In memoriam: Irm Hermann (1942-2020)

Die große deutsche Schauspielerin Irm Hermann ist tot. Ihre frühe Karriere ist aufs Engste mit Rainer Werner Fassbinder verknüpft, mit dem sie 20 Filme drehte, Theater machte und eine Zeit lang ein Paar war. Nach Fassbinders Tod arbeitete sie u.a. mit Ulrike Ottinger, Herbert Achternbusch, Loriot –  und immer wieder mit Christoph Schlingensief. Andreas Wilink erinnert in seinem Nachruf an eine Künstlerin, die sich furchtlos in den Dienst ihrer Regisseur*innen stellte. Und an Hermanns eindrücklichste Rolle: die der stumm liebenden und souverän leidenden Dienerin Marlene in „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“ (1972), in der sich ihre ambivalente Beziehung zu Fassbinder spiegelt wie in keiner anderen Figur.

„Die bitteren Tränen der Petra von Kant“ – Foto: Screenshot / „Best of Rainer Werner Fassbinder“-Box / Studiocanal

Die furchtlose Dienende

von Andreas Wilink

Was ist ein Klischee? Eine sehr verkürzte Wahrheit, vielleicht. Irm Hermann hat ein Klischee bedient, indem sie es aufbrach, oder hat, umgekehrt, ein Klischee aufgebrochen, indem sie es bediente und hat in der Hülle eine – unangenehme – Wahrheit gefunden: die vom Triumph der Unterdrückten. Sie hat diese Wahrheit gemeinsam mit dem Regisseur Rainer Werner Fassbinder gefunden, dessen gesamtes Werk einer condition humaine Opfer-Täter-Verhältnisse auf den Kopf stellt und schmerzhaft zurechtrückt. Nicht immer wurde das verstanden (erinnert sei an den Skandal des Films „Schatten der Engel“, der Gerhard Zwerenz’ Roman „Die Stadt, der Müll und der Tod“ adaptierte).

Der grell leuchtende Kristall, in dem diese Wahrheit sich bricht, heißt als Film „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“ und Irm Hermanns Figur darin Marlene. Das war 1972 und ihr neunter oder zehnter Film mit dem Genie des Neuen Deutschen Films, dem „Bauer von Babylon“, wie ihn jemand genannt hat. Marlene, der Name, der wie eine Liebkosung klingt und in der Welt aus Zelluloid sogleich eine Assoziation aufruft: jener übergroßen Marlene – Dietrich, der Schönen, Glorreichen, Mondänen, Unnahbaren. Und nun Irm Hermann in einem kaum mehr Kontrast möglich machenden, freilich nicht weniger unnahbaren, Gegenbild: als Untergebene, ständig anwesende Bedienstete und Gedemütigte, die die Launen und Posen der sensitiven, hysterischen, in unseliger Liebe der jüngeren Karin (Hanna Schygulla) verfallenen Modemacherin Petra von Kant (Margit Carstensen) stumm erduldet.

In dieser Kammerspiel- und Laborsituation, ausgestattet wie ein mit giftigen Pflanzen bewachsenes künstliches Paradies, nimmt Fassbinder Gefühle unter die Lupe, ambivalente Gefühle von Liebe, Hass, Eifersucht, Begehren, Abhängigkeit. Der Terror der Liebe mit seinen Mechanismen von Unterdrückung, Ausbeutung und Käuflichkeit findet in dem artifiziellen Terrarium dieser kultivierten weiblichen Bestien sein ideales Klima. Als die völlig aufgelöste Petra von Kant ihrer porzellanpuppenhaften, blassen Magd ein Verhältnis anträgt, das dem zu Karin gleicht, die sich ‚emanzipiert’ hat, geht Marlene: Ihr ist nicht gelegen an einer solchen Beziehung von Gleich zu Gleich. In dem sublimen Verhältnis von Herrschaft und Knechtschaft, von Sadismus und Masochismus bestimmt der Masochist bzw. die Masochistin die Spielregel und legt die Grenze fest. Diese Konstellation durchläuft in Fassbinders Werk viele Variationen, um in „Martha“ (mit Margit Carstensen) ihren Höhepunkt zu erreichen. Die bitteren Tränen lassen sich nur durch einen Satz trösten und trocknen: „Man muss lernen zu lieben, ohne zu fordern.“

Irm Hermann, 1942 geboren, wuchs auf in einem kleinbürgerlichen Elternhaus, in dem sie sich fremd fühlte und das sie früh floh, um für etwa zwei Jahre nach Paris und London zu gehen, bevor sie eine Ausbildung zur Verlagskauffrau machte und u.a. als Sekretärin arbeitete. In München stieß sie auf die Gruppe um Fassbinder. Gleich zu Beginn, 1966, war sie in dessen zehnminütigen Kurzfilm „Der Stadtstreicher“ dabei, sodann in „Liebe ist kälter als der Tod“ und „Katzelmacher“, beide von 1969, mit denen es Fassbinder zur Berühmtheit brachte und Irm Hermann zum Filmband in Gold des Deutschen Filmpreises.

Am Firmament von RWFs Frauenfiguren – wie kein zweiter Regisseur des Neuen Deutschen Films war er ein Regisseur der Frauen – war sie ein Fixstern, als Antistar neben der somnambulen, aber durchsetzungswilligen Schygulla, der komplizierten, gespensterhaften Carstensen, der rebellischen Ingrid Caven, schließlich der ungezügelten „Lola“ Barbara Sukowa und der neurotisch leidenden „Veronika Voss“ Rosel Zech.

In der kleinbürgerlichen Wohnküche, in der – von Ödön von Horváth und Marie-Luise Fleißer her – das Gemeine, engherzig Herabsetzende, eben das Kleinkarierte, daheim ist, war Irm Hermann gewissermaßen die böse Königin. In einem rot-weiß gemusterten Kleid steht sie am Tisch und knetet Hackfleisch, das die signalhaft gleiche Farbe hat wie ihr Kostüm. So bearbeitet sie als Irmgard auch das bald tote Fleisch ihres Mannes Hans Epp (Hans Hirschmüller) in „Händler der vier Jahreszeiten“ (1971), Fassbinders erster Antwort auf Douglas Sirk und dessen Hollywood-Melodramen, auf die er dann 1973 mit „Angst essen Seele auf“ das Pendant zu Sirks „Was der Himmel erlaubt“ folgen lässt: wiederum mit Irm Hermann in einer ähnlichen Rolle als schmallippige Ehefrau und Schwiegertochter. Prüde, garstig und mit einer Stimme, die auf der Höhe des spitzig Pikierten balanciert.

Dieses aus Frustrationen und ihrer Umwandlung in passive Aggression montierte Frauenbild hatte mit Irm Hermann rein gar nichts zu tun, außer als Echo aus Kindheitstagen. Sie war humorvoll, großzügig, wagemutig, künstlerisch autark und loyal. „Schlappherzigkeit“, wie es bei Lichtenberg heißt, war ihre Sache nicht. Sie kämpfte gegen das verabscheute Lebensmodell, indem sie es verkörperte. Auch wenn es sie in den Rollen bei Fassbinder einengte, womit sie zunehmend weniger froh wurde.

Die (auch private) Begegnung mit Fassbinder, der sie vor die Kamera holte und auf die Bühne brachte, war für sie Befreiung, Erweckung und bestandene Mutprobe. Davon erzählt sie in dem von Juliane Lorenz herausgegebenen Interviewband „Das ganz normale Chaos“ (1995, Henschel Verlag): dass er sie als erster Mensch überhaupt ernst genommen und etwas in ihr gesehen habe, dessen sie sich zu der Zeit noch gar bewusst gewesen sei. „Es war aber auch eine gegenseitige Faszination, da war schon ein gemeinsames Feuer.“ Sie zogen und lebten zusammen, für eine kurze Weile.

Irm Hermann, die u.a. noch mit Ulrike Ottinger, Herbert Achternbusch, Hans W. Geißendörfer, Percy Adlon und Bernhard Wicki drehte, fand an Frank Castorfs Berliner Volksbühne und im Hamburger Schauspielhaus einen Ort: in den Wartesälen des Lebens, überdimensionierten Amtsstuben, geräumigen Abstellkammern, geschlossenen Schaltern des Schicksals, die Anna Viebrock für Christoph Marthaler baut. In diesen Behausungen für antriebsschwache, abgelegte Menschen gehörte sie zu den Sonderlingen, zum Club der Verirrten und Verwirrten, allesamt sanfte Zwangsneurotiker, stille Anarchisten, die sich der Logik des Handelns und der Normierung entziehen, die ihren Verrichtungen nachgehen, wegkippen, zusammenklappen, abdriften, sich niederlegen. Der Welt abhanden gekommen, scheinen sie sich zu verwundern über die Regungen ihrer Körper, deren Mechanik und deren Ausrutscher.

Und Irm Hermann traf einen zweiten Fassbinder: in Christoph Schlingensief, dem sie sich – wie ihre Kollegin Margit Carstensen – ganz zur Verfügung stellte und den sie von ähnlichem Furor angetrieben und von ähnlicher Lebensenergie gespeist fand. Sie durfte bei ihm rasend komisch und voll toller Wut sein. Wie Fassbinder wurde auch Schlingensief nicht alt. „Keine Angst mehr vor dem Fremden in mir“, lautete ein Satz in Christoph Schlingensiefs letzter Theater-Produktion „Kirche der Angst“. Ihn hätte auch Irm Hermann sagen können, die mit 77 Jahren gestorben ist.


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