Petite Maman – Als wir Kinder waren

TrailerDVD/BluRay

Die 8-jährige Nelly fährt mit ihren Eltern in das Haus der gerade verstorbenen Großmutter, um es auszuräumen. Sie stöbert in den alten Spielsachen und Büchern ihrer Mutter Marion, neugierig auf deren Kindheit. Doch Marion will sich der Vergangenheit nicht stellen, sie reist ab und lässt Mann und Tochter allein zurück. Während ihr Vater am Haus arbeitet, streift Nelly durch die Wälder. Dort trifft sie auf ein Mädchen, das ihr zum Verwechseln ähnlich sieht – und auch Marion heißt! Pünktlich zum DVD-Start von Céline Sciammas jüngstem Film „Petite Maman – Als wir Kinder waren“ hat der Verleih Alamode außerdem eine BluRay-Box mit Sciammas bisherigen Langfilmen herausgebracht. Cosima Lutz entdeckt in „Petite Maman“ auch Themen und Motive aus diesen früheren Arbeiten – und eine fantastische Zeitreise im Gewand eines Trauerbewältigungsdramas, in der die weiblichen Generationen nicht bloß aufeinander folgen, sondern meisterhaft miteinander verflochten sind.

Foto: Alamode

Ein Zopf, geflochten aus Nähe und Ferne

von Cosima Lutz

Eine Achtjährige vertreibt sich die Zeit im Wald und trifft dort auf ein anderes Mädchen. Aus der Ferne winkt die Fremde ihr zu, sie schleppt einen meterlangen, schweren Ast durchs Dickicht. „Hilfst du mir?“ fragt sie. Wortlos lassen sich beide aufeinander ein, packen wie verabredet an, verbunden nur durch ein Stück Totholz, das sie zugleich auf Abstand hält. Von der Unbekannten zu sehen ist jetzt nur der Hinterkopf mit dem energisch wippenden, aschblonden Haar.

Diese Einstellung aus Céline Sciammas „Petite Maman – Als wir Kinder waren“, in der sich die beiden Hauptfiguren erstmals begegnen, hat einen Zwilling. Auch in Sciammas Vorgängerfilm „Porträt einer jungen Frau in Flammen“ über die Liebe zwischen einer Adelstochter und einer Malerin im Jahr 1770 stapft bei der ersten Begegnung die eine voran und die andere folgt. Auch hier unterstreicht die Nähe eine Distanz: Von der Adeligen sieht die Porträtistin nur den Hinterkopf, die herabrutschende Kapuze legt das blonde Haar frei.

Zwei weibliche Menschenkinder, eine Zeit, die beide auf Abstand voneinander hält und sie doch erst zusammenführt, wie die Ständegesellschaft des vorrevolutionären Frankreichs oder wie die Zeit einer Hausrat-Entsorgung nach einem Todesfall, irgendwo am Waldrand im Frankreich der Gegenwart: Dass die visuelle Eleganz und erzählerische Schärfe, wie sie Sciamma in „Porträt einer jungen Frau in Flammen“ gelungen waren, zu übertreffen wären, schien schwer vorstellbar. Das versucht die sie auch gar nicht; Sciamma verdichtet.

Statt ins Pompöse begibt sie sich in „Petite Maman – Als wir Kinder waren“ ins scheinbar Einfache, statt in die temporäre Breite in kurze 70 Minuten, statt ins Sozialgeschichtliche ins Fantastische. Wieder trägt die eine Blau, die andere Rot, und wieder geht es um die Liebe. Sciamma verlegt ihre Geschichte diesmal jedoch auf die uralte Mutter-Tochter-Achse und verwandelt sie damit in etwas Überzeitliches. Das Ergebnis ist eine Kernschmelze, die hypnotisiert und die wehtut, genau dort, wo die Liebe beginnt.

Nellys geliebte Großmutter ist gerade gestorben, mit Vater und Mutter räumt sie deren Haus aus und vertreibt sich zwischendurch die Zeit im angrenzenden Wald. Dass etwas nicht stimmt, ist schon an der sanften Verwirrung der Jahreszeiten zu spüren: Es scheint Herbst zu sein, goldenes Laub bedeckt den Waldboden, doch es singen die Vögel wie im Frühling. Geht etwas zu Ende oder beginnt etwas von Neuem? Findet beides synchron statt? Sätze fallen in ruhiger Selbstverständlichkeit wie die Blätter, der Umgang miteinander ist von Zärtlichkeit und Fürsorge geprägt, etwa wenn Nelly und ihre Mutter Marion abends in Marions alten Schulheften blättern. Wohin mit den gelebten Leben? Marion ist morgens plötzlich abgereist, Nelly und ihr Vater bleiben allein zurück im Haus der toten Großmutter.

Foto: Alamode

Die Möglichkeit eines Horrorfilms sickert durch die stillen, milchig grünlichen Interieurs mit ihren flackernden nächtlichen Schatten. Nelly trifft das unbekannte Mädchen wieder, es heißt Marion, wie ihre Mutter, und wird gespielt von Joséphine Sanz’ eineiiger Zwillingsschwester Gabrielle. Die ruhige Neugierde und das augenblickliche Vertrauen der beiden ineinander prägt auch Claire Mathons Kameraarbeit. Der Raum, den Sciamma dem kindlichen Ernst der gemeinsamen Spielvereinbarungen lässt, erinnert an „Tomboy“ (2011), wo es um Geschlecht als Rollenspiel ging. Wie Sciamma es hier erneut gelingt, junge Menschen einander erkennen zu lassen, als würden sie sich schon immer kennen (ein Als-ob, das Wahrheit ist und Spiel), und wie sie diesen Verstehensprozess diesmal auf das Begehren ummünzt, der eigenen Mutter als Gleichaltriger zu begegnen, um deren (und die eigene) Traurigkeit besser zu verstehen – das hätte bei anderen Regisseur:innen auch ganz schön ins Dramoletthafte abgleiten können. In „Petite Maman“ wird die völlige Unwahrscheinlichkeit der Story von einer Selbstverständlichkeit getragen, die sich das kindliche Talent zu eigen gemacht hat, Ernst und Unernst zugleich feiern zu können.

So ganz ohne Befremden läuft die wundersame Begegnung allerdings nicht ab. Als die beiden sich auf der Flucht vor einem Regenguss in Marions Haus flüchten, erkennt Nelly: Es ist dasselbe Haus wie das ihrer Großmutter, nur zweieinhalb Jahrzehnte früher. Sie befindet sich offenkundig in einer Zeitschleife, und Marion ist Nellys eigene Mutter, als Achtjährige. Nach der ersten schockartigen Flucht in die Gegenwart kehrt sie voller Vertrauen wieder zurück zu ihrer neuen Freundin, die sie alles fragen kann, was sie von ihrer Mutter noch nicht weiß. Denn die Eltern, beschwert sich Nelly einmal bei ihrem Vater, hätten ihr bisher nur „Unwichtiges“ aus der eigenen Kindheit erzählt. Wovor hatten sie als Kinder Angst? Was wollten sie einmal werden?

Foto: Alamode

Das Spiel mit der Zeit poetisiert die schon von Kindern verstehbare Gewissheit, dass die gemeinsame Zeit begrenzt ist. Das ist auch ein Grund für Marions Melancholie: Die ständige Ankündigung ihrer gehbehinderten Mutter – Nellys Großmutter –, schon bald zu sterben, hat ihr die Last einer vorweggenommenen Trauer aufgebürdet. Nelly kann Marion beruhigen, denn deren Mutter sterbe erst, wenn sie 31 sei. Umgekehrt kann Marion Nelly entlasten, die fürchtet, an der Schwermut ihrer Mutter Schuld zu sein: „Du hast meine Traurigkeit nicht erfunden.“

Doch anders als in anderen Zeitreise-Filmen wird diese nicht zum Werkzeug degradiert, um auf dem linearen Zeitstrahl eine Korrektur vorzunehmen, mit allen paradoxen Implikationen, die dies für die Gegenwart mit sich bringt. Vielmehr lässt Sciamma das Kino selbst zur Zeitmaschine werden. Da erlaubt sie der kleinen Nelly einmal eine „Teleportation“ in den ersehnten nächsten Tag einfach mittels Schnitt; ein anderes Mal lässt sie sie noch einen Moment länger im Haus der Vergangenheit verharren, wo die (jüngere) Großmutter ihr gerade einen Teller mit Essen hinstellt. Omas Hand weicht zurück, und es ist plötzlich die Hand des Vaters in der Gegenwart, der ihr sagt: „Was ist los, du bist ja ganz woanders?“, womit er, wie das Filmbild beweist, Recht hat.

Foto: Alamode

Statt die Analogie von Rollenspiel und Zeitschleife dazu zu nutzen, um die Reise in Vergangenheit (Nelly) und Zukunft (Marion) psychologisierend auf eine Wunscherfüllungsmaschine zu reduzieren, lässt Sciamma das Filmische selbst machtvoll zaubern: Der Vater sieht ja die kleine Marion, seine künftige Frau, ebenso. „Petite Maman“ vollführt im Gewand eines Trauerbewältigungsdramas eine fantastische Zeitreise, in der die weiblichen Generationen nicht bloß aufeinander folgen, sondern wie in einem Zopf miteinander verflochten sind. Jede Strähne ist von Zeit zu Zeit die Mitte, in einem potenziell unendlichen Spiel von Nähe und Ferne zu den anderen.

So erhebt „Petite Maman“ Einspruch gegen eine Vereinzelung, an die sich auch das Kino gewöhnt hat, an die fest umrissene Identität von Protagonist:innen. Das passiert schon in der ersten, scheinbar unspektakulären Sequenz: Eine Uhr tickt, eine alte Dame denkt nach. So viel Zeit muss sein, so viel Zeit ist da, wenn nicht mehr viel kommt, und man vertreibt sie sich. Die Frau balanciert einen Bleistift in den Händen, schaut mit hochgezogenen Augenbrauen auf etwas, das vor ihr liegt und sagt: „Alexandria“. Das ist offenbar eine Antwort, nur auf welche Frage? Auf die nach dem Ort, an dem das Wissen der Welt gespeichert war, vor langer Zeit? Claire Mathons Kamera folgt dem sich senkenden Arm der alten Dame, doch die Hand mit dem Bleistift ist plötzlich eine Kinderhand, und die schreibt das fehlende Wort ins Kreuzworträtsel. Es ist Nelly, die offenbar ihrer Großmutter beim Rätseln hilft. Die aber gar nicht ihre Großmutter ist, wie sich herausstellt, sondern eine Stellvertreterin, an der Nelly einen Abschied nachholen kann, der ihr nicht gelang, und einen anderen übt, der ihr bevorsteht.




Petite Maman – Als wir Kinder waren
von Céline Sciamma
FR 2021, 70 Minuten, FSK 0,
deutsche SF, französische OF mit deutschen UT,
Alamode

Jetzt auf DVD

 


Céline Sciamma Boxset
enthält: „Water Lilies“, „Tomboy“,
„Bande de filles – Mädchenbande“,
„Porträt einer jungen Frau in Flammen“,
„Petite Maman – Als wir Kinder waren“
von Céline Sciamma
FR 2007-21, 475 Minuten, FSK 12,
teilw. deutsche SF, französische OF mit deutschen UT,
Alamode

Jetzt auf BluRay

 

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