Andrew Sean Greer: Mister Weniger

Buch

Die titelgebende Hauptfigur in „Mister Weniger“ ist ein Enkel all der großen Schelmengestalten der Weltliteratur, seien es Simplicius Simplicissimus, Don Quixote, Peer Gynt oder Wyatt und Billy in „Easy Rider“. Andrew Sean Greer, der für den Roman im vergangenes Jahr mit dem Pulitzer Prize ausgezeichnet wurde, hat sich aber nicht einfach nur ein paar moderne Episoden ausgedacht, sondern lässt die Erzählweise selbstreflexiv werden und unterläuft so gängige Genre-Erwartungen. Wie er das tut und warum das so komisch und unbedingt preiswürdig ist, erklärt Tobias Völker.

Weniger ist mehr

von Tobias Völker

„Von meiner Warte aus wirkt die Geschichte von Arthur Weniger gar nicht so schlimm“ – mit diesem Satz beginnt das Buch, das 2018 den Pulitzer Prize gewonnen hat, den wichtigsten amerikanischen Literaturpreis, der Werke auszeichnet, die in herausragender Art und Weise gesellschaftliche Entwicklungen in den USA beschreiben, amerikanische Befindlichkeiten, „American Life“, wie es in den Statuten heißt. Was der Roman „Mister Weniger“ (Originaltitel: „Less“) beschreibt, ist die Midlifecrisis eines Homosexuellen, der als Schriftsteller und Liebhaber „immer nur mittelmäßig“ war. Warum also ist seine Geschichte „gar nicht so schlimm“?

Die Handlung ist schnell erzählt: Arthur Weniger wird fünfzig, sein neuer Roman wurde vom Verlag abgelehnt, und sein deutlich jüngerer Liebhaber, mit dem er sich immer einig war, dass eine offene, unverbindliche Beziehung für sie das Beste wäre, heiratet plötzlich einen Andern. Als die Einladung zur Hochzeit eintrudelt, will Weniger nur noch weg und nimmt wahllos Einladungen von obskuren Literaturfestivals und Writers-in-Residence Programmen an, die im Folgenden zu Stationen eines grotesken Selbsterkundungstrips rund um den Globus werden.

Einer der überraschenden und zugleich absolut entwaffnenden literarischen Zaubertricks, die der Autor einsetzt, besteht darin, alles, was man gegen das Buch einwenden könnte, selbst den Menschen in Wenigers Umgebung in den Mund zu legen. „Ein weißer mittelalter Mann, der mit seinen weißen mittelalten Sorgen durch die Gegend läuft? Tut mir echt leid, aber es fällt mir schwer, Mitleid mit so einem Typen zu haben – auch wenn er schwul ist“, sagt eine lesbische Freundin über den Protagonisten von Wenigers neuem Buchprojekt. Und sein Agent begründet die Ablehnung des Manuskripts damit, es sei „zu schwermütig, zu bitter. Diese Ein-Spaziergang-durch-die Stadt-Bücher, diese Ein-Tag-im Leben-Geschichten. Ich weiß schon, Autoren lieben so was, aber …“

Tatsächlich beschreibt Greer, wie „Mister Weniger“ hätte werden können, wie er ihn aber auf gar keinen Fall schreiben wollte. Deshalb schickt er Weniger, anstatt ihn selbstmitleidig durch San Francisco laufen zu lassen, auf Weltreise und konfrontiert ihn auf seiner Flucht vor sich selbst mit Menschen, die auf die gleichen Fragen ganz andere Antworten finden oder in ihm eine ganz andere Persönlichkeit erblicken als er selbst. So heißen die Kapitel denn auch „Weniger mexikanisch“, „Weniger italienisch“, „Weniger deutsch“, „Weniger französisch“ und so weiter.

Andrew Sean Greer – Foto: Kaliel Roberts

An den ersten beiden Stationen seiner Reise, in Mexiko City und Turin, ist Weniger noch zu sehr damit beschäftigt, seine anstürmenden Erinnerungen im Zaum zu halten, um sich ernsthaft auf die kulturellen Besonderheiten seiner Umgebung einzulassen. In den nächsten beiden Kapiteln setzt die innere Entwicklung des Protagonisten ein. Berlin, „dieser wunderbare Schrottplatz einer Stadt“, bietet die optimale Kulisse dafür. Weniger soll hier einen fünfwöchigen Kurs in kreativem Schreiben geben, und da er seine Deutsch-Kenntnisse maßlos überschätzt, kommt es zu vielen wirklich lustigen Wortwechseln, die in der Übersetzung Tobias Schnettlers derartig brillant komisch rüberkommen, dass man sich unwillkürlich fragt, ob das im englischen Original auch so gut funktioniert hat. Die Studenten jedenfalls finden ihren Kauderwelsch redenden amerikanischen Dozenten zum Niederknien. Einer von ihnen, ein Sportstudent – Weniger hält ihn zunächst aufgrund seiner dunklen Haut und lockigen Haare für einen Nordafrikaner, dabei ist er Bayer – ist so von unserm Helden angetan, dass er eine Affäre mit ihm anfängt. „Now entering the American Sector“, murmelt er jedes Mal vor dem Sex.

Von den Berliner Nächten verjüngt, bricht Weniger auf, um sich seinem fünfzigsten Geburtstag zu stellen. Auf einer Party in Paris, einem Zwischenstopp auf dem Weg nach Marrakesch, hat Weniger zwei Begegnungen, die kurz erwähnt werden sollen, weil sie schön zeigen, wie fein der Autor die Balance zwischen satirischen und unverhohlen romantischen Momenten austariert. Erst trifft er auf einen Schriftsteller, der ihm erklärt, der Grund, weshalb er es nie in den „Kanon“ geschafft habe, liege nicht darin, dass er ein „schlechter Schriftsteller“ sei, sondern ein „schlechter Schwuler“: „All die Jahre hat Weniger geglaubt, er sei einfach nur ein schlechter Autor. Ein schlechter Liebhaber, ein schlechter Freund, ein schlechter Sohn. Offensichtlich ist die Lage noch schlimmer. Er ist schlecht darin, er selbst zu sein.“ Als Weniger noch dabei ist sich von dem Schock zu erholen, spricht ihn ein hübscher Südländer an, der verstohlen mit ihm flirtet. Javier ist ebenfalls 49 Jahre alt und meint: „Komisch fast fünfzig zu sein, was? Ich habe das Gefühl, als hätte ich gerade erst verstanden, wie man jung ist.“ „Genau“, erwidert Weniger. „Das ist wie am letzten Tag in einem fremden Land. Man hat endlich herausgefunden, wo man Kaffee bekommt und ein Steak, und wo man was trinken gehen kann. Und dann muss man abreisen. Und wird nie wieder zurückkommen.“ So stehen also diese beiden nicht mehr jungen Männer auf einem Balkon über den Gassen von Paris, beide wissend, dass sie „bald abreisen und nie wieder zurückkommen“ werden, und während sie reden, entfaltet sich auf magische Weise „eine mögliche Liebe, in dieser möglichen Nacht“.

Und dann also Marokko. Die US-amerikanischen Literatur hat eine lange Tradition von Romanen, in denen die Sahara als Ort der Selbstfindung, aber auch der Selbstauflösung imaginiert wird. Greer zitiert diese Fantasien einer verrätselten, latent gefährlichen Welt mit einem Augenzwinkern. Die Teilnehmer der mehrtägigen Kameltour, die Weniger gebucht hat, erkranken einer nach dem anderen und müssen zurückgelassen werden, so dass nur drei Personen im Wüstencamp ankommen: Weniger, sein alter Freund Lewis und die glamouröse, unverwüstliche Britin Zohra. Für Arthur Weniger hegt der Himmel über der Wüste vor allem das Versprechen, in größtmöglicher Entfernung von seinem Alltag – und seinem frischvermählten Ex – den runden Geburtstag zu überstehen. Zohra wird einen Tag vor ihm ebenfalls Fünfzig, und so sitzen sie im Zelt, während draußen der Sandsturm heult, und unterhalten sich über das Älterwerden und die Trennungen, die sie alle drei gerade hinter sich haben. Zohra ist wütend und verletzt – etwas, das sich Weniger nie getraut hat –, und Lewis hat sich nach zwanzig Jahren einvernehmlich von seinem Freund getrennt – etwas, das Weniger nicht versteht. Als schließlich sein Geburtstag anbricht, ist Weniger allein mit dem arabischen Guide, der seine Beduinenkluft ablegt und sich als höchst gebildeter Mann herausstellt, sieben Sprachen beherrschend und ein großer Fan von Wenigers Roman „Kalypso“. Weniger fragt sich, wie er es schafft, „die Welt immerzu so falsch zu verstehen?“

In Japan schließlich kulminiert die Handlung in einer Szene, die die surreale Beklemmung eines Alptraums hat. Weniger wird in einen schlichten Raum geführt, nur Bastmatten und Papierwände, und ein blind gewordenes Fenster, hinter dem die Landschaft wie in einem Zerrspiegel erscheint. Und dann klemmt die Tür, und Weniger wird aufgefordert, die Papierwand des Raums, der plötzlich zur Zelle wird, zu durchschlagen. Wird er den Mut dazu aufbringen?

Andrew Sean Greers Mister Weniger ist auf den ersten Blick mit all seinen Neurosen kein wirklich sympathischer Charakter. Aber indem er ihm alles Tragische austreibt und ihn stattdessen zum Narren macht, der das Leben mit einer Art verzweifelter Selbstironie angeht, gewinnt sein Held an Liebenswürdigkeit und vor allem Menschlichkeit. „Mister Weniger“ ist also eine Komödie – brillant, pointiert, stilistisch elegant und mit genau der richtigen Mischung aus Coolness und leicht abgespreiztem kleinen Finger. Wie der Autor es versteht, noch aus dem billigsten Kalauer komische Funken zu schlagen, ist tatsächlich absolut hinreißend. Der eigentliche Grund aber, warum Mister Weniger ein derartig gutes Buch ist, liegt darin, dass es Greer gelingt, seinem Helden inmitten all seiner Pannen und Missgeschicke immer wieder Momente großer Emotionalität und überraschender Einsicht zu schenken. Gerade weil der Text so leichtfüßig daherkommt, bietet er den richtigen Resonanzraum für Gedanken und Gespräche auch über die schwierigen Themen: Altern, Verlassenwerden, Angst vor dem Scheitern. Solche Gespräche finden auf Wenigers Reisen bei zufälligen Begegnungen an unwahrscheinlichen Orten statt, mit Menschen, die sich viel zu ernst nehmen – findet jedenfalls Weniger. Ob im Berliner Nachtclub oder in der arabischen Wüste – Weniger ist der reine Tor, der sich in Kulturen verirrt, die er nicht versteht, und in denen er gerade deshalb sich selbst und am Schluss, als er fast verzagt, sogar den Heiligen Gral der Liebe findet. Wie Andrew Sean Greer das alles erzählt, das ist schon großes Kino!




Mister Weniger

von Andrew Sean Greer
Aus dem Amerikanischen von Tobias Schnettler

Gebunden, 333 Seiten, 22 €,
S. Fischer Verlag

 

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