Holger Brüns: Felix
Buch
Deutschland in den Achtzigerjahren: Brokdorf-Demos, Hausbesetzungen, Aids-Aktivismus und Träume von einer anderen, besseren Gesellschaft prägen das linke Lebensgefühl. Holger Brüns blickt in seinem autobiografisch grundierten Roman „Felix“ zurück auf jene Zeit. Tom und Felix sind ein schwules Paar, das am Rande der politischen Kämpfe auszuloten versucht, ob antibürgerliche Konzepte von Partnerschaft wirklich funktionieren. Axel Schock kann sich selbst noch ganz gut an die Vorgängergeneration der heutigen Weltretter erinnern. Er hat „Felix“ nicht nur als liebevolle Zeitreise erlebt, sondern auch als schwulen Lückenschluss in der reich bestückten Landschaft von Romanen, die sich am Lebensgefühl der Achtzigerjahre abarbeiten.
Revolution und Alltag
von Axel Schock
Es klingt wie ein romantischer Kurzurlaub: Zwei frisch verliebte junge Männer – der Krankenpfleger Felix und der Zivildienstleistende Tom – fahren mit einem etwas ramponierten VW-Bus von Göttingen quer durch Niedersachsen nach Norden, und übernachtet wird auf der Strecke im Auto oder kleinen Pensionen. Doch mag die Reise auch spontan und ungezwungen wirken, sie hat einen ernsten Hintergrund. Denn Felix muss nach Hamburg, um dort in einem Krankenhaus das Ergebnis seines HIV-Tests abzuholen.
Manche Leser:innen werden sich fragen: Wäre ein solcher Test nicht auch in Göttingen möglich gewesen? Musste die Blutprobe tatsächlich in die anonyme Großstadt an der Elbe geschickt werden? Doch diese Szene spielt im Herbst 1985, als es in Deutschland noch keine nennenswerte HIV-Infrastruktur gab und sich die Aidskrise erst auf ihren Höhepunkt zubewegte. Als sich Felix nach dem Kliniktermin mit Tom in einem Café trifft, bestellt er Sekt. Aber einen wirklichen Grund zu feiern gibt es nicht: Der Test ist positiv ausgefallen – eine Nachricht, die damals, als eine wirksame Therapie nicht absehbar, geschweige denn verfügbar war, wenig Raum für Hoffnung ließ. „Wir reden nicht viel“, schildert Ich-Erzähler Tom die beklemmende Situation. „Was gibt es da auch zu reden? Ob ein, zwei oder drei Jahre, Felix wird sterben und ich werde ohne ihn leben.“
Nach nur wenigen Seiten hat Holger Brüns die beiden Hauptfiguren seines Romans in eine existentielle Krise geworfen. Doch es kommt anders, als man vielleicht erwarten könnte: „Felix“ ist kein Aids-Roman. Die Diagnose wird das Zusammenleben der beiden Männer zwar verändern und vor allem Toms Lebensplanung wesentlich beeinflussen, doch Holger Brüns erzählt nicht entlang des Krankheitsverlaufs bis zum Tod. Vielmehr erfährt der Aspekt der HIV-Infektion im letzten Drittel des Romans eine ungewöhnliche und überraschende Wendung, durch die viele Eigenheiten in Felix’ Verhalten im Nachhinein eine neue Bedeutung bekommen.
Nach dem einleitenden Kapitel über die Reise nach Hamburg wird aber erst mal die Vorgeschichte der sich langsam entwickelnden Beziehung zwischen Tom und Felix erzählt. In einer klaren, fast sachlich-distanzierten Sprache, derer sich Brüns bereits in seiner Novelle „Vierzehn Tage“ bedient hat, erfahren Leser:innen, wie die beiden jungen Männer ein Paar werden. Das scheint anfangs noch unwahrscheinlich. Als Tom den etwas älteren Felix bei der Arbeit im Göttinger Krankenhaus kennenlernt, kommt er zunächst nicht so richtig an ihn heran. Denn Felix hat eine Freundin. Mehr als eine gute, wenn auch zunehmend intensive Kumpanei erwartet Tom also nicht. Doch ein paar Küsse und gemeinsame Nächte später haben die beiden eine lose Beziehung, auch wenn Tom zunächst damit leben muss, nur der Dritte im Bunde zu sein. Das Konzept von romantischer Zweierbeziehung, Ehe und Treue gilt in den frühen Achtzigerjahren aber ohnehin als überlebtes „kapitalistisches Besitzdenken“. „Eifersucht ist eine bürgerliche Erfindung“, sinniert Tom ganz im Sinne des aufgeklärt-bewegten Zeitgeistes jenes Jahrzehnts. Doch die Theorie ist das eine; die Praxis, wenn Felix mit seiner Freundin abzieht und ihn allein zurücklässt, etwas ganz anderes. Das empfindet Tom dennoch als verletzend und schmerzhaft. Holger Brüns erzählt unaufgeregt von einer nicht ganz unkomplizierten Liebesbeziehung zweier Männer, die, wie viele in dieser Generation, alternative Lebensmodelle erproben.
In „Vierzehn Tage“ hatte Brüns im gleichen plaudernden, aber sprachlich genauen Ton das Lebensgefühl der (schwulen) West-Berliner Vorwende-Generation der Nullerjahre eingefangen. Die Hauptfigur, ein schwuler Mann Mitte 40, musste sich eingestehen, dass vom einstigen kämpferischen Geist und der Aufbruchsstimmung, mit der er 20 Jahre zuvor nach Berlin gezogen war, nur noch wenig geblieben ist. „Felix“ blendet nun zurück und lässt sich als eine Art Prequel zur Novelle lesen. Hier sind die Hoffnungen auf gesellschaftliche Veränderung noch ungebrochen. Göttingen mag, zumal im Gegensatz zu West-Berlin, überschaubar sein: jede und jeder kennt sich, allenthalben kreuzen sich die Wege in Groß-WGs, Landkommunen, dem autonomen Jugendzentrum, auf Demos und selbst organisierten Punk-Konzerten. Doch das Lebensgefühl, die Debatten, die selbstgeschaffenen Strukturen, wie Brüns sie in seiner liebevoll, deutlich autobiografisch grundierten Zeitreise schildert, sind unabhängig vom Schauplatz zeittypisch. „Felix“ ist eine individuelle und bis in die Details sehr konkret verortete Geschichte, aber sie steht Pars pro Toto für die linksalternative Szene der Achtzigerjahre und könnte problemlos auch in einer anderen westdeutschen Unistadt angesiedelt sein.
Damit schließt der Roman gewissermaßen eine Lücke in vergleichbaren autobiografischen Tiefenerkundungen der Achtziger. Während etwa Gerhard Henschel („Bildungsroman“), Kai Havaii („Hart wie Marmelade“) und Sven Regener („Glitterschnitter“) die Provinztristesse oder das Überlebenskünstlerdasein in der Kreuzberger Subkultur aus heterosexuellem Blick erstehen lassen, leuchtet Brüns als einer der Ersten das Erwachsenwerden in jener Dekade aus schwuler Perspektive aus. Der Soundtrack, der „Felix“ in Form von Zitaten und Anspielungen durchzieht, ist bezeichnend: Rio Reisers Band Ton Steine Scherben steht, programmatisch für die Hausbesetzerszene, neben Bronski Beat und Jeanne Moreau, die in Fassbinders „Querelle“ die legendären Oscar-Wilde-Verse „Each man kills the thing he loves“ als Chanson interpretierte. Nicht zu vergessen Georgette Dee, der Brüns im Roman mit der Schilderung eines Konzerts im schwulen Tagungshaus Waldschlösschen ein kleines literarisches Denkmal setzt.
Dennoch wirkt „Felix“ nicht wie ein nostalgisch rückblickendes Memoir. Was die Protagonist:innen im Göttingen der Jahre 1984/85 umtreibt, findet sein Echo ganz unmittelbar in der Gegenwart. Wurden damals junge Menschen zu Tausenden etwa durch die Gefahren der Atomkraft politisiert, ist es bei der jungen Generation von heute die Klimakrise. Der dringend notwendige Wandel erfordert radikale Ideen. „Sicher sind wir, dass es ein richtiges und ein falsches Leben gibt. Dass es unsere Entscheidung ist, ob wir Teil der Lösung oder Teil des Problems sein wollen“, lässt Holger Brüns Tom an einer Stelle die Weltsicht seiner Community auf den Punkt bringen. „Wir wissen: Wir sind nur eine Minderheit. Wir wissen: Kämpfen und Leben, das gehört zusammen.“ Die Dringlichkeit, mit der damals kollektiv nach Möglichkeiten für Veränderungen gesucht wurde, ähnelt augenfällig der Situation von heute. Auch wenn die Gegner inzwischen andere sein mögen.
Felix
von Holger Brüns
Hardcover, 192 Seiten, € 22
Albino Verlag