Border

Trailer Kino

Die Grenzbeamtin Tina ist die Beste in ihrem Job, denn sie hat eine besondere Fähigkeit: Sie kann bei anderen Menschen Angst, Scham und Wut wittern. Weil diese Begabung sie ihren Mitmenschen gegenüber aber auch fremd sein lässt, lebt Tina zurückgezogen und einsam in einer Hütte im Wald. Doch dann begegnet sie Vore, der ihr nicht nur auffallend ähnlich sieht, sondern bei dem ihre Fähigkeit auch an eine Grenze stößt, selbst wenn sie ahnt, dass er etwas verbirgt. Vores Wildheit, die ihr merkwürdig vertraut vorkommt, zieht sie magisch an. Als er sein Geheimnis preisgibt, hat das auch für Tinas Leben weitreichende Folgen. Nachdem „Border“ bereits letztes Jahr in Cannes als eine der großen Entdeckungen des Festivals gefeiert wurde und mit dem Preis der Nebensektion „Un certain regard“ ausgezeichnet wurde, ist Ali Abassis abgründiges queeres Märchen jetzt endlich auch in den deutschen Kinos zu sehen. Dennis Vetter über einen fantastischen Film, der seine Zuschauer*innen kühn über Genre- und Identitätsgrenzen hinweg auf einen Pfad ungeahnter Erkenntnisse führt.

Foto: Capelight Pictures

Seid verschlungen

von Dennis Vetter

Der neue Film von Ali Abbasi heißt „Border“ (im dänischen Original: „Gräns“) – Grenze. Ein Mann will darin nach Dänemark einreisen, geht mit bestimmtem Schritt auf die Zollschranke zu. Dort trifft er auf eine Frau, die ihn kontrollieren soll und die riecht, dass mit ihm etwas nicht stimmt. „Schnüfflerin“ nennen Tina die Leute. Weil sie am Landeseingang Geheimnissen nachspürt und die Schattenseiten der Menschen ans Licht bringen soll. Und die Beamtin kann in der Tat besonders gut riechen, beinahe übernatürlich gut. Tina spielt die Autorität ihrer Uniform nicht aus. Sie trägt die Beleidigungen mit Anstand, steht für das Gesetz ein und ist eine gute Bürgerin. Erst als sich herausstellt, dass es mit dem komisch riechenden Mann mehr auf sich hat, als sie zunächst dachte, beginnt sie ihre Rolle in der Gesellschaft zu hinterfragen. Für einige Zeit kann sie nicht fassen, welche Abgründe und Wege sich auftun. Und natürlich wird sie am Ende nicht mehr die Gleiche sein.

Zurück zum Geruch: Sein Geruch ist nicht der gleiche wie jener der Verbrecher und Schmuggler. Der Mann ist allein deshalb verdächtig, weil er nicht so zu sein scheint, wie die anderen. Als sie den Reisenden von ihrem Kollegen gründlich filzen lässt, stellt sich heraus, dass er weder etwas schmuggelt, noch einen Penis besitzt. „Vore“ ist sein Name – oder ihr Name? Abbasi interessiert sich nicht für definierte Antworten. Der Vorname klingt nicht typisch Dänisch und scheint auch sonst in keine Kultur zu passen. Danach fragt im Film aber niemand, denn die hier gezeigte Welt ist offen und durchlässig. Beim engagierten Suchen findet sich die Vorarephilie als Begleiterscheinung des Begriffs: Der Fetisch vom Verschlungenwerden. Wer „Border“ sieht, wird mit dieser Parallele schnell etwas anfangen können. Denn zwischen Vore und Tina entspinnt sich schon bald eine Romanze, bei der es etwas intensiver zugeht.

Foto: Capelight Pictures

„Border“ ist nicht der erste Film, in dem Ali Abbasi sein Interesse für das Animalische auslotet, für die Übergänge zwischen dem Menschlichen und Nichtmenschlichen, die unscharfe Trennlinie zwischen dem Realistischen und dem Fantastischen. Sein erster Langfilm „Shelley“ (2016) – benannt nach der Erfinderin des Frankenstein-Mythos – erzählt von einer unheimlichen Geburt: Eine rumänische Haushälterin soll für ihre dänische Chefin ein Kind zur Welt bringen. Das Resultat ist natürlich nicht wie erwartet, genau genommen geradezu unnatürlich. Das Kind scheint böse und vielleicht nicht von dieser Welt. Noch früher zeigte Abbasi in „M for Markus“ (2011) eine ‚ganz normale‘ Frau namens Tess, die davon träumt, eine Polizistin zu sein. Sie ist fasziniert von einem ungeklärten Mordfall. Der Killer könnte schön sein und jung, so wie Markus, der Sohn einer Freundin. In Fieberträumen erdenkt sie sich Markus als Liebhaber und Henker, als grenzüberschreitenden Erlöser aus ihrer kleinbürgerlichen Existenz. Die Freunde spotten, dass Tess doch so eine gute Kommissarin abgeben würde. Tess erträumt sich wie aus Protest, abgeschlachtet zu werden. Lieber Tod sein, als Hausfrau.

Foto: Capelight Pictures

Auch „Border“ umarmt das Banale, das Naheliegende, das Wahrscheinliche, um sich in eine innige Nachbarschaft zum Unwahrscheinlichen zu bewegen. Der Stoff stammt von John Ajvide Lindqvist, der auch schon „So finster die Nacht“ geschrieben hat, einen Roman über schwedische Vorstadtvampire, der 2008 von Tomas Alfredson nach Lindqvists eigenem Drehbuch verfilmt wurde. Dort, in Schweden, lebte Ali Abbasi übrigens, bevor er nach Dänemark ging. Als Reisender zwischen den Kulturen entwirft der eigentlich iranische Regisseur nun also mithilfe einer schwedischen Geschichte Fantasien über dänische Alltäglichkeiten: Tina und Vore begegnen einem langhaarigen, dünnhäutigen, blassen Züchter, der sich mit Kampfhunden umgibt und bei Tiervorführungen seine schönste Jacke anzieht. Die Korrekten sind in diesem Film die Schlimmsten: Eine brave Familie dreht in einer unauffälligen Wohnung Kinderpornos mit Säuglingen. Ein adretter Geschäftsmann wird von Tina als einer ihrer Kunden erschnüffelt. Und dann ist da Tinas Vater: Ein dementer Hausmeister, der in seinem Leben immer nur das Richtige tun wollte und bei dem Schlimmsten dennoch über Jahre tatenlos zusah.

Foto: Capelight Pictures

Tinas grobes Gesicht täuscht in keinem Moment über ihren Feinsinn hinweg. Während ihrer Zeit mit Vore bemerkt sie schnell: Es gibt vielleicht einen Ausbruch aus der Tristesse, womöglich ein richtiges Leben in einer scheinbar falschen Gesellschaft. Sie beginnt, über den Preis des unwiderruflichen Ausstiegs nachzudenken. Endlich ungezwungen atmen nach dem ganzen Schnüffeln, auch dafür taugt die Nase! Ihr Leben lang wurde ihr erzählt, sie sei deformiert und gehöre nicht dazu, doch vielleicht ist sie wirklich aus einer anderen Welt. Ihr Körper reagiert auf die neuen Gedanken: „Free your mind and your ass will follow“. Abbasi hat mit Eva Melander und Eero Milonoff eine Sexszene wie eine zweite Geburt gedreht, in der Körper sich zeigen, die in keine Kategorien passen. Die Körper erfinden sich ihre eigene Realität, und die Erlösung, wirklich gesehen zu werden, bricht heraus wie ein Schrei – ein übergroßer Schrei des Erkanntwerdens, wie er nur im Kino erklingen kann.

Foto: Capelight Pictures

Abbasis Film wurde letztes Jahr in Cannes mit dem Prix Un Certain Regard ausgezeichnet – im gleichen Jahr, als Viktor Polster für seine Leistung in Lukas Dhonts „Girl“ zum besten Schauspieler gekürt wurde. Auch das Kino kennt seine Alltäglichkeiten: Dhonts Coming-of-Age-Drama über ein Mädchen im falschen Körper provozierte die Reaktionen, ein Fantasyfilm wie „Border“ bleibt unbescholten. In „Girl“ repräsentiert ein junger cis-Mann einen Transgender-Körper, und die Frage der Community lautete, wie das denn bitte möglich sein soll – nur weil ein Film trotz seiner Gemachtheit einen wahrheitsähnlichen Realismus heuchelt. Wo bleibt die Empörung über Eva Melander und Eero Milonoff, wo die identitätspolitischen Fragen an “Border“? Abbasis Liebe zum Fantastischen eröffnet ein wundersames Spielfeld des Spekulativen, während das gesellschaftliche Streitpotenzial seines Films anscheinend durch dessen verträumte Leichtigkeit gemindert wurde. Über das offensichtlich Erfundene, dessen Freiheiten und Unfreiheiten als Kehrseite konservativer Realitäten, wird zu selten gestritten. Dabei sind Abbasis Zeichen überdeutlich: Ein Mensch unbekannter Herkunft wird von den Autoritäten gefesselt, stürzt sich von einem Schiff ins Meer – vielleicht in den Tod. Und alle diskutieren nur über finnische Monster.




Border
von Ali Abbasi
SW/DÄ 2018, 110 Minuten, FSK 16,
deutsche SF & schwedisch-dänische OF mit deutschen UT,

Capelight Pictures

Ab 11. April hier im Kino.

 

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