Verdichtungen. Widersprüche werden selten aufgeklärt. Vielmehr ist es gerade die Spannung, die zwischen ihnen entsteht, die „Dürrst“ seinen unverwechselbaren Rhythmus gibt.
Bei alledem erweist sich Froehling wie sein Protagonist als Meister der Raumkonstruktion. Ob ein Spitalzimmer, die elterliche Villa, Dürrsts Atelier oder die Hausbesetzer-WG, stets erschafft der Autor dichte, greifbare Räume – allesamt mit viel Platz fürs Ungesagte, das mal erdrückend wirkt, dann wieder unverhoffte Freiheit spendet. So ist „Dürrst“ ein gleichermaßen dunkel funkelnder wie gleißend heller Trip, der Leser:innen erst die Orientierung nimmt, um sie anschließend gemeinsam mit ihnen wiederzufinden. Ein inhaltlich wie formal rundum queerer Roman also, der uns mit einem umwerfenden Protagonisten beschenkt, von dem man sich nach der letzten Seite nur ungern verabschiedet.
Dürrst
von Simon Froehling
Hardcover, 266 Seiten, € 24
Bilgerverlag