Dominik Barta: Tür an Tür

Buch

Eigentlich will Thirtysomething Kurt nur seine Ruhe haben, doch nach und nach werden die Nachbar:innen des Wiener Mietshauses, in das er einzieht, zu seiner Wahlfamilie – und dadurch wird auch ein befreiterer Umgang mit seiner Homosexualität möglich. Dominik Barta schildert in seinem neuen Roman „Tür an Tür“ einen Mikrokosmos zwischenmenschlicher Begegnungen, der von den Verwerfungen der Weltpolitik eingeholt wird. Aus queerer Sicht schwankt Barta wie schon in seinem Debüt „Vom Land“ zwischen angezogener Handbremse und erzählerischem Übereifer – für Axel Schock eine vielfältige, aber eher ambivalente Leseerfahrung.

Verständnisvoller Masturbator

von Axel Schock

Da hat man endlich Elternhaus und WG hinter sich gelassen und den Schritt zur ersten eigenen Wohnung geschafft, ist erstmals allein, unbeobachtet, frei, und dann das: Die kleine Wohnung nahe des Naschmarktes, bestens gelegen im 6. Wiener Gemeindebezirk, die Kurt dem Wohlwollen seiner Tante verdankt, entpuppt sich als äußerst hellhörig. Nicht genug, dass der Fahrstuhl quietscht, Kurt wird auch zwangsläufig zum Ohrenzeugen selbst intimster Verrichtungen seines Nachbarn. „Die Vorstellung, selbst gehört zu werden, schlug sich fast noch stärker auf mein Gemüt“. Noch weiß er nicht, wer da in der Wohnung neben seiner so vernehmlich pinkelt, hustet und mit dem Geschirr klappert, doch Kurt, und mit ihm die Leserschaft, wird diesen Herrn Drechsler bald ebenso intensiv kennenlernen wie einige andere Mieter:innen des Genossenschaftshauses – ihre Eigenheiten, ihre Verbindungen untereinander, ihre Lebensgeschichten.

Zunächst aber liefert Dominik Barta noch den Lebenslauf seines Ich-Erzählers nach – den kompletten schulischen und professionellen Werdegang bis hin zur Anstellung als Lehrer an einer Abendschule („neusprachlicher Zweig des Gymnasiums in der Boerhaarvegasse“) und den Berufsbiografien der Eltern („Mein Vater hatte Tischer gelernt und arbeitete ab den neunziger Jahren beim Aufbautrupp der Repräsentationsräume eines schwedischen Möbelhauses im Süden von Wien“). Diese Detailbeflissenheit – nennen wir sie protokollarischen Realismus – ist nur eine der gewöhnungsbedürftigen Besonderheiten von Bartas Erzählstil. Eine andere sind die langen monologischen Passagen, die er seinen Protagonist:innen zugesteht. Kaum eine Figur, die nicht über lange Absätze hinweg sich selbst, ihre Beweggründe oder biografischen Entwicklungen rapportiert. Die resolute Wissenschaftlerin Regina etwa, die zu Sexualität und dem Phänomen Liebe forscht und dazu auch gerne privat Feldversuche durchführt. Oder Frau Kordt, die betagte Seele des Mehrfamilienhauses. Auch Bartas Ich-Erzähler Kurt gibt detailreich Auskunft über sich und sein Innenleben, berichtet von seinem ersten sexuellen Erlebnis als Jugendlicher mit einer Mitschülerin, von seinem Coming-out gegenüber den Eltern, von der unverbrüchlich innigen Bindung zu Frederik, seinem besten Freund seit Kindheitstagen, der wohl auch seine erste heimliche Liebe war.

Dominik Barta – Foto: Leonhard Hilzensauer

Doch so offen schwul sich Kurt als Erzähler gibt, so verklemmt wirkt er dennoch. Während wir beispielsweise über die Wohnung selbst die Größe (34 Quadratmeter) und die Miethöhe (400 Euro, teilmöbliert) erfahren, scheint Kurt Liebesdinge stets mit angezogener Handbremse zu thematisieren. Hier und da habe es Gelegenheiten zu „Schmusereien“ gegeben, und in „Gebüschen, Garderoben, Hinterzimmern“ sei es auch zu „mehr oder weniger sexuellen Vereinigungen“ gekommen. Es bleibt zunächst unklar, ob solche Halbheiten der Diskretion des Autors oder der Figur geschuldet sind, und man ist fast erleichtert, als Barta die Diskrepanz zwischen scheinbarem Selbstbewusstsein und offenkundiger Ladehemmung irgendwann von Frederik ansprechen lässt, sodass Kurt sich schließlich selbst eingesteht: „Ich bin ein Häufchen Freundlichkeit, ein verständnisvoller Masturbator, ein verklemmtes Helferlein.“

Ein solcher Charakter, das muss man Dominik Barta lassen, dürfte in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur Seltenheitswert haben – ein schwuler Mann, den die Identitätsdebatten in queeren Uni-Zirkeln ratlos zurücklassen, der sich selbst als „Gutmensch“ diffamiert und der über den Begriff „Coming-out“ sagt: „Was verlangte dieser seltsame Anglizismus von einem normalen, dezenten Menschen?“ In seinen einsamsten, verzweifeltesten Momenten denkt Kurt sogar über Selbstkastration oder „Heilung“ seiner Homosexualität nach. Erst als ihm der türkische Krankenpfleger Mehmet deutliche Avancen macht und er sich zudem in einen seiner Schüler, den kurdischen Geflüchteten Ferhat, verguckt, kommt Leben in Kurts Hormonhaushalt.

Fast schon fürchtet man, dass – nach einigen überraschenden Wendungen – die passenden Herzen zueinanderfinden und sich „Tür an Tür“ als seichte Gay-Romance-Novel entpuppen könnte. Doch mit dem Fortschreiten der amourösen Verbindungen und Verwicklungen, die sich zwischen Freundschaft, Nachbarschaft, erfüllter oder lediglich ersehnter Liebschaft bewegen, ändert sich dieser Eindruck. Die Folgen politischer Krisen halten Einzug am Küchentisch von Kurts Mansardenwohnung und versetzen den Mikrokosmos des multikulturellen und multisexuellen Figurenarsenals in Unruhe.

Barta hat seine Geschichte zeitlich exakt verortet. Es ist Sommer 2014. Der türkische Staatschef Erdogan reist für einen Wahlkampfauftritt nach Wien. Bei Kurts neugewonnen Freund:innen führt dies zu kontroversen Diskussionen bis hin zu folgenreichen Aktionen. Sie müssen sich dabei nicht nur mit der Verfolgung der kurdischen Bevölkerung in der Türkei auseinandersetzen, sondern auch mit den Auswirkungen des erkalteten Arabischen Frühlings und dem Krieg im Libanon. Dominik Barta hat sich offenbar sehr intensiv mit den politischen Verwerfungen in der arabischen Welt bzw. der Türkei beschäftigt und lässt seine Figuren ausgiebig darüber referieren. Das Private ist nunmehr im besten Sinne politisch geworden. Dass zum dramatischen Finale zusätzlich schmutzige Waffengeschäfte und ein Attentat zu Buche schlagen, erscheint dann aber doch etwas gewagt, wenn nicht reißerisch.

Bereits in seinem Erstlingsroman „Vom Land“ (2020), in dem der 1982 in Oberösterreich geborene Dominik Barta die gesellschaftlichen Veränderungen in einem Dorf sezierte, trafen Detailbewusstsein und Recherchelust auf einen überdramatischen Schluss. Dort ging es um Geflüchtete, die im örtlichen Kloster Aufnahme fanden und deren Anwesenheit letztlich zu einer Kette von Gewalt führte, die das dumpfe Denken einiger Dorfbewohner:innen offenlegte. Die Handlung von „Tür an Tür“ spielt nur wenige Monate vorher, und nimmt am Ende Bezug auf das Debüt. Kurt erlebt noch einen „heißen August“, in dem er endlich zu sich selbst findet, während die Schwulenbar in seinem Grätzel zum Treffpunkt für nach Europa geflohene Menschen wird. Auf dieses multikulturelle queere Miteinander werden eigenwillige Formulierungen geprägt wie „Abend für Abend steigerte sich die Übergeschnapptheit der Individualitäten“, und die bunte, morgenländische Gästeschar erinnert den Erzähler an ein „Sodom in der Levante“.

Doch die Euphorie werde bald enden, lässt Barta seinen Ich-Erzähler einen Blick in die Zukunft werfen. „Bald trieben Medien und Politiker die geflüchteten Menschen wie Säue durchs Dorf. Flucht wurde zur Frechheit erklärt.“ Damit schlägt Dominik Barta einen direkten Bogen zur Atmosphäre und zentralen Thematik aus „Vom Land“. Dass sich der Autor so nachhaltig mit der literarischen Aufarbeitung dieser gesellschaftlichen Umbruchssituation beschäftigt, ist anerkennenswert, nur hätte man sich an mancher Stelle eine bessere handwerkliche Umsetzung oder Unterstützung durch ein Lektorat gewünscht.




Tür an Tür
von Dominik Barta
Hardcover, 208 Seiten, € 23
Zsolnay Verlag

↑ nach oben