Mein erster Sommer

TrailerDVD/VoD

Jetzt als DVD und VoD: Claudia ist 16 und lebt nach dem Tod ihrer Mutter allein in ihrem abgelegenen Haus. Eines Tages steht die gleichaltrige Grace im Garten – und mir ihr ist plötzlich alles leicht und vertraut. Doch dann droht das romantische Sommeridyll zerstört zu werden. Die australische Regisseurin Katie Found begleitet in „Mein erster Sommer“ zwei Außenseiterinnen, die in der sonnendurchfluteten Abgeschiedenheit das Glück zu zweit entdecken. Angelika Nguyen über ein sensibel erzähltes Coming-of-Age-Drama in verträumten Bildern und mit zwei fantastischen Newcomerinnen in den Hauptrollen.

Foto: Salzgeber

Purplefingerhakeln

von Angelika Nguyen

Zuerst Wasser, überall Wasser, bedrohlich, verschlingend, darin wehend ein Tuch, gelber Stoff. Ein Mädchen rennt, völlig durchnässt, einen Waldweg entlang. Das Licht der untergehenden Sonne schimmert durch die Bäume und begleitet den Lauf des Mädchens, das vor etwas zu flüchten scheint. Im Voice-over erzählt es, dass etwas es wieder „nach oben“ gezogen hätte, „ein Funkeln“. Das Mädchen keucht und rennt, das Gesicht ist verzweifelt. Etwas Furchtbares ist geschehen. Was genau, bleibt vorerst unklar.

Ein zweites Mädchen erscheint bei Tag auf der Bildfläche, auch im Wald, dann an einem See. Es untersucht ein polizeiliches Absperrband, sieht nachdenklich aufs Wasser, gelangt durch eine rostige Absperrung an ein abseits liegendes Haus. Es scheint kein Zufall, dass es dorthin gerät, vielmehr ist es, als nähme es eine Spur auf. Die Hündin Tilly zeigt dem Mädchen den Weg. Ein wilder Garten im Gegenlicht, bunte Sonnenschirme, Sonnenstrahlen durch korbgeflochtene Dächer. Ein verwunschen wirkendes Grundstück, märchenhaft. Dann der Kontrast: ein vorgestrecktes Messer und ein verängstigtes Gesicht empfangen die Besucherin. So lernen sich Claudia und Grace kennen.

Vertrauen scheint nicht gerade das, was die hier lebende Claudia mit der Außenwelt verbindet, ein bisschen erinnert sie an Francois Truffauts „wildes Kind“, mit entrücktem, gehetztem Blick, entwöhnt der menschlichen Gesellschaft. Graces Neugier trifft auf Claudias Verschlossenheit. Mit einfachen Themen baut Grace Vertrauen bei Claudia auf. Es geht um ihre Vornamen („Wie heißt du?“), dann um die Namen einzelner Finger („Ringfinger, Stinkefinger, Pinky Finger“), um die Einladung, gemeinsam auf der Schaukel zu sitzen. Der Beginn einer Freundschaft scheint besiegelt, als Claudia selbst einen Fingernamen beisteuert und sich ihre „Purple Fingers“ als Versprechen, „da draußen“ nichts zu verraten, ineinander hakeln.

Farben sind wichtig in Katie Founds Film. Es kann nicht bunt genug sein. Graces Aufmachung mit rosa Tüllrock über regulären Shorts passt dazu und ihre vielen Perlenarmbänder, ihre aufwendigen Ohrringe. Grace erscheint wie ein bunter, freier Vogel, der in Claudias Abgeschiedenheit einbricht. Was am See geschehen ist, kann Grace nur ahnen. Sie hat etwas gesehen dort, aber nichts Genaues. Die Schreibsachen und Bücher von Claudias Mutter liegen im Haus herum – sie war eine bekannte Schriftstellerin und ist jetzt verschwunden. Die Aufdeckung des Vorfalls im Wasser scheint jedoch erst mal in Vergessenheit zu geraten.

Foto: Salzgeber

Im Zentrum der folgenden lichterfüllten Erzählung steht das wachsende Vertrauen zweier sehr junger Menschen zueinander, die aus unterschiedlichen Gründen einsam sind. Grace ist nämlich gar nicht so frei, wie es scheint. Aus ihrem lieblosen Zuhause, wo ihre Mutter und deren aufdringlicher Lover Stress verbreiten, schleppt sie eine Menge Dinge an: Wandposter, süßes Schaumzeug, nach Früchten duftende Malstifte und eine Sammlung bunter Glasperlen. Sie erklärt Claudia ausführlich die Bedeutung der Armbänder, die sie sich daraus bastelt, und die Zuordnung von Eigenschaften. Der Freundin gibt sie das Wort „smart“. Begeistert schmieren sie sich auf die Pancakes Marmelade und drücken den Schaumzucker hinein. Ihre Kindlichkeit darf herumtoben.

Das Farbmotiv taucht wieder auf, als sie auf die Idee kommen, die roten Früchte, die reif im Garten hängen, in einer Schüssel zu zerquetschen und die weiße Bettwäsche zu färben. „Hauptsache, nicht mehr weiß“, sagt Claudia. Denn die Unschuld ist fort. Aus Vertrauen wird Freundschaft, aus Freundschaft wird Liebe – und Verlangen. Dezent und glaubhaft zugleich schildert der Film die Lust der beiden aufeinander.

Foto: Salzgeber

Bei aller Ausgelassenheit wirkt jedoch das Trauma fort. Nicht nur Claudias Mutter ist verschwunden, auch Grace hat – wenn auch auf andere Weise – ihre Mutter verloren. Auf die Mütter war kein Verlass. Diese Verletzung macht die Mädchen sensibel für die kleinen Dinge, für alle Zwischentöne. Solche kleinen Dinge machen diesen Film aus. Dazu gehören die behutsam erzählte Annäherung der beiden, das vom Szenenbild liebevoll ausgestattete Haus, der wilde Garten, das geschnittene Gemüse, der Frühstückstisch, der bittere Kaffee, den sie einträchtig wieder ausspucken.

Als die Polizei in das Paradies einbricht, kommt wieder forensische Spannung auf. Was ist geschehen da am See? Wie starb Claudias Mutter und wer war daran schuld? Claudias Erinnerung an ihre Mutter ist zerbrochen wie Einzelteile eines Puzzles, das der Film erst am Ende ganz zusammensetzt. Der Film kombiniert ein Coming-of-Age-Drama mit gewissen Horror-Elementen, einem Diary-Report und einem Whodunit-Krimi.

Foto: Salzgeber

Sorgfältig und straff ist die Geschichte aufgebaut und sind die dramaturgischen Drehpunkte gesetzt. Das ist kein Wunder: Katie Found, die den Film auch schrieb, besitzt darin ein besonderes Talent. Sie studierte Screenwriting in Melbourne und wurde als Autorin bereits ausgezeichnet. Mit dieser ersten Regiearbeit „Mein erster Sommer“ zeigt sie, dass sie ihre Geschichten auch stimmig inszenieren kann.

Zweite tragende Säule des Films sind die beiden Hauptdarstellerinnen Markella Kavenagh, Jahrgang 2000, als Claudia und Maiah Stewardson, Jahrgang 1998, als Grace. Obwohl beide so jung sind, verfügen sie schon über schauspielerische Erfahrungen. Während Kavenagh vor allem in Serien-Rollen im TV und Streamigdiensten auftrat, ist Stewardson auch das Theater wichtig. Beide können die vielfältigen Facetten ihrer jugendlichen Figuren – Claudia und Grace sind 16 – intensiv ausspielen: Weichheit, Fröhlichkeit, Härte, Traurigkeit, Trauma, sexuelle Lust. Alles gehört bei den beiden zusammen. Der Titel des Films ist Programm: der erste Sommer ihres Lebens ist es natürlich nicht, aber der erste Sommer eines neuen Lebens nach der Kindheit, die so rosig nicht war.




Mein erster Sommer
von Katie Found
AU 2020, 80 Minuten, FSK 12,
englische OF mit deutschen UT

Zur DVD im Salzgeber.Shop

vimeo on demand

VoD: € 4,90 (Ausleihen) / € 9,90 (Kaufen)

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