Mein heimliches Auge: Interview mit Claudia Gehrke

Buch

Claudia Gehrke ist eine der letzten legendären Gestalten der deutschen Verlagslandschaft. In den 70er-Jahren war die intellektuelle und politische Diskussion in Deutschland von einer Handvoll Zeitschriften geprägt, von denen ihr „Konkursbuch“ beinahe als einzige bis heute überlebte. Bald entstand um die Zeitschrift herum ein Verlag, in dem ungewöhnliche sexuelle Perspektiven stets eine große Rolle spielten. Das berühmteste Produkt des Konkursbuch-Verlags in Tübingen ist jedoch das 1982 gegründete Jahrbuch „Mein heimliches Auge“. Über diese Geschichte dieses Jahrbuchs sprachen wir mit Verlegerin Claudia Gehrke.

Zwischen den Schubladen

Interview: Joachim Bartholomae

Liebe Claudia, seit 1982, als die feministische PorNo-Kampagne von Andrea Dworkin und anderen auf vollen Touren lief, erscheint im Konkursbuch Verlag das Jahrbuch „Mein heimliches Auge“, eine lustvolle Anthologie von Bildern und Texten. Das Konzept fand große Beachtung und wurde stark angefeindet. Was war die Zielsetzung, mit der ihr damals angetreten seid, und was ist Dir von den Auseinandersetzungen um das „heimliche Auge“ bis heute im Gedächtnis geblieben?

Während der Buchmesse 1980 entstand die Idee zu „Mein heimliches Auge“. Wir waren in der Wohnung des Autors Uve Schmidt gelandet. Er zeigte uns seine Sammlung fröhlicher erotischer Bilder aus der Anfangszeit der Fotografie, in denen, anders als in „Pornografie“, echtes Vergnügen an der Lust und genauso am neuen Medium Fotografie aus den Bildern sprang. Die meisten Frauen auf den Fotos schienen voller Spaß bei der Sache. Es gab Anfang der 80er kaum Bücher mit offenen Bildern von Sexualität, nur Pornohefte und Filme aus den Sexshops. Wir luden „Kulturschaffende“ ein, uns Beiträge zu schicken; von Anfang an wollte ich vielen Frauen ein Forum geben. Zugleich stellte ich mir vor, dass sich die verschiedensten „Welten“ begegnen würden. Wir haben lesbische, schwule, bi- und hetero Beiträgerinnen und Beiträger eingeladen, natürlich haben anfangs nicht alle Eingeladenen mitgemacht. Der Buchladen „Erlkönig“ kommentierte ironisch: „Liebe Herausgeberin, lieber Herausgeber, das heimliche Auge hat doch für ein Bilderbuch viel zu viel Text, für Feministinnen zu viele Schwänze, für Schwule zu viele Frauen, für Lesben zu viele Männer, für Romantiker gibts zu viel Schmerz für Sadomasochistinnen zu viel Herz! Veröffentlichen Sie doch mal was, das in irgendwelche Schubladen passt!!!“  Wir sind bis heute „zwischen den Schubladen“ geblieben …

Zunächst war es schwer, Autorinnen und Künstlerinnen für ein solcherart „gemischtes“ Buch zu gewinnen. Erst in der Ausgabe drei waren zwei Drittel der Beiträge von Frauen (1988, auf dem Höhepunkt der PorNO-Debatte). Uns wurde entgegengehalten, erst müsse das „Erniedrigende“ mit Gesetzen bekämpft werden, erst dann sei so etwas wie „weibliche Bilder der Lust“ überhaupt möglich. Auf den Podiumsdiskussionen über das „Heimliche Auge“ entzündete sich die Auseinandersetzung immer um von Frauen Produziertes, beispielweise um Fotos, in denen lesbischer SM (Krista Beinstein) thematisiert wurde, oder schon um Bilder mit Dildos. Das „dürfe“ frau zwar privat praktizieren, aber Frauen dürften davon keine Bilder veröffentlichen, da sie dann ja Männern suggerieren könnten, sie würden genau das zu Bekämpfende, also „Gewalt“, doch wollen. Differenzen zwischen „echter Gewalt“ und zur Steigerung sexueller Lust inszenierter „Gewalt“ wurden zugeschüttet. Immer wieder argumentierte ich als Verteidigerin lesbischen SMs, wiederholte die heute bekannten Argumente: Schläge, ausgeübt als Bestrafung durch Eltern oder Unbekannte auf der Straße etc., sind „Gewalt“.  Schläge im SM-Spiel unter Partnern, „Flagellation“, erzeugen Lust. Eine Frau berichtete in einem „heimlichen Auge“ aus dieser Zeit, dass sie ihre Klit und den Orgasmus entdeckt habe, als sie mit angezogenen Beinen ins Wasser gesprungen ist, der Klatsch auf den Po, Schmerz, die sich ausbreitenden Hitze. Später wurden Schläge in SM-Verhältnissen eine ihrer Techniken der Lust. Heute, 30 Jahre später, muten diese Debatten und Bekenntnisse seltsam an (obwohl ich damaligen Argumenten in Auseinandersetzungen immer noch begegne). Das „Auge“ war sex-positiv und queer, ohne dass diese Begriffe damals verwendet wurden, es zeigt Diversität, viele verschiedene Körperlichkeiten, gegen die Normen, die es ja auch in den verschiedenen Szenen gibt. Heute gibt es eine lebendige queer-feministische sex-positive Szene, die PorYes-Bewegung, feministische Sex-Toy-Werkstätten, SM-Workshops und vieles mehr.

Es gab später auch Prozesse gegen das heimliche Auge wegen Pornografieverdachts. Das hat mich sehr belastet und den Verlag auch ökonomisch an seine Grenzen getrieben. Und das, obwohl wir die Prozesse gewannen und die Reihe von der Bundesprüfstelle als nicht jugendaffin und als Kunst gewertet und nicht indiziert wurde. Die damalige Leiterin der Behörde, Frau Monssen-Engerding, sagte einmal auf einer Podiumsdiskussion, das „Auge“ sei eine Collage, in der viel über Liebe und Sexualität gelernt werden könne, niemand könne alles darin mögen, aber in der Auseinandersetzung mit den verschiedenen Aspekten sei der ästhetische (und gesellschaftspolitische) Gewinn weit größer als die „Gefahr“ durch einzelne offene Bilder und Texte.

Sie erklärte in dieser Diskussion auch, wie sich die Bewertungspraxis in Auseinandersetzung mit dem heimlichen Auge verändert und modernisiert habe. Unter dem vorigen Leiter galt noch: Pornografie ist, wenn „Scham“lippen erkennbar sind, bei Männern wurde der Winkelmesser angelegt, Kontexte spielten keine Rolle. Die Privatankläger, die die Jahrbücher anzeigten, gingen noch genauso vor, listeten Seiten auf, auf denen Mösen und zu hoch aufgerichtete Schwänze zu sehen oder Textstellen zu deutlich waren, und beschrieben in ihren Anklageschriften diese „Stellen“ weitaus „pornografischer“ als sie wirklich waren.

Claudia Gehrke – Foto: Gudrun Bleyl

Du sagst, ihr hättet euch an Kulturschaffende gewandt und um Beiträge gebeten. Welche Rolle spielt die künstlerische oder literarische Qualität der Beiträge, und haben sich eure Anforderungen an die Qualität im Laufe der Jahre geändert? Überhaupt: das „pornografische Umfeld“ des „Heimlichen Auges“ hat sich in den zurückliegenden dreißig Jahren gewaltig geändert, haben sich diese Veränderungen auf die Auswahl und Zusammenstellung der Beiträge ausgewirkt?

Anfangs schrieben kaum Debütanten bzw. gab es noch keine Beiträge aus dem Lesepublikum des Jahrbuchs. Wir luden Autor*innen und Künstler*innen ein, die wir spannend fanden, auch Rezensenten, und baten um kurze persönliche Beiträge. Viele schickten „hochliterarisch“ Formuliertes, wie soll ich sagen, kompakt und avanciert, offen, auch überspitzt satirisch. Es waren großteils sehr kurze Beiträge, es gab keine „erotischen Kurzgeschichten“. Die erste Ausgabe hat in der linken Szene auch empörte Reaktionen hervorgerufen, zu viel „Offenheit“, nicht alles war nett und kuschelig. Ulrich Greiner (damals bei der FAZ, später ZEIT) hatte beispielsweise in der ersten Ausgabe einen kleinen Beitrag über „Die Teile und das Ganze“: Das „Ganze“ sei das Geheimnis (was er mit einem Bild von Dante Gabriel Rossetti anzudeuten versuchte), die Teile waren Mösen, Busen, Pos (aus Playboys o.Ä. ausgeschnitten). Andere Autor*innen zogen nach Erscheinen empört ihre Beiträge zurück. Der Blick auf „Teile“ sei nicht erotisch, sondern „Zerstückelung“ etc.  Noch ein Beispiel: Bodo Kirchhoff schrieb in dieser Ausgabe, dass er, um die Militärzeit auszuhalten, gemalt habe, Bilder, die ihm sein Körper diktiert hat. Bilder kindischer Lust, wie er es formulierte. Untertitelt war eins der Bilder mit „Das Lachen der Mama“. Er schrieb auch darüber, wie er schließlich über die Bilder zu Worten fand, dazu, „Unsagbares“ zu formulieren. Jahrzehnte später hat er das in einem Roman weiter reflektiert.

In späteren Ausgaben haben wir längere Texte zugelassen und erotische Geschichten eingebaut, so wurden die Bände dicker. Und natürlich hat sich auch inhaltlich viel geändert, es spiegelt die Zeit (manches rund um Sex und Liebe bleibt natürlich „ewig“ gleich). Das ist in Kleinigkeiten sichtbar, in Bildern wie in Texten. Dazu gehören schlicht sich verändernde Körpermoden, verschwindende Haare, aufkommende Tattoos, SM-Ästhetik etc. Aber auch Subtileres, wie über Sex geredet wird. Bilder sind heute viel zugänglicher als zu den Anfangszeiten des „Auges“, was aber nicht bedeutet, dass wir deswegen keine Bilder mehr nehmen. Es geht um Auswahl und Zusammenstellung. Im Internet ertrinkt man, klickt von da nach dort, ein Buch wie „Das heimliche Auge“ bietet etwas anderes für die Wahrnehmung, für die Auseinandersetzung mit dem Thema.

Das „Auge“ entstand vor digitalen Zeiten, die Flut an Sexuellem durch Internet etc. ließ sich damals nicht vorhersehen. Auch nicht die Flut an sogenannten erotischen Geschichten und Romanen, wie sie heute massenhaft und oft in schlechter Qualität („der Zeigefinger meiner rechten Hand streichelte ihren linken Oberschenkel“) verfasst und im Internet etc. selbstpubliziert werden. Obwohl es das genau genommen früher auch schon gab, Heftchenromane in Millionenauflagen über Frauen, oft aus einfachen sozialen Schichten, die irgendwann den meist reichen Märchenprinzen finden. Erotik gab es darin natürlich auch reichlich – in Küssen. Heute gibt es mehr Sex, aber das Prinzip ist das Gleiche.

Die Jahrbücher spiegeln Tendenzen der Zeit, oft, bevor etwas in den Medien populär wird. Z.B. das Thema des Wechsels zwischen den Geschlechtern, genderfluid etc. Auch in der literarischen Welt. Einige heute sehr bekannte Autor*innen haben erste Texte im „Auge“ publiziert. Das Spiel mit Identitäten und Pseudonymen hat zugenommen. Früher wollte niemand ein Pseudonym, heute ganz viele. Sie wollen mitmachen, aber in bestimmten Umfeldern nicht erkannt werden. Junge Verlagspraktikant*innen kämen heute nicht mehr auf die Idee, fürs „Auge“ von sich erotische Fotos zu produzieren – früher haben das einige mit Vergnügen gemacht.

Später habt ihr euch dann doch entschlossen, euren „Kessel Buntes“ ordentlich in Schubladen zu sortieren. Seit 1998 erscheint „Mein lesbisches Auge“, seit 2003 „Mein schwules Auge“. Während sich die sexuellen Emanzipationsbewegungen unter dem Dach von LSBTIQ* zusammenschließen, wenn auch nicht ohne Konflikte, wie wir seit einiger Zeit erleben, bewegt sich das „Auge“ in die entgegengesetzte Richtung. Wird es eines Tages auch „Mein * Auge“ geben?

„Mein heimliches Auge“, die Mutter der anderen Jahrbücher, ist multisexuell geblieben. Es gab aber in den jeweiligen Gründungzeiten lesbische und schwule Themen und Debatten, die nicht ausführlich genug im bunten Kessel hätten dargestellt werden können. Im lesbischen Auge fanden u.a. Auseinandersetzungen über Dildos und Heteroimitation statt. Zugleich tauchten seit der ersten Ausgabe bereits Debatten zur Frage „Was ist lesbisch“ auf, die Fotoserie „Hermaphrodyke“ von Del LaGrace Volcano (zu der Zeit noch Della Grace) deutete damals schon das Thema der Intersexualität an. Später ging es z.B. um Regenbogenfamilien, Coming-out, Queer-Lesbisch-Politisches, was in jedem lesbischen und schwulen „Auge“ zu finden ist und schon einige Diskussionen anstieß, die dann oft ausführlich in eigenen Publikationen anderer Verlage (z.B. des Querverlags) stattfinden. Das Politische seht nicht auf dem Cover, manche denken bei schwulem und lesbischem Auge, dass es nur um Sex geht, aber Sex ist ja nicht abgerissen vom Rest des Lebens – Auch gibt es Beiträge aus der Schwulen- und Lesbengeschichte und zu verborgenen Künstlern und Künstlerinnen aus der Geschichte. Dazu Interviews über lesbisches/schwules  Leben und Lieben. Dem schwulen Auge geben die Herausgeber immer ein Thema. Eine Nummer z.B. setzte sich unter dem Motto „Die Freiheit, die wir meinen“ mit den Grenzen auseinander, die Schwulen in vielen verschiedenen Ländern der Welt durch Gesellschaft und Politik gesetzt werden. Dazu kommt die ausführliche Präsentation schwuler/lesbisches Kunst.

Wir dokumentieren in den Jahrbüchern, dass sich nicht alle als * empfinden, sondern als lesbisch, straight und schwul. Wir versuchen möglichst viel zusammenzubringen, obwohl ich bei manchen Autor*innen, die sich nicht als Frau sehen möchten und nicht als lesbisch, Überzeugungsarbeit leisten muss, im „lesbischen Auge“ zu erscheinen. Schöne Beiträge dazu z.B. von Sascha Rijkeboer im „lesbischen Auge“ 18, und auch in der kommenden Ausgabe 19 gibt es einen Text dieser Autor*in zu einem „biologischen“ Thema (dass auch *-Menschen menstruieren, und was das bedeutet).

Vielleicht sollten wir einfach alle drei Jahrbücher mit einem zusätzlichen Sternchen versehen. Also „Mein heimliches* Auge“ etc. Wobei ein solcher Wunsch von Autoren des schwulen Auges noch nicht geäußert wurden. Jan Gympel wollte vor Ewigkeiten einmal ein „bisexuelles“ Auge herausgeben … es kamen, soweit ich mich erinnere, nicht genügend Beiträge. Ein „*“-Auge hätte vermutlich mehr Beiträge. Bin selbst gespannt, wie es weitergeht.

Ich möchte noch einmal auf das veränderte Umfeld zurückkommen, in dem sich die derzeit drei „Augen“ ja sehr gut behaupten. Meinst Du, dass sich in den vielfältigen Möglichkeiten des Internet Formen der Darstellung und Auseinandersetzung entwickeln können, die über die Möglichkeiten eines Print-Jahrbuchs hinausgehen? Und auch im Bereich der Print-Medien: Fanzines wie „Butt“ haben in kurzer Zeit international geradezu Kultstatus erreicht, gönnst du ihnen diesen Erfolg, und können die „Augen“ davon lernen?

Ich versuche, möglichst nicht „eifersüchtig“ auf andere erfolgreiche Magazine zu schielen oder zu jammern, dass doch eigentlich wir das Original sind. Natürlich ist es gut, sich inspirieren zu lassen, aber nicht gut wäre, zu kopieren. Ich habe mich umgekehrt schon öfter gewundert, wenn in einem Magazin internationale Fotografinnen als „Neuentdeckung“ und Erstveröffentlichung vorgestellt wurden, die kurz zuvor oder ein paar Jahre zuvor mit den gleichen Bildern und Themen im lesbischen Auge waren, und hätte mir gewünscht, dass das erwähnt worden wäre.

Wir sind ein kleiner Verlag, sind es immer geblieben – und können nicht die Menge verkaufen, sie sich vielleicht mit „Marketing“-profis verkaufen ließe – die anzustellen, fehlt uns das Geld. Wichtig ist mir beim „heimlichen Auge“, dass verschiedene Generationen bei der Zusammenstellung und Auswahl mitarbeiten … ich arbeite immer mit den jungen Volontärinnen (zwischen 20 und 30) zusammen.

Das Internet bietet viele neue Möglichkeiten, wir nutzen manche auch für die Jahrbücher (Ausschreibungen,  Kommunikation mit Künstler*innen etc., manchmal ein E-Book mit Auge-Auszügen), aber noch immer machen wir die ganzen „Jahrbücher“ nicht als E-Book.

Ein Vorteil der digitalen Medien ist die schnelle Wandelbarkeit, das schnelle Kommunizieren.  Das „Auge“ könnte dort jeden Tag neu eingestellt werden, mit hinzukommendem Bildern und Texten, es wäre interaktiver denkbar, noch interaktiver als es jetzt schon ist … was wir davon verwirklichen, wird sich zeigen.




Mein heimliches Auge 34
kartoniert, 336 Seiten, 16,80 €
978-3-88769-534-7
Konkursbuch-Verlag


Mein lesbisches Auge 19
kartoniert, 288 Seiten, 16,80 €
978-3-88769-919-2
Konkursbuch-Verlag


Mein schwules Auge 16
Berlin Gay Metropol special
kartoniert, 340 Seiten, 19,90 €
978-3-88769-945-1
Konkursbuch-Verlag

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