Knochen und Namen

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Jetzt im Kino: Boris und Jonathan sind seit vielen Jahren ein Paar, haben sich aber nicht mehr viel zu sagen. Schauspieler Boris vergräbt sich immer tiefer in die Proben zu einem neuen Film mit der ambitionierten Regisseurin Jeanne und vermischt dabei reale und fiktive Charaktere. Jonathan versucht seine Stimme als Schriftsteller neu zu definieren. Durch die Tage des Ringens um Distanz, Nähe, Vertrauen, Verlangen und Verlustangst geistert Jonathans kleine Nichte Josie. Fabian Stumm erzählt in seinem fein gewebtem Langfilmdebüt von der tatsächlichen und möglichen Abwesenheit der Anderen. Cosima Lutz über einen zugleich herzzerreißend traurigen und wahnsinnig komischen Film, bei dem immer, wenn Wahrheit offenbar werden könnte oder tatsächlich offenbar wird, Kaffee ins Spiel kommt.

Foto: Salzgeber

Letzte Brücken

von Cosima Lutz

In John Hustons Klassiker „Misfits – Nicht gesellschaftsfähig“ von 1961 erklärt die von Marilyn Monroe verkörperte Tänzerin Roslyn, warum sie sich scheiden lassen will: Ihr Mann habe zwar im Alltag neben ihr gesessen, „aber er war nicht da“. Wenn das ein Scheidungsgrund sein solle, entgegnet ihre Freundin trocken, dann blieben in ganz Amerika noch elf Ehepaare übrig. Zu ihrem Ex sagt Roslyn die finalen Worte: „Wenn ich schon einsam bin, dann will ich es wenigstens allein sein“.

Mit „Knochen und Namen“ hat der Schauspieler und Regisseur Fabian Stumm eine Art tragikomische Meditation zu diesem Wortwechsel gedreht. In seinem Langfilmdebüt über zwei Männer, deren Beziehung an einem toten Punkt angekommen ist, probiert er immer wieder einfache Situationen, Dialoge und Tätigkeiten aus, die um die reale oder mögliche Abwesenheit des Anderen kreisen. Sie sind meist alltäglich und stehen doch in verwandtschaftlicher Beziehung zu etwas Lauterem, „Schreiendem“, wie es einmal heißen wird. Das macht dem Schriftsteller Jonathan, genannt Joni (Knut Berger), Angst, so wie es Monroes Roslyn Angst macht: dass der geliebte Mensch „nicht richtig da“ ist. Weil er nicht weiß, dass er – oder man selbst – von einem Moment zum nächsten wirklich und für immer fort sein könnte.

Dazu passt der Titel, ein barockes memento mori, ausgesprochen von einem, der mit Särgen sein Geld verdient: „Wissen Sie“, sagt der Bestatter (Godehard Giese) zu Joni, der gerade zu den Themen „Tod, Verlust, Loslassen“ recherchiert: „Am Ende sind wir doch alle nur Knochen und Namen. Wir gehen so, wie wir gekommen sind“. Kurz darauf brummt aus einem geschlossenen Sarg heraus der Vibrationsalarm eines Mobiltelefons. Der darin liegt, nimmt den Anruf entgegen. Klopft, bittet, herausgelassen zu werden und steht auf.

Natürlich lag Joni nur aus Recherchegründen in der Kiste, das sei „ein bisschen wie ins Bett gehen“, hatte er seine Beklommenheit weggewitzelt. Aber so gesehen gibt es sie, die Auferstehung. Das Kino kokettiert hier wunderbar lapidar mit seinem Ruf als Wunsch- und Angsttraumerfüllungsmaschine. Und mit seiner Herkunft aus dem Slapstick.

Jonis Freund Boris, gespielt von Fabian Stumm selbst, probt derweil mit der Regisseurin Jeanne (Marie-Lou Sellem) für einen Film. Darin stellt er einen Mann dar, der zwischen seiner Frau und einem jungen Mann steht (Tim, gespielt von Magnus Mariuson). Der Ausbruchswunsch, im Realen wie im Spiel, bricht sich leise Bahn. Zugleich stellt sich heraus, dass die Regisseurin eine Art Re-Enactment ihrer eigenen Geschichte veranstaltet. Manchmal blickt sie geistesabwesend an die Decke. Und wenn ein Moment der Wahrhaftigkeit gelungen ist, sagt sie, jetzt wäre ein Kaffee recht.

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Je länger „Knochen und Namen“ in ruhigem Rhythmus Tableau an Tableau reiht, desto schwereloser und heiterer verhandelt der Film seine Fragen. Mag der Alltag voller Abschiede und Lücken sein: unter dem Vergrößerungsglas des Kinos sind sie nicht nur herzzerreißend traurig, sondern auch komisch. Könnten sie es dann nicht auch im Realen sein? Angesichts des unausweichlichen Endes werden Ausbrüche (aus Beziehungen, Gepflogenheiten) zu Kinderstreichen und Schabernack.

Gespiegelt wird das Koboldhafte, das durch diesen Film spukt, durch jene Figur, mit der sich der Regisseur, wie er sagt, am meisten identifiziert: die kleine Nichte Josie (Alma Meyer-Prescott). Josie ist lustig, tanzt gern, liebt Taylor Swift, klaut in der Drogerie Apfelshampoo und legt zusammen mit der viel braveren Freundin am Telefon Menschen herein. Das vorpubertäre Mädchen, seit ein paar Jahren im Kino prominent vertreten („The Quiet Girl“, „Five Devils“, „Petite Maman“), erinnert an einen Weltzugang, den es bei den meisten Menschen irgendwann einmal gegeben haben mag: Alles, auch das Unheimliche und Unmögliche, nimmt es ernst genug, um mehr oder weniger bedeutsamen Quatsch damit zu machen.

Als Josie wieder einmal etwas angestellt hat und von Onkel Joni abgeholt werden muss (der Anruf im Sarg), liegt sie am Morgen danach auf der Seite des Bettes, auf der sonst Boris liegt. Der ist weg, für eine Nacht oder für immer. Die statische Kameraperspektive ist dieselbe wie vorher, das anwesende Kind und der abwesende Partner überblenden sich in der Erinnerung. Ist der, den man liebt, nicht auch immer noch das Kind, das er mal war?

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Menschen und Möbel arrangieren Stumm und sein Kameramann Michael Bennett vor zumeist weißen Wänden, die wenige Ankerpunkte bieten wie Kindheitsfotos, das Bild einer Abbruchkante einer Steilküste, ein touristisches Griechenland-Werbeplakat oder Tuschezeichnungen. Von der ersten, im Nachhinein als Film-Probe kenntlich gemachten Szene an, werden Bett, Esstisch und Arbeitszimmer, von den Figuren mehr oder weniger unbemerkt, zu ständigen Probebühnen für das Einüben der gefürchteten und ersehnten Abwesenheit.

Beide Männer erweitern ihre Probenarbeit in ihren jeweils allein unternommenen Tätigkeiten. Etwa wenn Helen (Anneke Kim Sarnau) im Café ihrem Freund Joni von der „doppelten Trauer“ um ihren Expartner erzählt, von dem sie sich kurz vor dessen Unfall getrennt hatte. Oder wenn ein älteres Paar (Ruth Reinecke und Ernst Stötzner) frontal in die Kamera vom Umgang mit einem Todesfall im Freundeskreis berichtet. Zwar geht es dabei um die Angst vor dem Einbruch der Realität –und dass die Brücken zur Kindheit abreißen. Am Ende der grandiosen Szene stellen Mann und Frau jedoch kichernd fest, eigentlich noch ganz „die Alten“ zu sein, „Halbstarke“,  „Kinder“. Sie sind einander die Brücke zum jungen Ich. Nicht zufällig endet ein Gespräch von Joni und Boris nach einem gemeinsamen Kinobesuch von Helmut Käutners „Die letzte Brücke“ mit genervtem Schweigen. Man hatte die Frage diskutiert, ob Maria Schell nun rührselig spiele oder nicht. Wie die beiden da die nächtliche Berliner Straße herunterschlendern: zwei Stadtneurotiker, nur ohne die Hektik Woody Allens.

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Es geht in „Knochen und Namen“ auch um die (konkurrierenden) Lieben zum Theater und zum Kino. Auch mit diesen könne man eine „toxische Beziehung“ führen, sagt die Regisseurin Jeanne einmal. Und auch hier stellt sich manchmal die Frage: Trennung oder Festhalten?

Dass sie seit mehr als zwanzig Jahren mit ihrem heutigen Mann zusammen sei, sagt in einer Probenpause Boris’ Schauspielkollegin Carla (Susie Meyer) zu ihm, sei „peinlich, oder?“. Boris findet es hingegen „schön“. Es ist vielleicht dahingesagt. Oder das, wonach er sich sehnt. Stumms zurückgenommenes Spiel lässt beide Möglichkeiten zu. Spätere Generationen werden sich vielleicht einmal darüber wundern, dass es eine Zeit gab, in der sich Menschen für langjährige Beziehungen schämen konnten.

„Knochen und Namen“ wäre keine Komödie, würde der Film nicht auch die Komik des Einander-Verfehlens zelebrieren. Boris holt sich genau in dem Moment einen Kaffee, als Joni in einem Radiointerview ihm seine Liebe gesteht und seinen Wunsch, ihn nicht zu verlieren. Die Botschaft geht ins Leere. Wann immer Wahrheit offenbar werden könnte oder tatsächlich offenbar wird, kommt in diesem fein gewebten (und sorgsam gebrühten) Film Kaffee ins Spiel.

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Die Essenz aber ist Brot. Neben Tims Bett liegt ungelesen Heinrich Bölls „Das Brot der frühen Jahre“. Die 1961 von Herbert Vesely verfilmte Erzählung (der Film lief 1962 in Cannes) handelt von einem jungen Mann, der in den Nachkriegsjahren so viel Hunger litt, dass er später, als er sich teure Restaurants leisten kann, immer noch darauf besteht, frische Brötchen mit den Händen aufzubrechen. Das lange Entbehrte, und sei es für andere noch so banal, beharrlich und ausdauernd wertzuschätzen: nichts köstlicher als das.

Die Geringschätzung des schon lange Dauernden und die Feier der Befreiung daraus schreiben das Skript vieler Liebesfilme und unzähliger Beziehungs-Küchengespräche. Fabian Stumm bestreitet gar nicht deren Berechtigung, versucht aber etwas Anderes. Er erzählt, über die Figuren und ihre kargen One-Liner, aber auch über Alltagsnahrung, vom kaum hinterfragten Umgang mit demjenigen, das immer verfügbar scheint und einen Menschen am Leben hält. Als Metapher für die Liebe, möglicherweise.




Knochen und Namen
von Fabian Stumm
DE 2023, 104 Minuten, FSK 12,
deutsch-französische OF mit deutschen UT

Ab 18. Januar im Kino