Franz Siedersleben: Mein Lebenslauf

Buch

120 Jahre nachdem Magnus Hirschfeld erstmals die „Lebensgeschichte des urnischen Arbeiters Franz S.“ veröffentlichte, kommt die lange vergriffene Niederschrift von Franz Siederslebens schwuler Biografie neu heraus diesmal nicht-anonymisiert und mit umfangreichen Ergänzungen. Der Band „Mein Lebenslauf“ ist nicht nur aufgrund der darin versammelten Zeitzeugnisse eine Besonderheit, sondern auch, weil er der letzte in der Buchreihe Bibliothek rosa Winkel ist, den deren Gründer Wolfram Setz vor seinem Tod vollendete. Benedikt Wolf über ein unverdruckstes Ego-Dokument.

 

Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit

von Benedikt Wolf

Texte der Sexualwissenschaft des 19. Jahrhunderts sind in der Regel empathiefrei. Mitunter begegnet man aber auch einer anderen Sprache – dann nämlich, wenn die Wissenschaft Selbstberichte von Patienten zitiert. In solchen Fällen wird die Sprache der Subjekte hörbar, die Objekt der Wissenschaft geworden sind.

Derartige sogenannte Ego-Dokumente, wie sie die Sexualwissenschaft überliefert, spielen in der Geschichte der Homosexualität eine wichtige Rolle. Besonders bekannt ist ein französischer Fall: Ein anonymer italienischer Homosexueller hatte dem Romancier Émile Zola Briefe geschickt, in denen er sein Leben erzählte und seine Leidenschaften bekannte – und angeregt, Zola könne das Material doch für einen Roman verwenden. Der übergab sie jedoch einer kriminologischen Fachzeitschrift, die sie 1894/95 unter dem Titel „Roman d’un inverti“ veröffentlichte. Bekenntnisse von Perversen, das wird hier nahegelegt, haben das Zeug, nicht nur Stoff für Romane abzugeben, sondern selbst zu Romanen zu werden.

Nicht nur derjenige Teil der Sexualwissenschaft, der eine möglichst genaue und (angeblich) leidenschaftslose Beschreibung mit dem implizit oder explizit mittransportierten Zweck der Eindämmung der Perversionen verband, veröffentlichte in wissenschaftlichen Beiträgen Ego-Dokumente. Die Version der Sexualwissenschaft, die mit der Wissenschaft ein emanzipatorisches Anliegen verknüpfte, schloss an diese Tradition an. „Per scientiam ad iustitiam“, „durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“, war der Leitspruch Magnus Hirschfelds, des großen Sexualwissenschaftlers und Aktivisten der Ersten Homosexuellenbewegung in Kaiserreich und Weimarer Republik. Unter diesen Voraussetzungen bekommt der Einsatz von Ego-Dokumenten einen neuen Wert: Was vorher ein nicht unbedingt erwünschter Nebeneffekt war, dass nämlich die Objekte der wissenschaftlichen Beschreibung selbst zu Wort kamen, wird bei Hirschfeld zum erwünschten Effekt im Rahmen engagierter Wissenschaft.

So veröffentlichte Hirschfeld 1903 in seinem „Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen“ den ausführlichen Bericht über das eigene Leben, den Franz Siedersleben (1867–1908) verfasst hatte. Hirschfeld druckte den Text ab, um seine Argumentation zu untermauern, dass Homosexualität angeboren und nicht – etwa durch Verführung – erworben sei. Nach dem Suizid Siederslebens 1908 veröffentlichte Karl Frey, ein ehemaliger Kollege und Freund des Verfassers, den Bericht unter dem Titel „Mein Lebenslaufmit ergänzenden Texten aus eigener Feder erneut. Diese lange vergriffene Buchpublikation ist nun im Band 81 der Bibliothek rosa Winkel wieder verfügbar.

Kommt man von der Lektüre anderer Texten jener Zeit, die im Kontakt mit den Institutionen der homosexuellen Subkultur und Bewegung entstanden, dann wirkt Siederslebens Text, als würde jemand nach einem langem Traum die Augen aufschlagen: „Als Kind armer Eltern – mein Vater war Schreiner – kann ich auf meine Jugendzeit eigentlich nicht als auf eine goldene Zeit zurückblicken, zumal da meine Mutter frühe starb und wir zwei Brüder, die wir von fünf Geschwistern übriggeblieben waren, bald eine Stiefmutter bekamen.“ So setzt dieser Text ein. Man mag hier durchaus Anklänge ans romantische Erzählen hören, doch zugleich ist das ein Sprechen, das mit den materiellen Gegebenheiten des Lebens zu tun hat. Das hat Folgen für das Sprechen über Sexuelles. Der Text gibt ausführlich Auskunft über die Kindheit und Jugend eines sissy boy, der mit Mädchen spielt und im Haushalt hilft, gegen seinen Willen als Hilfsarbeiter ins Speditionsgeschäft einsteigen muss und sich in seinen (wie sich herausstellt heterosexuellen) Freund Willy verliebt. Siedersleben macht keinerlei Umschweife, wenn es darum geht davon zu sprechen, dass „mir (…) natürlich diese ruhige, platonische Liebe durchaus nicht [genügte]“. Als junger Mann wird er mit einem Liebhaber „bei frischer Tat ertappt“, kommt wegen eines Vergehens nach Paragraph 175 in Untersuchungshaft und wird zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Auch Details über diesen nach Rechtslage kriminellen Akt verhehlt der Autor nicht. So erwähnt er, dass sein Partner bei der Sache „der duldende Teil“ war. Anrührend ist die Geste zärtlicher Solidarität, die die Liebenden vor dem Richter austauschen: „[A]ls wir beide vor der Balustrade nebeneinander standen, um unseren Richtern Rede und Antwort zu stehen, fühlte ich plötzlich seine Hand in der meinen, die er einen Moment zärtlich und verstohlen drückte.“

Siederslebens „Lebenslauf unterscheidet sich deutlich vom Schreiben der Homosexuellen in vielen als Literatur veröffentlichten Texten vom Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts. Ebenfalls in der Bibliothek rosa Winkel sind zum Beispiel unter dem Titel „Edel-Uranier erzählenTexte der Zeit erschienen, die das idealisierend verdruckste Vorbeischreiben am Kern der Sache zum Programm machen und eindrücklich vorführen. Auch in vielen der kurzen Erzählungen, die die erste Homosexuellenzeitschrift der Weltgeschichte „Der Eigene veröffentlichte, ist der Höhepunkt der Annäherung der Kuss, weiter geht es nie. Der Satiriker Felix Rexhausen hat sich 1968 treffend über diese Art Literatur lustig gemacht: sie sei unter der Maxime „Mehr Tränen als Sperma“ geschrieben worden.

Anders als bei den bürgerlichen Protagonisten der Ersten Homosexuellenbewegung war seine Arbeitskraft alles, was der in der Arbeiterbewegung organisierte Franz Siedersleben zu verkaufen hatte. Der Rauswurf als Mitarbeiter des Arbeiter-Turnerbunds 1907 aufgrund des Bekanntwerdens seiner Homosexualität dürfte für ihn der einschneidende Bruch gewesen sein. Danach scheint er, wie der Freund Frey berichtet, nicht mehr Tritt gefasst zu haben im Leben. Der Familienvater – Siedersleben hatte im Rahmen seiner Versuche, die eigene Homosexualität zu unterdrücken, geheiratet und zwei Kinder bekommen – schreibt in seinem Abschiedsbrief, er habe „die Meinen so lieb gehabt, wie es nur immer ein Mensch, wie ich einer bin, vermochte“ und glaube, „daß es für meine Familie das beste sein wird, wenn ich abtrete von den Brettern der Lebenskomödie“.

Wolfram Setz – Foto: James Steakley

In der neuen „Mein Lebenslauf-Ausgabe der Bibliothek rosa Winkel sind neben Karl Freys Buchpublikation von 1908 weitere Texte Siederslebens abgedruckt, darunter zwei kurze Theaterstücke. Die Nähe von Ego-Dokument und Literatur bleibt also auch in diesem Fall gegeben. Den Abschluss des umsichtig editierten Bandes bildet ein Nachwort, in dem Herausgeber Wolfram Setz die Texte durch Erkenntnisse aus eigener Forschung fundiert kommentiert. Setz schließt mit einem Zitat aus einem Siedersleben-Stück: „Unser ist die Jugend, unser ist die Zukunft!“

Mit diesen Worten endet das Buch, das der letzte Bibliothek-rosa-Winkel-Band ist, den Wolfram Setz selbst verantwortete. Im August starb der Historiker im Alter von 82 Jahren. Durch seinen Tod verliert die schwule (Literatur-)Geschichtsschreibung einen engagierten, leidenschaftlichen und äußerst produktiven Protagonisten. Als Herausgeber der Bibliothek rosa Winkel hat Setz seit 1991 über 80 Bände mit zuvor vergriffenen und verschollenen Texten herausgebracht und damit wesentlich dazu beigetragen, dass man sich vom Leben und Schreiben homosexueller Männer verschiedener Epochen in Deutschland ein Bild machen kann. Franz Siederslebens „Mein Lebenslauf ist gleichermaßen im Katalog der Bibliothek rosa Winkel wie im Kontext seiner Entstehungszeit etwas Besonderes – ein Text, der klar sieht, der weder weinerlich ist, noch die Zerstörung des eigenen Lebens durch Homosexuellenfeindlichkeit und die Versuche, die eigenen homosexuellen Regungen zu unterdrücken, beschönigt.




Mein Lebenslauf
von Franz Siedersleben
168 Seiten, € 18,
Männerschwarm Verlag

 

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