In memoriam: Larry Kramer (1935-2020)

Buch

Larry Kramer hat es weder seinen Feinden noch Freunden leicht gemacht. Der US-amerikanische Schriftsteller war nicht nur ein leidenschaftlicher Kämpfer für die Rechte der Gay Community, sondern vor allem einer der entscheidenden Initiatoren des Aids-Aktivismus in den USA. Nun ist Larry Kramer, der Mitbegründer von ACT UP und Autor des legendären Romans „Schwuchteln“ (1978) sowie des Theatermeilensteins „The Normal Heart“ (1985), im Alter von 84 Jahren gestorben. Axel Schock ruft ihm nach.

Foto: David Sharkbone

Der Unruhestifter

von Axel Schock

Diplomatie und Rücksichtnahme waren seine Sache nicht. Dafür hatte Larry Kramer keine Zeit. Denn es ging um sein Leben und um das von Zehntausenden anderer HIV-infizierter Menschen in den USA. „I am going to go out screaming so fucking rudely that you will hear this coarse, crude voice of mine in your nightmares!“, brüllt er in Rosa von Praunheims Dokumentarfilm „Positiv“ (1990) anderen schwulen Männern entgegen. „You are going to die, and you are going to die very, very soon unless you get up off your fucking tushies and fight back!“

Wie so viele Menschen der LGBT-Community in den 1980er Jahren hatte Kramer unzählige Freunde, Liebhaber und Kollegen durch Aids verloren und das Leid miterlebt, welches durch die Epidemie verursacht wurde. Kramer aber hat seine Trauer nicht in Ohnmacht, sondern in Wut verwandelt. Und aus dieser unbändigen Wut bezog er seine Energie, bis ins hohe Alter. Mit 84 Jahren ist Larry Kramer nun in seiner Wahlheimat New York City gestorben.

Wut, Widerstand und Kampf waren elementar in seinem Leben und so verwundert es nicht, dass diese Begriffe in keinem Nachruf auf Larry Kramer fehlen. Für sein leidenschaftliches Engagement hat er auch immer wieder selbst Prügel einstecken müssen – sei es im Kampf für die Gleichberechtigung der Homosexuellen oder gegen die Gleichgültigkeit und das Nichtstun von Politik, Pharmaindustrie und auch der eigenen Community zu Beginn der Aidskrise.

Dabei hätte der 1935 in Bridgeport, Connecticut, geborene Kramer ein ruhiges Leben als gefeierter Autor führen können. Nach seinem Abschluss an der Elite-Universität Yale hatte er zunächst für Columbia Pictures in London gearbeitet und dann als Produzent für United Artists. Mit seinem Oscar-nominierten Drehbuch für Ken Russells „Liebende Frauen“ (nach dem Roman „Women in Love“ von D. H. Lawrence) nahm 1969 seine Karriere Fahrt auf.

Doch spätestens mit seinem ersten und einzigen Roman „Schwuchteln“, der in den USA unter dem Titel „Faggots“ im Jahr 1978 erschien, hatte Kramer seine zukünftige Rolle definiert: Seine folgenden Theaterstücke, Essays und Sachbücher verstand er immer auch als aufklärerisch-emanzipatorische Schriften, die die Menschen im Idealfall aufregen, aufrütteln und zum Handeln bewegen sollten. In „Schwuchteln“ schildert Kramer, wie sich die Schwulenszene New Yorks ein knappes Jahrzehnt nach Stonewall mit einem von promisken Sex und Drogen bestimmten hedonistischen Lebensstil begnügt. Mit seiner zynischen Demontage der eigenen Community machte sich Kramer keineswegs nur Freunde, sein Roman, der erst 2011 in deutscher Übersetzung erschien, gilt aber längst als Meilenstein der US-amerikanischen gay literature.

Nur wenige Jahre später erfüllte Kramer seine Rolle als Störenfried und Unruhestifter erneut. In seinem längst legendären Aufsatz „1,112 and counting“, der 1983 in knapp 20 US-Schwulenmagazinen gedruckt wurde, beklagte er das fatale Desinteresse der Community angesichts der neuen Erkrankung, die damals noch „Gay-related Immune Deficiency“ genannt wurde. Kramer hat allerdings nicht nur zum Handeln aufgefordert, sondern auch selbst gehandelt. So initiierte er mit einer kleinen Gruppe weitsichtiger und tatkräftiger Menschen 1982 in New York mit der Gay Men’s Health Crisis (GHMC) die weltweite erste HIV-Selbsthilfe- und Beratungsorganisation. In Artikeln warnte und mahnte er die schwule Community, in Fernsehinterviews geißelte er in drastischen Worten die Tatenlosigkeit der Stadtregierung, die von der Epidemie nichts wissen wollte – trotz der stetig steigenden Zahl an Toten.

Beinahe zwangsläufig wurde Kramer so auch eine der treibenden (und oft umstrittenen) Kräfte bei ACT UP New York. Seine Reden und Aufsätze führen zu seinem 1989 erstmals veröffentlichten Band „Reports from the Holocaust: The Making of an AIDS Activist“. Der Buchtitel allein war Provokation und Statement zugleich. „In gewisser Weise ist der Holocaust, wie für viele jüdische Männer aus Larrys Generation, ein entscheidender historischer Moment“, verteidigte Dramatiker Tony Kushner („Angels in America“) Kramers Gleichsetzung. „Was in den frühen 1980er-Jahren durch Aids ausgelöst wurde, fühlte sich für Larry wie ein Holocaust an, und ein solcher war es tatsächlich auch.“

Anerkennung erhielt Kramer aber auch von Menschen, die er selbst sehr hat angegangen hat. Zum Beispiel von Dr. Anthony Fauci, Direktor des US-amerikanischen National Institute of Allergy and Infectious Diseases, der von Kramer für die späte Reaktion der Regierung auf die HIV-Epidemie verantwortlich gemacht und als „inkompetenter Idiot“ und sogar als „Mörder“ bezeichnet wurde. Der Infektiologe, der heute als Regierungsberater in Sachen COVID-19 erneut im Rampenlicht steht, sieht Kramers besonderen Verdienst darin, dass durch die Aidsaktivist_innen „die medizinische Behandlung in die Hände der Patienten gelegt“ wurde.

Auch literarisch setzte sich Kramer mehrfach mit den Auswirkungen der HIV/Aids-Epidemie auf die Betroffenen wie die Community auseinander und verarbeitete dabei seine eigenen Erfahrungen als HIV-Positiver wie als Aktivist. Sein Stück „The Normal Heart“ (1985) war eines der ersten Theaterstücke zu Aids überhaupt, und mit weltweit mehr als 600 Inszenierungen zudem international erfolgreich. Fast 20 Jahre später wurde es von Ryan Murphy für HBO mit Starbesetzung – u.a. mit Mark Ruffalo, Matthew Bomer, Julia Roberts und Taylor Kitsch – verfilmt. Das Drehbuch schrieb Kramer selbst und wurde dafür mit einer Emmy-Nominierung geehrt,

„The Normal Heart“ erzählt von den Reaktionen auf die Aidskrise in New York City zu Beginn der 1980er Jahre aus der Perspektive einer Hilfsorganisation. Der Schriftsteller Ned Weeks, einer der Gründungsmitglieder, eckt mit seiner radikalen Haltung immer mehr an. Durch seinen Aufruf an die schwule Community, auf die Promiskuität angesichts der Gefahren zu verzichten, und durch seine Attacken auf die Geldgeber in der Stadtverwaltung gerät Ned immer mehr ins Abseits – und wird nach einem Streit aus der Organisation ausgeschlossen. Ähnlichkeiten mit Kramers Erfahrungen in der GMHC sind alles andere als zufällig. 1992 schrieb Kramer in „The Destiny of Me“ die Geschichte seines Dramenhelden weiter. Ned ist inzwischen selbst an Aids erkrankt. Seine Todesangst und sein Überlebenswille werden zu den Triebkräften seiner Gegenwartsbewältigung, die – dramaturgisch von Kramer elegant gebaut – zu einer Selbsterkundung der eigenen (homosexuellen) Biografie wird.

Die letzten Jahre hat Kramer die amerikanische Geschichte einer sehr eigenen, eigenwilligen und – wenig verwunderlich – sehr provokanten Neubetrachtung unterzogen. In seinem über 1600 Seiten starken zweibändigen Werk „The American People: A History“ outete er nicht nur amerikanische Leitfiguren wie Abraham Lincoln, Benjamin Franklin, Alexander Hamilton und Richard Nixon als homosexuell, sondern beschrieb die USA auch als eine Nation, die verseucht sei von Gier, Hass und Bigotterie.

Angesichts der Corona-Pandemie sah sich Kramer zurückversetzt in die Zeiten von Aids in den 1980er Jahren. „Die Regierung hat bei Aids schrecklich agiert und agiert bei dieser Sache schrecklich. Man fragt sich, was aus uns werden wird“, äußerte er sich Ende März in einem Artikel der „New York Times“. Diesem Versagen und der Ungerechtigkeit des Todes müssten die Menschen erneut mit Wut begegnen. Und es müsse jemanden geben, der diese Wut in produktive, kämpferische Bahnen lenkt. „Ich wünschte, ich könnte es sein“, sagte Kramer mit Bedauern.

Larry Kramer verfolgte die Entwicklungen rund um COVID-19 in New York City zusammen mit seinem Ehemann, dem Architekten David Webster, von der gemeinsamen Wohnung in Manhattan aus. Die wochenlange Selbstisolation setzte ihm zu, ließ ihn aber nicht tatenlos werden: Kramer hatte begonnen, ein Theaterstück über das Zeitalter von COVID-19 zu schreiben. Im Zentrum steht eine Gruppe schwuler Männer, die drei Plagen durchleben müssen: erst die Aids-Epidemie, dann den langsamen altersbedingten Zerfall ihres Körpers und schließlich die Corona-Krise. Larry Kramer war sich bewusst, dass er dieses Werk vielleicht nicht mehr zu Ende bringen könnte. Das Drama mit dem Titel „An Army of Lovers Must Not Die“ wird nun zu seinem Vermächtnis. Am 27. Mai ist Larry Kramer 84-jährig an einer Lungenentzündung gestorben – jedoch nicht an COVID-19, wie Kramers Freund und Verleger Willi Schwalbe gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters betonte.

Photo of Larry Kramer by David Sharkbone
CC BY 2.0, creativecommons.org/licenses/by/2.0




Schwuchteln
von Larry Kramer
Aus dem Amerikanischen von Peter Peschke
Gebunden mit Schutzumschlag, 416 Seiten, 12,95 €,
Bruno Gmünder Verlag

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