Porträt einer jungen Frau in Flammen

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Eine einsame Insel vor der Küste der Bretagne im Jahr 1770. Die Pariser Malerin Marianne soll ein Porträt der jungen Adelstochter Héloïse anfertigen, um einen Edelmann im fernen Mailand von seiner zukünftigen Frau zu überzeugen. Weil sich Héloïse weigert, Modell zu sitzen, arbeitet Marianne inkognito: Sie beobachtet Héloïse während ihrer gemeinsamen Spaziergänge an der Küste und malt abends aus dem Gedächtnis heraus das Bild. Doch je mehr Zeit die beiden miteinander verbringen, desto stärker bricht sich ein tiefes Begehren Bahn. Céline Sciammas atemberaubendes Liebesdrama macht aus Noémie Merlant und Adèle Haenel ein neues ikonisches Filmpaar, wurde im Mai in Cannes von der Kritik gefeiert und mit der Queer Palm sowie dem Preis für das Beste Drehbuch ausgezeichnet. Christian Weber über ein feministisches Meisterwerk, das mit konventionellen Blickhierarchien bricht und ein nicht zu bändigendes Feuer legt.

Foto: Alamode

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von Christian Weber

Héloïse steht vor dem Bild, das sie zeigen soll, und schaut es verblüfft an. „Das bin ich?“, fragt sie Marianne. „So sehen Sie mich?“

Marianne hat das Bild im Geheimen gemalt, denn Héloïse will sich nicht porträtieren lassen. Sie weiß, dass ihre Mutter sie mit einem wildfremden Mann aus Mailand verheiraten möchte, um den Wohlstand und sozialen Status der Familie zu sichern. Und dass der nun ein Bild verlangt von seiner potentiell zukünftigen Frau. Aus Protest gegen dieses Arrangement weigert sich Héloïse, Modell zu sitzen, und hat so schon einen anderen Maler vergrault. Marianne, die neue Malerin, hat sich deswegen als Gefährtin vorgestellt, die Héloïse auf Spaziergängen Gesellschaft leistet. Tatsächlich hat sie die junge Frau dabei intensiv beobachtet und ihre Erinnerungen abends auf Studienblätter und auf die Leinwand gebracht. Doch in den vergangenen Tagen ist zwischen den beiden nicht nur das Porträt entstanden, sondern auch eine Leidenschaft entflammt. Jetzt möchte Marianne, dass Héloïse die Erste ist, die das fertige Bild sieht. Und dass sie endlich die Wahrheit erfährt.

Die Porträtierte ist tief verletzt. Nicht wegen des Vertrauensbruchs, sondern weil in dem Bild, so technisch einwandfrei es sein mag, die bisher unausgesprochenen Gefühle der beiden Frauen füreinander nicht auftauchen. „Es gibt Regeln, Konventionen, Vorstellungen“, verteidigt Marianne ihr Bild. „Wollen Sie sagen, dass es kein Leben gibt?“ erwidert Héloïse, und: „Manche Gefühle sind tief.“ Marianne, berührt von diesen Worten, zerstört das Bild und darf für einen zweiten Versuch bleiben. Diesmal, so verspricht Héloïse, würde sie auch Modell sitzen. Das neue Bild muss fertig sein, ehe die Mutter von einer fünftägigen Reise zurückgekehrt ist.

Mit Héloïses distanziert klingender Liebeserklärung und Mariannes entschlossener Reaktion entzündet Céline Sciamma ihren Film „Porträt einer jungen Frau in Flammen“ nach etwa der Hälfte seiner Spieldauer endgültig. Héloïse spricht aus, was sich in der ersten Stunde des Liebesdramas bereits mit jedem Blick und jeder Geste der beiden Hauptdarstellerinnen Noémie Merlant und Adèle Haenel angedeutet hat: die Sehnsucht nach einem anderen Leben als jenes, das für eine Frau in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in der der Film spielt, vorbestimmt war. Die Sehnsucht nach Freiheit, nach echtem Begehren und Begehrtwerden.

Seit zehn Jahren gilt die französische Regisseurin Céline Sciamma als eine der aufregendsten queeren Auteurs des europäischen Kinos. Bisher erzählten ihre Filme vor allem von widerständigen kindlichen und jugendlichen Figuren: Ihr Langfilmdebüt „Water Lilies“ (2009) handelt vom sexuellen Erwachen dreier Mädchen in einem Vorort von Paris, „Tomboy“ (2011) von einem 10-jährigen Kind, das sich dem ihm zugewiesenen Gender widersetzt, „Mädchenbande“ (2014) von einer Clique Teenager aus der Pariser Banlieue. In „Porträt einer jungen Frau in Flammen“ erzählt Sciamma nun erstmals von zwei erwachsenen Hauptfiguren. Es ist eine Liebesgeschichte aus konsequent weiblicher Perspektive. Das klingt profan, ist aber auch im heutigen Kino noch immer ein höchst ungewöhnlicher Blick auf die Welt.

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Sciamma geht dabei von einer historischen Entwicklung aus: Ab Mitte des 18. Jahrhunderts entstanden in Europa tatsächlich vermehrt Bilder von Künstlerinnen. Viele von ihnen lassen sich heute in den Sammlungen großer Museen finden, doch in den zeitgenössischen Berichten spielten die Frauen keine Rolle, sie waren zur Anonymität verdammt. „Wenn ich mir diese Bilder ansehe, verstören sie mich und bewegen sie mich, weil ich sie mein ganzes Leben lang vermisst habe“, erzählt die Regisseurin in einem Interview. Gegen dieses Defizit hat Sciamma nun einen geradezu revisionistischen Film gedreht, der einem feministischen und queeren Programm zugleich folgt. „Porträt einer jungen Frau in Flammen“ gibt seinen weiblichen Figuren all das zurück, was die Konventionen der Zeit und auch die späteren Überlieferungen den Frauen absprechen wollten: Intelligenz, Humor, Sinnlichkeit, Sexualität, eine eigene Haltung.

Das historische Setting, in dem Sciamma ihr Liebesdrama verortet, zeichnet sie mit konzentrierter, melodramatischer Formsprache als einen Lebensraum, der mit emotionaler und sozialer Isolation verknüpft ist: Eine einsame Insel vor der französischen Küste der Bretagne. Steile Klippen, gegen die rauer Wind und hohe Wellen schlagen. Ein herrschaftliches, aber kühl eingerichtetes Anwesen, in dem holzvertäfelte Wände wie Sargdeckel die Zimmer abstecken und gewichtige Kleider mit starren Formen die Bewegungsfreiheit der Frauen einschränken, die darin leben. Während Marianne als Kunsthandwerkerin ihrem Vater nachfolgen, sein Geschäft übernehmen und damit ein verhältnismäßig eigenständiges Leben führen kann – was vor allem bedeutet, keine Ehe führen zu müssen –, ist das Schicksal von Adelstochter Héloïse vorgezeichnet: Nach dem Freitod ihrer älteren Schwester, die sich in ihrer Verzweiflung von einer Klippe gestürzt hat, muss sie standesgemäß heiraten. Dafür hat sie ihre Mutter aus der Klosterschule zurückgeholt, die ihr bis dahin Zuflucht vor der gefürchteten Ehe bot. Héloïse kommt das einer Vertreibung aus dem Paradies gleich: Im Kloster habe es eine Bibliothek gegeben, man konnte mit den anderen Frauen singen und Musik machen, schwärmt sie Marianne vor. Das Schönste am Klosterleben sei für sie aber das Gefühl gewesen, „allen gleich zu sein“ – ein Gefühl, das im 18. Jahrhundert nur innerhalb von Geschlechtsgrenzen möglich war.

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Mit der Ankunft der weitgereisten Marianne öffnet sich für Héloïse das Fenster zu einer anderen Welt. Marianne erzählt ihr von dem Leben jenseits der abgelegenen Insel. Sie gibt ihr Bücher, spielt für sie auf dem Cembalo, beschreibt ihr, wie ein Orchester klingt und worauf man beim Schwimmen achten muss. Die sich entwickelnde Nähe fängt Sciamma mit Dialogen von zurückhaltender Schönheit ein: „Bedeutet frei sein, allein sein?“, fragt Héloïse Marianne irgendwann – und meint mit Alleinsein vor allem, ein eigenständiges Individuum zu werden. Doch diese Empfindung ist nur ein Zwischenschritt. Als sie auf Mariannes Vermittlung endlich ohne Begleitung nach draußen darf, kehrt Héloïse mit einem Bekenntnis vom Ausflug zurück: „Ich hab in der Einsamkeit die Freiheit gespürt, von der Sie sprachen. Ich habe aber auch gespürt, dass Sie mir fehlen.“

Erst nach und nach finden Marianne und Héloïse zu einer Sprache für ihre Gefühle. Das offene Wort ist lange undenkbar, stattdessen verständigen sich die beiden über Blicke und Gesten, irgendwann über Berührungen und schließlich einen ersten Kuss im Schutz der Felswände. Kamerafrau Claire Mathon fängt die Annäherung in Landschaftsaufnahmen von niederschmetternder Schönheit ein und mit Doppelporträtbildern, die die beiden Frauen schrittweise zu einem Paar verschmelzen.

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Voraussetzung für diese Entwicklung ist der Bruch des männlich geprägten Blickregimes, das beide – das Modell und die Malerin, die paradoxerweise an einem Bild arbeiten muss, dass die Geliebte einem anderen überlassen soll – erst zusammengebracht hat. In der ersten Sitzung, in der sich Héloïse von Marianne porträtieren lässt, stehen sich die beiden Frauen gegenüber, zwischen ihnen ist nur die Leinwand, auf der das Bild Gestalt annehmen soll. Marianne erklärt Héloïse, dass sie, ihre Betrachterin, bereits all ihre Gesten gedeutet habe. Sie wisse, wie sich Wut, Ärger oder Verlegenheit bei ihr ausdrückten. Héloïse wirkt irritiert und holt die Malerin kurzerhand auf ihre Seite. Gemeinsam blicken sie hinüber zur Staffelei, hinter der bis eben noch Marianne stand. „Wenn Sie mich ansehen, wen sehe ich dann?“, fragt sie. Blicksubjekt und –objekt identifizieren sich miteinander, sie erkennen sich, ihre Hierachie löst sich auf.

Die Gleichheit der lesbischen Liebenden, das Auf-einer-Seite-Stehen, steht im krassen Gegensatz zu der restriktiven heterosexuellen Paaranordnung der damaligen Zeit, in der sich die Frau dem Willen des Mannes widerspruchslos unterordnen musste. Sciamma, die ihren Film fast ausschließlich mit weiblicher Besetzung und Crew gedreht hat, geht noch einen Schritt weiter und hält der Geschlechterhierarchie des 18. Jahrhunderts die Gleichheit all ihrer weiblichen Figuren gegenüber.

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Dabei macht sie auch vor Standesgrenzen nicht Halt. Als die Zofe Sophie von ihrer ungewollten Schwangerschaft erfährt, reagieren Marianne und Héloïse voller Empathie und Pragmatismus. Die Kraft weiblicher Solidarität, die diese Haltung fundiert, fasst Sciamma in einer beeindruckenden Szene zusammen, die aus der Gestaltung des übrigen Films herausfällt. Um sich Rat zu holen, gehen Marianne, Héloïse und Sophie zu einer nächtlichen Versammlung der anderen Inselfrauen. Alle stehen um ein Lagerfeuer herum, reden, trinken miteinander. Plötzlich stimmen einige Frauen einen gemeinsamen Ton an, der zunächst wie ein Raunen klingt und sich zu einem alles überstrahlenden Chorgesang steigert. Die Frauen bilden einen Kreis, klatschen, schauen sich in freudiger Erregung an. Auch Marianne und Héloïse erblicken sich über das Lagerfeuer hinweg  und lächeln sich zu. Als der Gesang abrupt endet, hat Héloïses Kleid Feuer gefangen – so als hätte sie nicht nur der Blick von Marianne, sondern auch der aktivistische Moment weiblichen Zusammenhalts, ja kollektiven Exzesses entzündet. Es ist genau jenes Bild ihrer Geliebten, das Marianne später zu ihrem ganz persönlichem Porträt von Héloïse inspirieren wird: das Bild einer jungen Frau in Flammen. Sophies Schwangerschaftsabbruch kurz darauf fasst Sciamma in eine ähnlich atemberaubende, höchst ambivalente Einstellung. Marianne und  Héloïse beobachten die Szene und halten sie am Abend zusammen mit Sophie in einer Zeichnung fest. Sciammas Film macht so nicht nur immer wieder (historische) weibliche Lebenserfahrung sichtbar, sondern schafft auch Strategien des Andenkens.

Bei aller Schwesterlichkeit und allen Feuern, die Sciamma legt, bleibt ihr Film in der Forterzählung der Liebesgeschichte historisch authentisch. Héloïse und Marianne gehen den wohl einzigen Weg, der lesbischen Frauen damals blieb. „Porträt einer jungen Frau in Flammen“ ist nicht nur ein großer Film über die Liebe, sondern auch über die Erinnerung daran, über das Echo der Liebe, das ein Leben lang nicht verklingt. Auch wenn Marianne für immer von ihrer geliebten Héloïse getrennt werden sollte wie Orpheus von Eurydike, so wird sie sie doch niemals vergessen, weil sie ihn riskiert hat: den echten Blick auf sie.




Porträt einer jungen Frau in Flammen
von Céline Sciamma
FR 2019, 120 Minuten, FSK 12,
deutsche SF & französisch OF mit deutschen UT,

Alamode

Ab 31. Oktober hier im Kino.

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