The Most Beautiful Boy in the World

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Im Jahr 1970 reist Luchino Visconti durch Europa auf der Suche nach einem Tadzio für seine Adapation von Thomas Manns Novelle „Tod in Venedig“. In Stockholm findet er Björn Andrésen, einen schüchternen 15-Jährigen – und macht ihn quasi über Nacht zum Star. Kristina Lindström und Kristian Petri rekonstruieren in ihrem abgründigen Dokumentarfilm nicht nur Andrésens schwierige Familiengeschichte und Viscontis problematisches Casting, sondern auch die Odysee als Objekt der Blicke, die für Andrésen folgte. Andreas Wilink über „den schönsten Jungen der Welt“ (Originalton Visconti) und sein gar nicht so schönes Leben.

Foto: Mario Tursi

Der Blick der Anderen

von Andreas Wilink

„Du darfst so nicht lächeln! Höre, man darf so niemandem lächeln! Er warf sich auf eine Bank, er atmete außer sich den natürlichen Duft der Pflanzen. Und zurückgelehnt, mit hängenden Armen, überwältigt und mehrfach von Schauern überlaufen, flüsterte er die stehende Formel der Sehnsucht – unmöglich hier, absurd, verworfen, lächerlich und heilig doch, ehrwürdig auch hier noch: Ich liebe dich!“

Dem Lächeln vorangegangen ist der Blick, das Streiflicht des Auges, zweier Augenpaare, das eines älteren Mannes und das eines Knaben. Gustav von Aschenbach und Tadzio, der polnische Jüngling, begegnen einander im Grand Hotel des Baines am Lido von Venedig. Und über ihnen wachend das Auge des Erzählers Thomas Mann. Wo, wenn nicht in der unmöglichen Stadt, die einer Phantasmagorie ähnlicher ist als einem realen Ort, kann der „Der Tod in Venedig“ spielen? Einer Stadt, die aus weichen Frühnebeln und dem Dunst der Lagune auftaucht wie der Dampfer am Anfang von Luchino Viscontis Verfilmung der Novelle, in der dieser aus dem Schriftsteller Aschenbach den Komponisten Aschenbach mit Anleihen bei Gustav Mahler macht. In Silvana Mangano, seiner Muse, findet Visconti die Darstellerin der Mutter von Tadzio, und in Björn Andrésen den Interpreten des Sohnes: blond und blass, schmal und von filigraner Anmut.

In dem Dokumentarfilm von Kristina Lindström und Kristina Petri aber geht es um den Gegenblick, den bannenden Medusenblick auf ihn, den jungen Björn. Um den Blick der Anderen und das, was deren Blick nach sich zieht. Tadzio ist eine vorsexuelle Gestalt, ästhetisches Prinzip, nicht individueller Körper und Charakter. Thomas Mann hatte August von Platen, leidend an seinem Eros, gelesen – dessen „Tristan“-Gedicht: „Wer die Schönheit angeschaut mit Augen, ist dem Tode schon anheimgegeben.“ Gemeint ist männliche Schönheit.

Zunächst hören wir die Stimme eines Kindes, eines von Vater und Mutter verlassenen Kindes; sein Greinen und seine Angstvision allein in einem dunklen Gang auf dem Weg ins Freie und auf eine von Bäumen umstellte südlich-antike Säulenterrasse. Traum- und Schreckensbild wie aus einer Geschichte von Henry James. Der in diesen Bildern Gefangene ist der erwachsene Björn. Als erstes begegnet er uns wie eine Geistererscheinung. Damit hat der Film „The Most Beautiful Boy in the World“ seine Tonart gewählt. Eine Komposition in Moll.

1970 reist der homosexuelle, kommunistische Aristokrat Visconti – maskulin, kraftvoll, energisch – nach Stockholm. In mehreren Ländern war er auf Suche nach dem idealen Gesicht. Auf einmal ist es da: Björn. Dokumentaraufnahmen des Castings zeigen den 15-jährigen Schweden mit den grauen Augen („die  Farbe des Wassers“, so Thomas Mann), exquisit und auf leise Weise schön, unsicher lächelnd, aber bald schon geführt, nein, verführt zu verlockender Pose vor der Kamera. Dies die erste Übertretung.

Die beiden Filmemacherinnen präsentieren das authentische Material nicht sachlich objektiv, sondern suggestiv dramatisch. Sie machen nicht Hehl aus ihrer emotionalen Haltung. Sie erheben Anklage. Und sie beklagen ein Scheitern. In abruptem Wechsel sehen wir – ein halbes Jahrhundert später – einen hageren Mann mit langem grauen Haar und Bart in einer verwahrlosten Wohnung, während seine Freundin Jessica ihn ermahnt, Sauberkeit zu wahren, sich nicht selbst zu gefährden, und sie sich mit Mundschutz daran begibt, alles zu säubern, bevor die Justiz oder Sozialbehörde nach dem Rechten schaut. Sie schaffen es, guten Eindruck zu hinterlassen.

Foto: Mantaray Film

Die Konfrontation mit dem, was einst den Zauber der Unschuld besaß und nun Verfall und Zerstörung ist, kommt einem Schrecknis gleich, wie es uns sonst aus mythischem Geschehen und dessen Leidenserfahrung entgegenwächst. Björn Andrésen hat das Märtyrerantlitz eines vom Extrem imprägnierten Rockstars oder weisen Gurus, der an späterer Stelle der 90 Minuten hinter Sonnenbrillengläsern einsam in einem Hotelsaal am Flügel sitzt und Chopin spielt – in Erinnerung an Unerreichtes, daran, dass er wohl die Schauspielschule besucht, Rollen und Auftritte gehabt und eine Familie gegründet hat, es ihm aber nicht gelungen ist, seine „innere Dunkelheit“ aufzuhellen.

Zweierlei Verrat und Schuldigwerden hat Björn erfahren, der wie unter Wiederholungszwang selbst verrät und schuldig wird. Tief getroffen von der Schicksalsmacht, psychisch nicht die Stabilität zu haben, die Familie zu halten und sich als Vater einer Tochter, Robine, und eines Sohnes, Elvin, zu verhalten, dessen Kindstod er als seine eigene Verantwortung anerkennt. Um danach ebenso in sich zu verschwinden wie die verlorene Mutter.

Das Kind Björn wuchs auf bei den Großeltern, nachdem Mutter Barbro spurlos verschwand, so wie sie nachfolgend auch aus dem Sprechen der Familie verschwand. Der heutige Björn und die ihm vertraute, fast zwillingshafte Halbschwester Annike – beide geboren 1955 – tauschen sich aus über die Bohèmienne Barbro, Künstlerin, Fotografin, Journalistin, Dior-Model. Wir beobachten Björn, der bei seinen Recherchen die Polizeiakten liest, die den Tod der Mutter 1966 belegen. Sich selbst findend, sich selbst verlierend – beides in einem. Björns Vater blieb ihm sein Leben lang unbekannt und ungenannt.

Foto: missingFILMs

„Granny“, so erzählt Andrésen, habe sich für ihren Enkel Berühmtheit gewünscht. Insofern keine Einwände gegen Viscontis Angebot. Sie spielt sogar eine kleine Rolle im Film und begleitet den Dreh mit der Super-8-Kamera, so dass wir uns nicht wundern müssen über die Fülle an historischem Bildmaterial. Für die Dreharbeiten in Italien bekommt Björn Extraschulferien und eine Gouvernante, Miriam, gestellt, die ihn unterrichtet und behütet. Noch ist der Knabe tabu, Begehren höchstens erlaubt durchs Objektiv der Kamera.

Szenen von der Galapremiere des „Tod in Venedig“ am 1. März 1971 in London in Anwesenheit der Queen, bei der Visconti seine Entdeckung zum „most beautiful boy in the world“ erklärt. Danach Björns Auftritt in Cannes, Romy Schneider an seiner Seite. Umschwärmt. Und vorgeführt wie die Lola Montez in der Zirkusmanege bei Max Ophüls. Im Anschluss feiert die Crew in einem Gay-Nightclub – es endet mit sexuellen Übergriffen auf Björn.

In Japan bricht Hysterie aus, als der Teenager eintrifft und ihn ungeahnte Popularität empfängt, weil er das japanische Schönheitsideal des Androgynen (Bishonen) erfüllt. Ein Musikproduzent nimmt mit ihm eine Schlagerplatte auf, die auch für Commercials genutzt wird. Er inspiriert Comiczeichner für Jahrzehnte zu einer auf einem Schimmel reitenden goldblond gelockten Manga-Figur. Mit 21 lebt Björn für ein Jahr in Paris: als „Wandertrophäe“ und Maskottchen der schwulen Szene, wo ihm ein nicht uneigennütziger Mäzen 500 Francs in der Woche Taschengeld zahlt.

Foto: Mario Tursi

Wie damit leben! Dass immer das Idol, die Fiktion gemeint ist – nicht der junge Mensch, der mit Pillen gefüttert wird, um den Stress durchzuhalten. „A living nightmare“ nennt Andrésen diese Zeit, wenn er für die Doku an den Schauplatz Tokyo wiederkehrt und den Hotelmanager von damals trifft. Er sei „verdammt einsam“ gewesen und habe „eine Membran“ zwischen sich und der Welt verspürt. Visconti hatte sich für drei Jahre die Rechte an Björns Gesicht gesichert. Sie sei „zu Tode fotografiert“ worden, so hat Marlene Dietrich es genannt.

„Alles war falsch von Beginn an.“ Sagt Björn Andrésen, der sich – verwüstet,  gramvoll, befüllt von Melancholie – mutig der Kamera für „The Most Beautiful Boy in the World“ gestellt hat. Ein erschütterndes Bekenntnis. Zum Schluss bringen Lindström und Petri ihn dazu, nach Venedig zurückzukehren. „Venedig kann sehr kalt ein“, hat Patricia Highsmith einen ihrer Romane betitelt. Björn, einsam am Strand stehend. Vis à vis mit Tadzio, dem „ins Verheißungsvoll-Ungeheure“ (Thomas Mann) lockenden Hermes. Der Verlorene. Der Muttersohn. – Beinahe ein Requiem zu Lebzeiten.




The Most Beautiful Boy in the World
von Kristina Lindström und Kristian Petri
SE 2020, 94 Minuten, FSK 0,
schwedisch-englisch-itlanienische OF mit deutschen UT

Ab 29. Dezember im Kino

 

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