Pedro Lemebel: Torero, ich hab Angst

Buch

Ein queerer Klassiker aus Lateinamerika neu aufgelegt: Im blau-rosa-weißen Design der Trans-Pride-Flagge und mit entstaubtem Titel kommt die Revival-Ausgabe von Pedro Lemebels „Torero, ich hab Angst“ in der Bibliothek Suhrkamp daher. Die Frischekur soll die Geschichte einer alternden „Tunte“, die im Chile der 1980er Jahre zur Guerillera wird, für eine neue Generation von Lesenden erschließen, nachdem eine wenig geglückte Verfilmung des Stoffs aus dem Jahr 2020 nur auf wenigen Festivals zu sehen war. Marko Martin hat Lemebels subversive Roman-Attacke auf den Machismo der chilenischen Gesellschaft für uns (wieder) gelesen.

Die Tunte von der Front

von Marko Martin

Wie sich die Zeiten ändern! Als vor nunmehr 19 Jahren der Roman des chilenischen Schriftstellers Pedro Lemebel (1952-2015) als Suhrkamp-Taschenbuch auf Deutsch erschien, trug er noch den kitschigen Titel „Träume aus Plüsch“. Nun ist das Buch, in der gleichen fluiden Übersetzung von Matthias Strobel, in der ungleich renommierteren Bibliothek Suhrkamp neu erschienen – diesmal unter dem exakt übersetzten Titel „Torero, ich hab Angst“ (Original: „Tengo miedo torero“). Dieser ist ein Zitat aus einem Schmachtfetzen der sechziger Jahre, in dem die spanische Sängerin Sara Montiel im Paillettenkleid von ihrer Lustangst vor und um einen jungen Stierkämpfer zirpte. Das Lied machte Montiel damals in der gesamten spanischsprachigen Welt populär. Diese „tuntige“ Referenz wählte Pedro Lemebel mit Bedacht – schließlich rechnet er in seiner rasant geschriebenen Thriller-Groteske gleich mehrfach mit dem chilenischen Machismo ab.

Der Autor erzählt die Geschichte aus der Perspektive einer „alternden Tunte der Apokalypse“, einer Anti-Heldin, die im Jahr 1986 die letzten Zuckungen des Pinochet-Regimes miterlebt. Am Anfang gibt sie sich noch ostentativ unpolitisch und versucht in ihrem verstaubten Privat-Boudoir eine Art talmihafte Gegenwelt aufrechtzuerhalten. Denn was sind schon die Zumutungen des repressiven Systems im Vergleich mit dem Terror des Alterns und der Folter der Erinnerungen an eine wilde Vergangenheit, die sich erst bei genauerem Überlegen als eher schmerz- denn lustvoll entpuppt?

In dieser von sehnsüchtigen Boleros und fad gewordenem Flitter ornamentierten kleinen Welt taucht irgendwann ein neuer Wohnungsnachbar auf. Mit ihm ändert sich alles. Zunächst sieht die Protagonistin in dem Studenten Carlos nur den attraktiven jungen Mann, unerreichbar für ihre Façon mürber Erotik, aber womöglich – quizás – dann doch empfänglich für ihr feines Gespinst aus Anspielungen, Ironisierungen und dezenten Lockungen. Carlos freilich, obwohl keineswegs ein tumber Macho, hat gänzlich andere Prioritäten. So befinden sich in den Kisten, die er bei der freundlichen und irritierend sehnsüchtig dreinschauenden Wohnungsnachbarin einlagert, keine Bücher, sondern Waffen. Auch wird bald klar, dass er mit den Freunden, die allabendlich bei ihm ein- und ausgehen, alles andere tut als Universitätskurse vorzubereiten. Es ist der großen Erzählkunst Pedro Lemebels zu verdanken, dass die Lesenden all dies quasi zeitgleich mit der nach Selbsteinschätzung „dümmsten aller Tunten“ erkennen.

Mosaik mit einem Porträt Pedro Lemebels, angebracht an der U-Bahn Station Moneda in Santiago de Chile, @musa_musaico, https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Pedro_Lemebel

Diese bekommt im Kosmos revolutionärer Rhetorik und klandestiner Aktionen zunächst lediglich die Rolle der skurrilen Wohnungsnachbarin, der „nützlichen Idiotin“, zugewiesen. Wie bereits der argentinische Schriftsteller Manuel Puig in seinem Roman „Der Kuss der Spinnenfrau“ (1976) thematisierte, existiert die „natürliche Solidarität der Unterdrückten und Marginalisierten“ aller Propaganda zum Trotz eben nicht per se. Sie muss erst hergestellt werden. Wo Puig einen Transsexuellen und einen linken Aktivisten in einer Gefängniszelle aufeinandertreffen lässt, ist es bei Lemebel ein deutlich zivilisierteres Ambiente. Die Grundkonstellation ist jedoch die gleiche: Es gilt, eine reaktionäre Diktatur zu bekämpfen – denn in Wahrheit planen Carlos und seine Freunde ein Attentat auf Pinochet. In diesem Kampf zählen Nützlichkeitserwägungen mehr als subtile Seelenregungen, auch wenn diese sich selbst unter Extrembedingungen nie gänzlich ausschließen lassen – schon gar nicht, wenn aus der „lächerlichen“ peu à peu die „Tunte von der Front“ wird, eine Komplizin, die sich zwar weiterhin in romantischem oder auch maliziösem Geplapper ergeht, gleichzeitig aber auch die Notwendigkeiten und Usancen hochriskanter Untergrundtätigkeit zu verstehen lernt.

Zum Glück hat Pedro Lemebel, der zu Lebzeiten als kritischer Journalist und subversiver Performance-Aktivist wohl der bekannteste Queer-Künstler Lateinamerikas war, keinen didaktisch drögen Entwicklungsroman im Stil des Sozialistischen Realismus verfasst. Die Politisierung der „Tunte“ ist keineswegs das schwule Gegenstück zur „Mutter“ des homophoben Stalinisten Maxim Gorki. Denn auch Carlos und seine Freunde lernen so einiges von der Wohnungsnachbarin, etwa dass eine Revolution bei beibehaltenem Machismo keine vollständige Befreiung darstellt. An diesem Punkt hätte Lemebel, der sich trotz Kritik an schwulenfeindlichen Partei-Funktionären stets als Kommunist bezeichnete, gut und gern etwas weitergehen und – wie etwa Reinaldo Arenas in seinem beklemmenden Bericht „Bevor es Nacht wird“ – auf die linke Folklore der Che-Guevara-Schwärmerei eingehen können, die immerhin einem homophoben Machtneurotiker gilt, der auf Castros Kuba die Schaffung von brutalen Umerziehungslagern für Schwule und Prostituierte initiierte.

Stattdessen hat in „Torero, ich hab Angst“ der alternde Diktator Pinochet höchstselbst mehrere Auftritte als böse-banal brabbelnder Blockwart, der sich von Verrat und Undank umzingelt sieht. Das Attentat auf ihn findet im Roman schließlich – wie in der historischen Realität – am 7. September 1986 statt. In Wirklichkeit erwies sich der Anschlag der vom chilenischen KP-Generalsekretär Luis Corvalán gegründeten „Frente Patriótico“ als völliger Fehlschlag, bei dem der Diktator unverletzt blieb und an seiner Statt fünf Leibwächter starben, während es dem gefürchteten chilenischen Geheimdienst gelang, in den darauffolgenden Tagen und Wochen zwölf der beteiligten Guerilleros aufzuspüren und illegal hinzurichten. Am Ende wurde Pinochet nicht aus dem Amt gebombt, sondern 1988 per Volksentscheid abgewählt. Die „Front“ verübte derweil während des fragilen Transitionsprozesses weiterhin Anschläge und schwächte damit das demokratische Lager eher als es zu stärken.

Das aber wäre bereits die Geschichte hinter der Geschichte und womöglich ein neuer, ganz anderer Roman. Bei Lemebel endet das Ganze nach dem Attentat mit der gemeinsamen Flucht der „Front-Tunte“ und des „Front-Guerillero“ Carlos nach Valparaiso. Ein offenes Ende, das gleichzeitig hoffnungsvoll und symbolhaft gelesen werden kann. Denn noch immer ist Chile nicht so hundertprozentig stabil wie es dem offiziellen Selbstbild entspricht. So erschütterte Ende März 2012 ein homophobes Hassverbrechen das ganze Land: Nach mehreren Stunden Folter in einem Park der Hauptstadt Santiago starb der 24-jährige Daniel Zamudio an den Folgen seiner Verletzungen. Auf den Demonstrationszügen und  Kundgebungen, die daraufhin im ganzen Land stattfanden, wurden immer wieder Lemebels berühmte Worte aus „Tengo miedo torero“ skandiert: „No hay revolución social, sin revolución sexual.“




Torero, ich hab Angst
von Pedro Lemebel
aus dem Spanischen von Matthias Strobel
216 Seiten, € 23,
Suhrkamp

 

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