Die Spur deiner Lippen

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Eine namenlose Pandemie versetzt ganz Mexiko in einen Lockdown. B-Movie-Schauspieler Román sitzt alleine in seinem Apartment fest. Auf der anderen Straßenseite wohnt Aldo. Die beiden lernen sich online kennen, sie können miteinander reden und sich über Videochats sehen, aber sie können sich nicht berühren. Doch die Sehnsucht, die Lippen des anderen zu spüren, wird immer größer. In seinem neuen Spielfilm zeigt der zweifache Teddy-Preisträger Julián Hernández („Mil Nubes – Liebessehnsucht“, „Raging Sun, Raging Sky“), wie Begehren und Lust gerade im Moment von Einsamkeit und Isolation ins Unermessliche wachsen können. „Die Spur deiner Lippen“ spiegelt dabei nicht nur die sexuellen Erfahrungen von alleinlebenden Menschen während der Covid-Pandemie, sondern auch die Tabuisierung von schwuler Lust während der Aids-Epidemie. Christian Lütjens über eine vielschichtige, erotische Parabel, die die Eigendynamik von Fantasien und Sehnsüchten im Angesicht einer unberechenbaren Weltlage mit ganz eigenen Stilmitteln verhandelt.

Foto: Salzgeber

Geil und gelangweilt

von Christian Lütjens

Anfangs wähnt man sich wortwörtlich im falschen Film. Funky Beats rasseln los, orangefarbene Retro-Credits kündigen „Alerta, Basuras Humanas“ („Achtung, menschlicher Abschaum“) mit einem gewissen Roman Medina in der Hauptrolle an, dann knattern zwei Motorrad-Macker mit Sonnenbrillen ins Bild, die sich als Cops auf Gangsterjagd entpuppen. Einer von ihnen ist Pablo Metralla, ein unverbesserlicher Macho, der selbst bei der Befreiung von Geiseln weder eine schusssichere Weste noch die Deckung des Kollegen nötig zu haben meint und seinen Gegnern mit markigen Kickbox-Posen entgegenspringt. Nicht ohne Erfolg. Die Geiseln werden befreit und die Schurken mit ein paar elegant überchoreographierten Tritten und Schlägen schachmatt gesetzt. Danach steht Pablo Metralla mit geballten Fäusten in der Gangster-Garage und tönt in hehrem Laienspiel-Pathos: „Ihr solltet besser lernen, dass es nicht leicht ist, Pablo Metralla loszuwerden.“

Zu diesem Zeitpunkt sind sechs Minuten vergangen und die anfängliche Irritation kippt endgültig in Belustigung, da ertönt ein „Cut“-Ruf und entlarvt das Schmierentheater als Szenerie am Set eines B-Movies. Die „Geiseln“ werden losgebunden, die Kamera weggerollt und der Take für abgedreht erklärt. Einzig Roman Medina alias Pablo Metralla scheint noch nicht aus seiner Macho-Rolle herausgefunden zu haben und besteht auf einer Wiederholung. „Ich kann es besser“, sagt er und merkt nicht, wie alle im Team hinter seinem Rücken mit den Augen rollen. Doch der Star hat das Sagen. Also alles noch mal von vorne. Wenn auch nur für die Film-im-Film-Crew.

Für das Publikum hingegen fängt nun der eigentliche Film an: „Die Spur deiner Lippen“, das neue Werk von Mexikos Regie-Meister der schwulen Sinnlichkeit und zweifachem Teddy-Gewinner Julián Hernández, aus dessen letztem Film „Ich bin das Glück dieser Erde“ (2014) Roman-Medina-Darsteller Hugo Catalán einigen noch als autoritärer Regisseur bekannt sein dürfte. Die Handlung folgt allerdings zunächst einem der jungen Statisten, die vorher als Geiseln aufgetreten sind. Er heißt Aldo und wird von Mauricio Rico gespielt. Dass er schwul ist, verraten schon nach dem „Cut“ seine begierigen Blicke auf Action-Star Medina sowie sein anschließender Abstecher zu einer Outdoor-Fitness-Anlage in Mexico City, wo er die mit freiem Oberkörper trainierenden Sportler beobachtet. Als ihm ein etwas älterer, ebenfalls starrender Herr auffällt, spricht er ihn an und geht mit ihm in ein Hotel. Dort beginnt das Blitz-Date mit wilder Knutscherei, will aber in erektiler Hinsicht nicht recht in Fahrt kommen, sodass sich der zuvor so forsche Hobby-Casanova erst mal verschämt ins Badezimmer verzieht. In der nächsten Szene treffen wir ihn wieder draußen, wo er mit einem der Burschen von der Fitness-Anlage anbändelt. Auch mit ihm landet er im Hotel.

Schnitt auf eine weitere Begegnung mit dem Älteren von vorher, in der deutlich wird, dass ein paar Monate vergangen sind und sich die Beiden inzwischen regelmäßig als Freier und Escort treffen. Der Ältere warnt den Protagonisten vor der Gewalttätigkeit der Jungs vom Outdoor-Gym – eine Warnung, die sich bei der Weitererzählung der zuvor unterbrochenen Szene mit dem Fitness-Burschen zu bewahrheiten scheint. Jener stellt im Hotelzimmer erst eine Handycam auf, um den Fick zwecks späterer Online-Veröffentlichung zu filmen, und zückt dann ein Messer. Ein rotes REC-Symbol am oberen Bildrand signalisiert, dass wir den Rest der Szene durch die Linse der Handycam verfolgen. Langsam fährt die Klinge über Aldos nackte Haut, die Situation steht sprichwörtlich auf Messers Schneide. Doch es fließt kein Blut. Stattdessen geht es diesmal sehr flott mit der Erektion und dem Sex. Der vermeintliche Gewalttäter macht alles bereitwillig mit – wenn auch nicht, ohne danach Aldos Brieftasche zu mopsen. Dann wieder Schnitt zurück zum zweiten Date mit dem Freier, das der Jüngere diesmal selbstbewusst mit einem routinierten Strip in Gang bringt.

Foto: Salzgeber

In dieser zweiten Exposition skizziert Hernández einerseits die persönliche und sexuelle Entwicklung seiner Hauptfigur und führt andererseits das manipulative Spiel mit den Publikumserwartungen in die nächste Runde. Da geht der Sex erst in die Hose, um dann zum Geschäft zu werden, Aktiv- und Passiv-Klischees werden verkehrt, die Grenzen zwischen Geilheit und Pflichterfüllung verwischen. So fängt der Regisseur in nur wenigen Minuten die Tücken und Widersprüche einer schwulen Großstadt-Existenz ein, bei der Unschuld und Schlampentum, Verletzlichkeit und Dominanz, Lust und Gewalt nicht nur nah beieinanderliegen, sondern sich gegenseitig bedingen. Was alledem zugrunde liegt – die Sehnsucht nach Nähe – thematisiert der Rest des Films in einem zugespitzten Szenario, das die Grenzen zwischen Fantasie und Realität nach und nach aufhebt.

Der Zwischentitel „Tag 1“ markiert den Beginn der Haupthandlung. Während Aldo in einem Supermarkt jobbt, kommt es zum unerwarteten Wiedersehen mit Roman Medina. Der kauft in dem Geschäft ein, würdigt seinen einstigen Statistenkollegen allerdings keines Blickes. Während er bezahlt, läuft im Fernseher über der Kasse eine News-Sendung, die vom Ausbruch einer sich rasant verbreitenden Epidemie berichtet, die im chinesischen Wuhan bereits erste Todesopfer gefordert hat. Die Anwesenden nehmen es zur Kenntnis, mehr aber auch nicht. Vor allem Roman Medina hat andere Sorgen, als sich über ein abstraktes Virus im fernen Asien Gedanken zu machen. So erleben wir den eitlen Filmstar als nächstes bei einem ziemlich explizit inszenierten Sex-Date, an dessen Rand herauskommt, dass er sich Feigwarzen weggeholt hat und einen fragwürdigen Umgang mit der Infektion pflegt. Damit ist die Macho-Karikatur, als die die Figur in der Eröffnungssequenz auftritt, auf ein sehr menschliches Maß zurechtgestutzt und endgültig der Weg zur Kernerzählung geebnet.

Foto: Salzgeber

An „Tag 80“ hat das Virus aus China auch Mexiko mit Macht eingeholt. Wohnviertel werden abgeriegelt, Straßensperren errichtet, öffentliche Fieber- und Ausweis-Checks durchgeführt. Bei einer Anwohner-Kontrolle kommt es zur zweiten zufälligen Begegnung von Aldo und Ramon, womit klar ist, dass die beiden im selben Viertel leben. Ein Umstand, der ein Dreivierteljahr später („Tag 365“) in der Erkenntnis mündet, dass ihre Wohnungen direkt gegenüberliegen und sie einander beim Blick aus dem Fenster ins Wohnzimmer gucken können. Inzwischen regiert draußen ein rigider Lockdown, bei dem jede Person, die ungenehmigt die Wohnung verlässt, von Sondereinsatzkräften mit Maschinenpistolen gejagt und verhaftet wird. „Geil und gelangweilt“, wie er ist, hat Aldo die Situation genutzt, um sich ein gutgehendes Geschäft als Online-Stripper aufzubauen, während Roman unter Lockdown-bedingter Job-Flaute und Geldnot leidet. In dieser Extremsituation beginnen die Beiden eine sexuelle Beziehung auf Distanz. Sie chatten, Facetimen, haben leidenschaftlichen (Video-)Telefonsex, beobachten sich gegenseitig von Fenster zu Fenster. Die räumliche Nähe befeuert den Wunsch nach einer physischen Zusammenkunft. Doch die ist verboten. So mündet das Verlangen mit der Zeit in immer dringlicheren erotischen Tagträumen. Oder sind es gar keine Träume …?

Sexuelle Sehnsüchte und die (kreativen) Kräfte, die sie freisetzen, waren schon immer ein zentrales Thema in den Arbeiten von Julián Hernández. Dieses Motiv zieht sich von seinem 2003 mit einem Teddy ausgezeichneten Langfilmdebüt „Mil Nubes“ über das 2009 ebenfalls Teddy-gekrönte „Raging Sun, Raging Sky“ bis hin zur sinnlichen Tänzer-Ballade „Ich bin das Glück dieser Erde“. Da sich Hernándezʼ Stoffe stets nah an den Debatten und Entwicklungen der Gegenwart orientieren, verwundert es nicht, dass er die Erfahrungen unter COVID in einem seiner Werke verarbeitet. Aber er wäre nicht der Filmemacher, der er ist, wenn er die Herausforderungen der Pandemie-Monate ohne künstlerische Filter verarbeitet hätte. So wird COVID in „Die Spur deiner Lippen“ nie eindeutig beim Namen genannt, während die Einschränkungen der Lockdown-Maßnahmen zu einer Art dystopischem Sci-Fi-Szenario mit Endzeit-Atmosphäre verdichtet werden.

Foto: Salzgeber

Als Gegenpol zu den menschenfeindlichen Lebensbedingungen fungiert die sehr unmittelbare Darstellung von Körperlichkeit und Sex. Dabei blitzt mal die Ästhetik der Erotik-Thriller aus den Neunzigerjahren auf, dann wieder die Selfmade-Optik der Onlyfans-Gegenwart, vor allem aber viel nackte Haut der Hauptdarsteller Mauricio Rico und Hugo Catalán. So ist „Die Spur deiner Lippen“ ein überaus pralles und nicht unbedingt homogenes Paket aus Schauwerten, unterschiedlichsten Themen und filmischen Stilmitteln. Dass kreative Freiheiten Hernández oft wichtiger sind als narrative Logik irritiert zuweilen, ist aber letztendlich schlüssig. Einer Geschichte, die die unberechenbare Eigendynamik von Fantasien und Sehnsüchten im Angesicht einer unberechenbaren Weltlage verhandelt, steht ein gewisses eigenes Maß an Unberechenbarkeit gut zu Gesicht. Letztendlich macht der Film das Gleiche mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit, was die Eröffnungsszene mit dem Genre der B-Action-Filme macht: Bekannte Motive werden überhöht, Fakten dramatisiert, Theorien ins Fantastische weitergesponnen. Zum Schluss wird das Stilmittel des gezielten Bruchs mit den Publikumserwartungen noch mal voll ausgereizt und zu einem doppelt drastischen Finale getrieben. So bleibt die „Die Spur deiner Lippen“ am Ende nicht nur als Titelgeberin an der Fensterscheibe von Roman Medina zurück, sondern hinterlässt auch im Kopf der Zuschauenden eine Schneise der Nachdenklichkeit.




Die Spur deiner Lippen
von Julián Hernández
MX 2023, 80 Minuten, FSK 16,
spanische OF mit deutschen UT

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