Westler

TrailerDVD / VoD

Berlin, Mitte der 1980er Jahre. ‚Westler’ Felix und Thomas aus Ostberlin leben nur wenige Kilometer voneinander entfernt – und doch in zwei unterschiedlichen Welten. Zwischen ihnen liegt die Berliner Mauer, pro Woche können sie sich nur einen Tag sehen und pro Tag nur vier, fünf Stunden. Irgendwann weiß Thomas nur noch einen Ausweg: die Flucht aus der DDR, über Prag in den Westen, zu Felix. Regisseur Wieland Speck und sein Team mussten 1985 im Ostteil Berlins zum Teil mit versteckter Kamera drehen. 34 Jahren nach seiner Entstehung erscheint „Westler“, ein Klassiker des Queeren Kinos, jetzt in digital restaurierter Fassung als DVD und VoD. Andreas Wilink hat sich den grenzenüberschreitenden Liebesfilm noch einmal angesehen und fühlt sich zurücktransportiert in die alte Mauerstadt.

Foto: Edition Salzgeber

Der geteilte Himmel

von Andreas Wilink

Zwei Filme, die im Abstand von zwei Jahren entstanden sind, haben dem Anschein nach wenig gemeinsam. Und doch sind sie, jeder für sich genommen, eine Archäologie von Stadt-, Sozial-, Kultur- und Mentalitätsgeschichte und, sogar dies, Weltgeschichte im Brennpunkt Europas. 1985 drehte Wieland Speck „Westler“ für die ZDF-Reihe „Das kleine Fernsehspiel“ (eine Kinoauswertung folgte), 1987 Wim Wenders „Der Himmel über Berlin“. Beide Filme beginnen mit einem irdischen Traum, bevor sie in der Realität von Berlin landen.

Der Traum bei Speck ist das neue Gelobte Land und heißt Kalifornien. Im roten Cabriolet kurven der deutsche Felix und der US-Amerikaner Bruce durch LA, den Drehbuch und Regie bald fallen lassen. Die beiden sehen im Vorüberfahren, während launiger Pop sie beschwingt, eine Skulptur des Berliner Bären auf einem Rasen stehen, besuchen das Observatorium, in dem James Dean einst nach den Sternen griff, und schauen sich beim Auto-Cruising um. Bruce sagt mit Blick auf die nächtlich leuchtende Stadt der Engel: „Für einen Amerikaner bedeutet eine Stadt Zukunft.“ Der Deutsche antwortet, für einen Europäer bedeute sie vor allem Vergangenheit. Auf den Prolog an der Pazifikküste, die dem Drang des weißen Mannes nach Westen eine natürliche Grenze setzte, folgt die Exposition – eine deutsch-deutsche Romanze in Moll.

Wenders startet über den Wolken. Ein Flugzeug senkt sich für die Ankunft in Berlin-Tegel in das Schwarzweiß der Straßen, Häuser und Menschen – Engel belauschen deren Geschichten, helfen, heilen, trösten und trauern. Beide Filme erzählen von einer Welt, die uns historisch geworden ist, obwohl sie uns vom Heute weniger als eine halbe Generation trennt. Wenn der greise Homer (Curt Bois), geleitet von Cassiel (Otto Sander), über eine wüste Brache im Niemandsland der halbierten Stadt irrt und den Potsdamer Platz und seine Vorkriegs-Erinnerung an ihn nicht wiederfindet, ist diese fiktive Szene ein Dokument des deutschen Dramas.

Nicht anders bei „Westler“. Die mit einer versteckten Super-8-Kamera gedrehten Aufnahmen aus der „Hauptstadt der DDR“ sind Zeugnisse eines verschwundenen Landes. In weiter Ferne, so nah. Die hintergründig mit dem Naiven flirtenden sommerlichen Szenen luftig gekleideter Leute beim Promenieren, vor dem Sowjetischen Ehrenmal und dem Palast der Republik, aus dem Kaufhaus Central brechen dabei den touristischen Blick. Und bleiben, bedingt durch die nichterteilte Drehgenehmigung, sprachlos und nur von Musik aus dem Off kommentiert. Das lässt sie heranrücken an Robert Siodmaks und Billy Wilders Stummfilm „Menschen  am Sonntag“ (1929) aus den besseren Tagen der Weimarer Republik. Erzählte Geschichte in Bildern.

Foto: Edition Salzgeber

„Ich muss die andere Seite auch sehen“, sagt Bruce. Also unternehmen er und sein Gastgeber Felix einen Tagesausflug in den Osten. Trotz aller Munterkeit verspüren sie wohl die gleiche Beklommenheit, die mich überkam, wenn ich im Auto den Transit-Übergang Helmstedt/Marienborn passierte; das Empfinden, dass auch den Luftraum eine undurchlässige Grenze durchzöge und es drüben anders röche als hüben; meine aus Neugierde, Ahnungslosigkeit, Beschämung, Bangigkeit und Vorsicht gemischte Konfusion, wenn ich – wie die beiden Jungs in „Westler“ – in der S-Bahn am Reichstag mit seiner davor verlaufenden Beton-Naht vorbeifuhr, sie am Bahnhof Friedrichstraße verließ und zur „Grenzübergangsstelle und Passkontrolle“ ging, mich der „Einreise“-Schlange anschloss, immer unbeholfen wirkend, weil ich den Eindruck, ich könne wie ein Zoobesucher eingesperrte Artgenossen betrachten, unbedingt vermeiden wollte.

Foto: Edition Salzgeber

Plötzlich, auf dem Alexanderplatz, treffen sich die Augen von Felix (Sigurd Rachman) und dem Blondschopf Thomas (Rainer Strecker) vom Prenzlauer Berg (was das ist, musste „Westlern“ vor der Wende noch erklärt werden).  Gemeinsam essen sie Currywurst und Broiler und sitzen in der Schoppen-Stube bei Gin-Tonic und Weißwein, wobei sich Felix’ bequeme westliche Kapitalismus-Kritik an Thomas’ östlichem Frust wegen all dem reibt, was hinter dem Eisernen Vorhang nicht möglich ist. Sie sehen sich wieder. Verlieben sich ineinander. Twisten zu Nina Hagen, schmusen auf Thomas’ Bude (jugendfrei vor dem öffentlich-rechtlichen Zweiten Auge, mit dem man hier nicht besser sieht), üben Normalität. Nicht nur, aber auch die verhängte Besucher-Sperrstunde um 24 Uhr macht Rendezvous schwierig. Befristete Zeit.

„Eine Liebe, das kostet immer viel“. Fassbinders Diktum nimmt hier noch eine weitere Bedeutung an: nicht nur die der Gefühlsausbeutung des Liebenden durch den Geliebten – und umgekehrt; sondern die systemische Verhinderung der Liebe und ihrer selbstverständlichen Alltäglichkeit durch staatliche Gewalt. Dass der Freizügigkeit gewohnte Felix, obschon in der privilegierten Position, unter Schikanen der Grenzbeamten bis hin zur Leibesvisitation mehr leidet als Thomas, der gelernt hat, stoisch mit den Gegebenheiten umzugehen, um dann als Ausweg die Flucht via Prag und Ungarn und Jugoslawien zu planen, sagt auch etwas über die Ich-Schwäche des Westlers.

Foto: Edition Salzgeber

Wieland Speck (zusammen mit seinem Co-Autor Egbert Hörmann) agiert in seinem Debüt mit charmant präpotenter Geste, die das amateurhaft Unbeholfene von der Übermutter Rosa von Praunheim abwandelt und aus einigen Schwächen eine stilistische Stärke macht und wie aus dem Underground heraus aufs Leben schaut und das Bilderverbot zu umgehen scheint. Er hat beiläufige Aufmerksamkeit und Zärtlichkeit für seine Figuren und Laiendarsteller, von denen Rainer Strecker der überzeugendste ist; und driftet gelegentlich ins absurd Surreale, wenn Felix am Behördenschalter (20 Mark Zwangsumtausch) vor einem Fräulein steht, das in dem riesigen Wartesaal allein unter einer Banderole mit Polit-Propaganda vor sich hin stempelt.

„Westler“ gehört in die Ära von Frank Ripploh („Taxi zum Klo“, 1980), Derek Jarman („The Angelic Conversation“, 1985), Romy Haag und Zazie de Paris, die einen Gastauftritt im Film hat. Wir befinden uns hier noch in der Ära des Analogen – und ein Telefongespräch von Ost nach West ist beinahe ein Abenteuer. Doch das harmlos Unbeschwerte, manchmal Neckische täuscht: „Westler“ endet mit einem skeptischen Blick. Für die Liebe von Felix und Thomas hat der nicht viel Hoffnung. Auch wenn sich vier Jahre später vieles ändern wird.




Westler
von Wieland Speck
DE 1985, 93 Minuten, FSK 12,
deutsch-englische OF, teilweise mit deutschen UT,

Edition Salzgeber




DVD: € 16,90 (inkl. Porto & Verpackung)

vimeo on demand

VoD (deutsche Fassung): € 4,90 (Ausleihen) / € 9,90 (Kaufen)

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