Édouard Louis: Wer hat meinen Vater umgebracht

Buch

„Literatur muss kämpfen“, sagt Édouard Louis, „für all jene, die selbst nicht kämpfen können“. Sein erster, autobiographischer Roman „Das Ende von Eddy“ (2014), der in Frankreich und Deutschland zum Bestseller wurde, ist nicht nur das mitreißende Dokument der Selbstbefreiung eines jungen schwulen Mannes aus prekären Verhältnissen; es ist, ähnlich wie Louis‘ zweites Buch „Im Herzen der Gewalt“ (2016), ein energischer Text gegen eine homo- und xenophobe französische Gesellschaft, die von kaum überbrückbaren sozialen Barrieren durchsetzt ist. In seinem neuen, gerade mal 80 Seiten dicken Buch geht Louis nicht mehr nur im eigenen Leben, sondern auch in dem des Vaters auf Spurensuche: Woher kam die Gewalt, die diesen erfüllte; wieso wählte der Vater die letzten Jahrzehnte stramm den Front National; inwieweit haben die sozialen Verhältnisse gar zu seinem allzu raschen körperlichen Verfall beigetragen? In der Nachfolge seiner intellektuellen Leitfigur Didier Eribon („Rückkehr nach Reims“) entdeckt Louis in seiner soziologischen Analyse den eigenen Vater noch einmal neu – und entwickelt so für sich die Möglichkeit, um ihn zu trauern. Andreas Wilink über eine wütende und höchst persönliche Protestnote.

Die Entmachtung der Ohnmacht

von Andreas Wilink

Keine Frage. Kein Zweifel. Das Fragezeichen fehlt. Denn die Frage stellt sich nicht. Der Sachverhalt liegt klar. Beim Titel des Buches von Edouard Louis handelt es sich um eine Aussage. Und um eine Anklage – das hat Tradition in der französischen Literatur. Wir haben das „J’accuse“ im Ohr, mit dem Émile Zola das Urteil gegen den jüdischen Hauptmann Alfred Dreyfus zum Skandal des französischen Staates und seiner Gesellschaft erklärte. Verleumdung und Verbannung vernichteten einen Unschuldigen. Wo Zolas Verdikt 1898 den Antisemitismus traf, richtet sich Louis’ Protestnote und literarisches Pamphlet gegen den Verrat an der Arbeiterklasse – erzählt als persönliche Geschichte.

Gleichwohl wäre es eine Fehleinschätzung, diesen schmalen Band als soziologische Studie zu lesen. „Wer hat meinen Vater umgebracht“ ist vielmehr doppelte éducation sentimentale, die des Sohnes und die seines Vaters. Ein einziger großer Monolog des Édouard Louis, gerichtet an ein stumm bleibendes „Du“.

Nicht nur, weil Louis ihn an einer Stelle zitiert, steht im Hintergrund der Soziologe Didier Eribon. Dessen „Rückkehr nach Reims“ (2009), sein auch in Deutschland vieldiskutiertes Buch über Ursachen für die affektive Hinwendung der traditionell linken bzw. kommunistischen Arbeiterschaft zum Front National (Eribon spricht von „negativer Selbstaffirmation“), ist im gleichen Atemzug Recherche der eigenen Identitätsbildung. Eribon leistet – auch darin gleicht ihm  Louis – analytische und emotionale Erinnerungsarbeit, um die „Gegend meiner selbst“, wie er mit Jean Genet sagt, zu erforschen. Manche Sätze sind zwischen beiden Texten nahezu austauschbar und lesen sich wie ein heimliches Zwiegespräch. „Mein Erfolg bemaß sich an der Distanz, die ich zwischen ihn (den Vater) und mich legen konnte.“ So Eribon, Lehrer und Freund von Louis, der es nicht anders hätte sagen können.

Eribon (Jahrgang 1953) hat sich – ebenso wie Louis – aus seinem Milieu gelöst, um die Preisgabe der eigenen Herkunft. Nur durch radikale Abkehr konnten sie zu dem werden, die sie sind: Akademiker, Intellektuelle, virtuos das Spiel der Selbsttechniken beherrschende Homosexuelle. Die Sublimierung kostet etwas: Distanz zum Herkommen, Inferioritäts-Gefühle, die Schuld der Verleugnung.

Édouard Louis – Foto: Jerome Bonnet / modds

Édouard Louis, geboren 1992 in einem Dorf der Picardie und mit seinem Befreiungsschlag, dem Debütroman „Das Ende von Eddy“, berühmt geworden, den er als 22-Jähriger publizierte, geht einen ähnlichen Weg. Gewidmet hat er seine Vater-Erzählung dem frankokanadischen Filmemacher und Schauspieler Xavier Dolan. Dessen erster aufrührerischer Film, „J’ai tué ma Maman“ mit einem symbolischen Muttermord, korrespondiert hier mit dem Zorn gegen den sozialen Missbrauch am Vater. Das neoliberale System hat den Defekt in die westlichen Demokratien implantiert. Wer trägt die Schuld? Die Verhältnisse!

Der Sohn gräbt mit seiner „konfrontativen Literatur“ neuerlich nach den Wurzeln: „Meine Erinnerungen sind erfüllt von dem, was es nicht gegeben hat“. Es ist ein aus Splittern montierter Text, geschrieben aus dem Defizit und der Negation: des Vaters, dem es an Bildung und Besitz, an Möglichkeiten, an sprachlichem Ausdruck mangelte; des Sohnes, dem der schweigende, kranke, körperliche geschundene Vater lange fremd blieb, um dessen Aufmerksamkeit und Liebe er sich bemüht, den er in seiner Kraft und Wehrhaftigkeit bewundert, dessen „Männlichkeitswahn“ er gefürchtet hatte, zumal sein eigenes männliches Ich dazu in Widerspruch stand. Während der Heranwachsende an der normativen Kraft der Majorität zu scheitern droht, erfährt er jetzt mehr als Akzeptanz, erfährt die Achtung seitens des Vaters, auch und gerade als schwuler Mann. So dass er ihm mit zärtlicher Zuneigung begegnen kann. Louis konstruiert Momente der Empathie, wie aus dem Gefrierschrank vereister Gefühle entnommen, die endlich auftauen. Trauer, zu spät? Oder gerade noch rechtzeitig? Das bleibt offen.

Das als Brief verfasste Vater-Porträt ist ein kunstvoll kunstloser „Schrei“ und geformt wütendes „De Profundis“ über den Verlust eines Lebens in Würde, über einen Akt der Zerstörung, deren Verantwortliche Louis beim Namen nennt, von Chirac über Sarkozy und Hollande bis Macron, und über normative Urteile, die Andere über ein Menschen-Ich fällen: Weiße über Schwarze, Reiche über Arme, Männer über Frauen, Heteros über Schwule, die Elite über Unterprivilegierte. Im Frankreich der „Gelbwesten“-Bewegung und eines seltsam feudalen Republik-Verständnisses öffnet sich so noch ein anderer Resonanzraum. Noch einmal, nach dem Tugendterror Robespierres, erlebt die französische Gesellschaft das Scheitern der Aufklärung und die Opferung des Einzelnen bzw. der Beherrschten im Namen des etatistischen Prinzips.

Gleichzeitig – Louis weiß das – setzt er auch mit diesem imponierenden Aufruf, der auf seine sexuelle Exegese „Im Herzen der Gewalt“ folgt, die Machtverschiebung fort, die als „Rache“ an den Eltern und für Brutalität und Demütigung begann. Da ist noch das Echo von „Eddy“ anwesend: mit der verzehrenden Arbeit in der Fabrik, fettem Essen, dem unablässig laufenden Fernseher, mit Aggressivität, Alkohol, Rassismus, Gruppenzwang, Männerriten. „Das Ende von Eddy“ – eine Jahrhunderterzählung, weit über 100 Jahre nach „Tonio Kröger“ – ist dreierlei: hochreflektierte Selbstanalyse, fast Selbstbezichtigung; präzise Milieustudie; und drittens: Nachruf auf jemanden, den es nicht mehr gibt, den früheren Eddy Bellegueule, der einen neuen politischen Körper gefunden hat, seinen Newlook.

Nekrolog ist das Vater-Buch eben auch. Darin zeigt der Autor, wie sich die Beziehung zum Vater neu definiert, wie das Gefälle sich umgestaltet, das frühere Vater-Ego sich zersetzt. Wie sich Fragmente einer Sprache der Liebe anders zusammensetzen. Und noch ein Aspekt. Heute ist der Sohn, der als Kind voller Angst und umgeben von Leere war, der Herr der Rede. Er schreibt dem Vater, der in seinem Veränderungswillen Vorurteile überdenkt und ablegt, etwas zu. Über ihn wird gesprochen. Aber gut ist, dass gesprochen wird. Und so gesprochen wird: ein Paternoster mit revolutionärem Feuer.




Wer hat meinen Vater umgebracht

von Édouard Louis
Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel

Gebunden, 80 Seiten, 16 €,
S. Fischer Verlag

 

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