Stephan Phin Spielhoff: Der Himmel ist für Verräter

Buch

Heinrich Heine schrieb über die Liebe: „Es ist eine alte Geschichte, und ist doch immer neu“. Und die Literaturgeschichte beweist seitdem, wie recht er hatte. Die allerneuste „alte Geschichte“ stammt von Stephan Phin Spielhoff. Menschen mit Berufen, die es vor 20 Jahren noch nicht gab, erfinden sich ihre eigene Welt, ein irres Mosaik aus ganz Neuem und ziemlich Altem, und mitten drin, quasi als Kontrastmittel, die Freude und der Schmerz der Liebe. Spielhoff, Jahrgang 1983, lässt sich sprachlich auf die Welt ein, von der er erzählt, in einem bunten Mix aus Deutsch, Englisch und Internetsprech. Michael Sollorz, Jahrgang 1962, hat sich dem Text in einem Selbstversuch ausgesetzt und ist beeindruckt. Tipp für alle Berliner*innen: Am Donnerstagabend stellt Spielhoff seinen Roman persönlich in der Buchhandlung Hundt Hammer Stein (Alte Schönhauser Straße 23-24) vor.

Über Generationen

von Michael Sollorz

Freuen wir uns, denn es muss sie wohl immer wieder geben, die Bücher übers Erwachsenwerden, bis ans Ende der Menschheit wird man sie schreiben. Je schwieriger die Wegfindung, desto interessanter die Geschichte. Keineswegs bringt das Coming-of-Age-Genre immer große Literatur hervor, aber gebraucht wird es umso mehr, von den Jungen in ihrem Bedürfnis nach Vergleich und Abgrenzung, und von vereinzelten Alten, die sich erinnern möchten und wissen wollen, wie es dem Nachwuchs geht. Zu letzteren Lesern zählt sich der Verfasser dieser Zeilen, und in diesem Sinne las er «Der Himmel ist für Verräter» mit Staunen und Gewinn.

„Ein Portrait des Künstlers als junger Mann“ (1916) von James Joyce oder „Der Fänger im Roggen“ (1951) von Jerome D. Salinger, klassische Beispiele jugendlicher Selbstbefragung und Sinnsuche, werden heute noch verstanden in weiten Teilen der Welt. Sie berichten von der Drangsal des Heranwachsens, und zugleich erfahren wir von den Besonderheiten ihrer Entstehungszeit und -umgebung. Das trifft genauso zu auf Stephan Phin Spielhoffs Roman, obwohl seine Helden die dramatische Schwelle zur 30 bereits deutlich überschritten haben. Was aber ist das für eine Altersgruppe? In der Deckung väterlicher Schecks überflutet sie die einstmals so stille Mauerstadt Berlin, insbesondere den einstigen Arbeiterbezirk Friedrichshain, wo nun auch Spielhoff lebt, ein gebürtiger Bremer des Jahrgangs 1983. Generation Y werden die heute 18- bis 38jährigen häufig genannt, laut einer Definition der Heinrich-Böll-Stiftung „die erste Generation in westlichen Gesellschaften, die ohne Systemalternative aufgewachsen ist, nach den großen Ideologien“. Und weiter: „Als Generation Y [WHY] wird ihr nachgesagt, sinnerfüllende Arbeit und Freizeit mit einem hohen Maß an sozialer Sicherheit verbinden zu wollen. In den Augen dieser Generation scheint alles eine Frage der individuellen Prioritätensetzung zu sein. Leben diese jungen Menschen damit einen Traum, den bereits frühere Generationen träumten, ohne ihn verwirklichen zu können? Oder handelt es sich nur um die neueste Form eines Kapitalismus, der Non-Konformismus, Weltoffenheit und Technikaffinität braucht? Und wie wirkt sich die Dialektik von hohen Sinnerwartungen im Arbeiten einerseits und dem Rückzug ins private Freizeitglück andererseits auf das politische Leben aus?“

Stephan Phin Spielhoff – Foto: Paprikas

Kaum dem elterlichen Nest entkommen, schon das „private Freizeitglück“ im Blick? Schlittern diese Kinder aus der Pubertät gleich in die Midlife-Crisis? Im Roman lässt der Autor seine Mittdreißiger wie einen antiken Chor über sich selber Auskunft geben: „Ich würde es Müdigkeit nennen. Aber das ist es ja nicht. Es ist eher eine penetrante Erschöpfung, weil ich glaube, dass ich etwas falsch mache, was alle andern automatisch hinkriegen.“ Das steht gut, wie es da so steht. Überflüssigerweise hängt Spielhoff eine Pointe dran: „Und ich weiß nicht, was es ist, aber es hat damit zu tun, dass sie Rote Beete essen und im Fitnessstudio Mirror Selfies schießen.“

„Der Himmel ist für Verräter“ erzählt von den Ernüchterungen und Blessuren, die das Erwachsenwerden mit sich bringt. Im Mittelpunkt steht Fitz von Lilienthal, Spross aus betuchtem Hause und vom Erfolg verwöhnter Kampagnen-Schöpfer in der hippen Werbe-Welt. Er lebt mit Freund Marek, einem aufstrebenden Jung-Architekten in Berlin, ein Yuppie-Traumpaar im „bourgeoisen Hipster-Chic“. Doch eines Tages schmeißt Fitz seinen Job in der Werbung hin. Ein Aussteiger? Immerhin nutzt er weder Facebook, noch Twitter oder Instagram. „‚Ich bin nicht nostalgisch‘, sagt Fitz. ‚Ich verweigere mich.'“ Und er steigt auch nicht aus, sondern ringt sich die erste Staffel einer Fantasy-TV-Serie ab, einen massigen Packen Papier, voller Herzblut. Damit bearbeitet er ein Trauma aus Teenager-Tagen, das plötzliche Verschwinden seines ersten Geliebten. Und siehe, sein Stoff zündet in der gläsernen Etage eines Privatsenders. Mit der kleinen Einschränkung: „Eine schwule Hauptfigur ist ganz einfach auf dem deutschen Markt nicht zu machen.“ Und Fitz lässt sich kaufen. Das Drehbuch wird heteronormativ geschliffen, die Serie produziert und ein Hit. Später, vertrauter mit den Schattierungen des Verrats, sagt Fitz: „Ich habe immer wieder das Gefühl, dass aus mir jemand geworden ist, den ich selbst nicht leiden kann.“

Überhaupt steckt der junge Mann bis zum Hals im Morast narzisstischen Selbstzweifels. „Ich war mir nicht ganz sicher, wer ich eigentlich bin.“ Auch der Welt geht es nicht gut, es klingt vage an, und Mitschuld wird empfunden. „Und dieses schlechte Gewissen wird durch Langeweile angereichert. Es ist ein endloses Déjà-vu. Nicht einfach austauschbar, sondern längst erlebt. Jede Bewegung ist schon getan, für die Zukunft erneut geplant, bis in alle Ewigkeit und seit Anbeginn der Zeit.“ Man möchte ihn in den Arm nehmen und trösten. Steht Fitz für seine Generation? „Er sucht in der Menge etwas, an das er sich halten kann. Etwas aus seiner Erinnerung. Wenn jemand es nicht besser wüsste, müsste man fragen, wie viele Menschen Fitz gerade ist. Wo sind die Demarkationslinien zwischen einem Menschen, der er war, einem, der er eventuell gerade ist, einem, der er gern wäre, einem, wie sie ihn gern hätten…“ Wer bin ich und wenn ja, wie viele? So heißt der Bestseller eines beliebten TV-Philosophen. Auch Spielhoff hat in diesem Fach seinen Master, und noch ist ungewiss, ob es seiner Prosa künftig dienen wird. «Fitz sieht sich nicht, nicht sich. Nur Versionen von sich, die über Mobiltelefone an Satelliten überspielt werden und wieder zurück an andere Endgeräte.» Leben in empfundener Simulation – auch ohne technischen Kram ein traditionelles Künstler-Thema, die Sehnsucht nach dem Echten. „Ich ist ein anderer“ hieß es beim dichterischen Wunderknaben Arthur Rimbaud, der so jung starb und bemerkenswerterweise vorher schon vom Schreiben abließ. Kurzum, Fitz leidet – und er nervt. Nicht zufällig schimpft sein bester Freund Ferdinand: „Du weißt gar nichts, du bist scheiße, nur ein kleiner Junge.“

Noch ist nicht alles aus einem Guss, formal wie gedanklich, und es verärgern totgeborene Sätze. „Das alles erklärt er Marek ausführlich, der es nicht gewohnt ist, dass sein Freund offen über seine Motivationen und Gefühle spricht.“ Oder „Es war nicht nur dieser Schmerz eines Teenagers, sondern die Indifferenz der anderen.“ Solcher Umgang mit Sprache ist ein Verrat, der gewiss nicht in den Himmel gehört. Dabei bietet Spielhoffs Debüt bereits genügend Momente, die seine Begabung zeigen. Berührend fühlt er sich ein in die tiefe Erschütterung, die eine Trennung auslöst. Auch satirische Töne werden probiert, Comedy-Tricks, wenn es etwa um die Fernsehleute geht, die ganze alberne Semi-Realität aus „Blog-Scheiß“, Shitstorm, Tweeds und Likes, das liest sich lustig. Vor allem fängt sein Buch das Aroma des Jungseins ein, indem es den wilden Wust aus Fühlen und Denken auspackt, flotte Sprüche und Larmoyanz, all das Verspielte und Todernste, Fröhlichkeit und die tiefste Verzweiflung. Unbedingt sympathisch auch: „Fitz trinkt zu viel. Er trinkt meistens zu viel, wenn er anfängt zu trinken. Das High soll nicht enden, nicht jetzt.“ Und schließlich funkelt da die herrliche Schilderung einer durchgemachten Nacht, das gloriose Drogen-Glück, der Party-Rausch unermüdlichen Beisammenseins, die Heimfahrt im Taxi, die Vor-dem-Fick-Euphorie bei Tagesanbruch. „Hier ist, wo sein Leben und das Leben, das er immer haben wollte, zusammenkommen.“

Zum Glück scheut der Autor auch Albernheiten nicht, und um es ihm gleichzutun, bemühen wir einen Schlager, der seit den 1930er Jahren seinen festen Platz im homosexuellen Herzalbum besitzt, „So oder so ist das Leben“. Mögen also Zarah Leander, Brigitte Horney oder Hilde Knef ihrem Ur-Urenkel Fitz die einfache Weisheit zurufen: „Du musst entscheiden, wie du leben willst, nur darauf kommt’s an. Und musst du leiden, dann beklag dich nicht, du änderst nichts dran.“

Als überraschend seine verschwundene Jugendliebe wieder auftaucht, gerät die Ordnung im Hause Fitz aus den Fugen. In der Frage des Seitensprungs herrscht bei dem jungen Paar eine sonderbare Biederkeit, als hätte es die Ausrufung der freien Liebe nie gegeben, trainierte nackte Popos auf unseren bunten Paraden, die sexuelle Kameradschaft nachbarschaftlicher Netzwerke schon lange vor dem Internet. Doch, dunkel erinnern wir uns, es war einmal eine sogenannte Schwulenbewegung, und darin eine besonders biestige Horde, die beharrte auf den avantgardistischen, wenn nicht revolutionären Gehalt ihrer kollektiven Erfahrung. Alles Bürgerliche würde weggesprengt! Schnee von gestern. Heute heiraten wir, und das ist zunächst auch gut so. Schimmert noch irgendwo ein Utopia? Die Liebe ohne Leiden, sicher doch, beileibe auch nicht neu.

Schlussendlich ein kluges Finale. Fitz am Morgen, mutterseelenallein auf den leeren Straßen. Alles aus und vorbei, und dennoch geht wieder die Sonne auf über der großen Stadt, in die es so viele zieht, um sich ganz neu zu erfinden. Eines ist sicher: Wir werden nicht bleiben, wer wir sind, keiner von uns. Spielhoffs Romanende ist zum Heulen schön. Hier findet sein Buch plötzlich zur Ruhe und atmet, schwebt. Schmerz, Ahnungen, Einsicht, eine Transzendenz entsteht, die hinüberzuführen scheint in etwas Neues. Wir müssen das Loslassen lernen. Jedenfalls eine helle Freude, und der Leser hofft, dass Stephan Phin Spielhoff dort weitermacht.




Der Himmel ist für Verräter

von  Stephan Phin Spielhoff
Broschiert, 230 Seiten, 18 €,
Albino Verlag

 

11.4., 20 Uhr: Buchpremiere und Lesung mit Stephan Phin Spielhoff, Buchhandlung Hundt Hammer Stein, Alte Schönhauser Straße 23-24, Berlin

 

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