Sebastian Barry: Tage ohne Ende
Buch
In Büchern und Filmen gilt der Wilde Westen als Domäne raubeiniger Männlichkeit. Umso größer war die Sensation, als Annie Proulx 1997 die Geschichte zweier Schafhirten veröffentlichte, die sich in der Einsamkeit des Brokeback Mountain ineinander verlieben. Ang Lees Verfilmung wurde 2005 nicht nur ein Welterfolg, sondern auch zum Schlüsselfilm des Queer Cinema. Doch „Brokeback Mountain“ spielt im Jahr 1963, als der Westen schon lange nicht mehr wild gewesen ist. 2006 veröffentliche die deutsche Autorin Christine Wunnicke mit „Missouri“ den ersten richtigen Western mit einer offen schwulen Liebesgeschichte. Danach gehörte der Westen erst mal wieder den Heteros, bis der irische Bestsellerautor Sebastian Barry vor drei Jahren ein Freundespaar in die Turbulenzen des amerikanischen 19. Jahrhunderts entsendet hat. Sein Roman „Tage ohne Ende“, der jetzt in deutschen Übersetzung erschienen ist, erzählt die Geschichte eines queeren Glücks, findet unser Rezensent Christian Lütjens.
Corporal Crossdresser
Die Widmung in Sebastian Barrys „Tage ohne Ende“ erzählt ihren eigenen kleinen Roman. Hinter den vier Wörtern „Für meinen Sohn Toby“ verbirgt sich eine Familiengeschichte, die zu einem der Kernthemen des Buches führt: queere Identität. Während der Recherche für „Days Without End“ outete sich Barrys jüngster Spross (eben jener „Sohn Toby“) gegenüber seinen Eltern als schwul. Was für den 16-jährigen ein Befreiungsschlag war, wurde für den Vater zur Bewusstseinsbildungsodyssee. Barry beschrieb seine Auseinandersetzung mit der sexuellen Orientierung des Sohnes im Interview mit dem Guardian so: „Er führte mir die Magie schwulen Lebens vor Augen.“ Besonders habe die „Subtilität, Feinheit und Komplexität der Liebe zwischen Toby und seinem ersten Freund“ eine Faszination ausgeübt, der sich der Schriftsteller nicht entziehen konnte. So kollidierten die Erkenntnisse aus Buchrecherchen über die brutale Ära der amerikanischen Indianer- und Sezessionskriege mit privaten Erleuchtungen über die zärtliche Kaltschnäuzigkeit junger Liebender, und aus dem Staub, den der Zusammenprall aufwirbelte, stieg eine Figur empor, die in ihrer ambivalenten Wahrhaftigkeit wie die Essenz menschlichen Daseins anmutet: Thomas McNulty – der Ich-Erzähler von „Tage ohne Ende“.
Tatsächlich hätte dieses Buch vieles werden können – Historienschinken, Great American Novel, Kriegsepos. Aber das ist es eben alles nicht. An der radikalen Subjektivität der Erzählerfigur zerschellen sämtliche hochtrabenden Ansprüche auf Größe und Bedeutsamkeit. Stattdessen wird der Leser auf vergleichsweise straffen 260 Seiten auf sein eigenes unvollkommenes Menschsein zurückgeworfen, indem er die Welt in all ihren Widersprüchen durch die Augen des Thomas McNulty betrachtet.
Die Handlung führt – um mit den Worten des Erzählers zu sprechen – durch ein „ganzes erstaunliches Yankee-Leben hindurch“. McNulty, Sohn einer mittellosen Familie aus Sligo, hat seiner irischen Heimat schon als Teenager den Rücken gekehrt hat, um in Amerika sein Glück zu versuchen. Mitte des 19. Jahrhunderts begegnet er in Missouri dem 14-jährigen John Cole, der sich auf Wanderschaft begeben hat, um der Armut seines Elternhauses in Neuengland zu entfliehen. Cole und McNulty sind Leidensgenossen, Brüder im Geiste, Seelenverwandte. Um Geld zu verdienen heuern sie in einem Saloon in Daggsville an. Als Tänzer. Beziehungsweise „Tanzmädchen“. Die jungen Rabauken werden mit Miedern und Perücken ausgestattet, mit Parfüm besprenkelt und in Frauenkleider gesteckt, um den Arbeitern des Bergbaukaffs bei bezahlten Tänzchen die Illusion von weiblicher Gesellschaft vorzugaukeln. Die Aktion ist ein voller Erfolg, bis nach zwei Jahren der Schmelz der Jugend schwindet und sich die Illusion nicht mehr aufrechterhalten lässt. Sehr zum Leidwesen des jungen Thomas, der sich in der Frauenrolle durchaus wohlfühlt und die Aufkündigung des Tanzmädchen-Engagements als „Ende einer Ära“ beweint. Verständlicherweise. Denn das Ende dieser Ära – das auch das Ende des ersten Kapitels ist – markiert das Hereinbrechen der harten Wirklichkeit. McNulty und Cole verpflichten sich bei der Armee und ziehen auf dem Oregon Trail Richtung Kalifornien. Der Krieg beginnt – und damit die Zeit der titelgebenden Tage ohne Ende.
Achtzig Seiten lang ist das Geschehen ein einziger nicht enden wollender Kampf ums Überleben. Wenn nicht mit amerikanischen Ureinwohnern gefochten wird, sind es die Mächte der Natur, die McNulty und Cole an ihre körperlichen und seelischen Grenzen treiben. In schnörkelloser, aber enorm bildhafter Sprache gelingt es Barry/McNulty, die rohe Gewalt der Kriegshandlungen ebenso spürbar zu machen wie Witterung und Jahreszeiten. Mal flimmert die sengende Hitze der Steppe über den Buchseiten, dann wieder wehen klirrende Eiswinde aus ihnen heraus, oder die alles durchdringende Nässe erbarmungsloser Regengüsse scheint das Papier zu tränken. Die Natur ist ein eigenständiger Protagonist in diesem Buch, während die handelnden Figuren als Personifizierungen menschlicher Schwächen und Tugenden daherkommen. Da gibt es den strengen, aber gerechten Major Neale und seine gütige Frau, den integren Indianerhäuptling Caught-His-Horse-First, den aggressiven Starling Carlton, den schlichten aber kämpferischen Lige Magan und schließlich das Indianermädchen Winona, das in seiner Unschuld zu einer Art Bindeglied zwischen den verfeindeten Parteien wird. Und dann sind da natürlich noch McNulty und „der schöne John Cole“ selbst, deren Verbindung sich beiläufig wie eigentlich alles in der scherenschnittartigen Erzählung als innige Liebesbeziehung entpuppt, die im späteren Verlauf sogar von einer Hochzeit gekrönt wird und durch das Mädchen Winona zu einer Art archaischem Vorbild heutiger Regenbogenfamilien heranwächst. Doch das ist nicht das Ende der Geschichte. Friedliche Momente sind in diesem Buch nur dazu da, um ein paar Absätze später vom nächsten Schrecken eingeholt zu werden. So geht die Gewalt auch weiter, nachdem die liebenden Corporals für die Union der Nordstaaten zur Abschaffung der Sklaverei beigetragen haben. Letztendlich gibt es in Kriegen eben keine Gewinner. Weil sie nicht vorbei sind, nachdem sie für beendet erklärt wurden, sondern sich im Kleinen fortsetzen. Auch das macht „Tage ohne Ende“ deutlich und kann damit durchaus als Kommentar auf heutige Spaltungs- und Rassismus-Debatten in Amerika und der Welt gelesen werden – nicht zuletzt, weil von deren Ursprüngen erzählt wird.
Seit dem Erscheinen der Originalausgabe wurde „Days without End“ von der Kritik als „Wunder“ gepriesen und in Großbritannien mit dem Costa Book Award und dem Walter Scott Prize ausgezeichnet. Zu Recht. Sebastian Barry treibt hier die Kunst der Verknappung auf die Spitze und die Verquickung von Schnodderigkeit und Poesie zur Perfektion. Die deutsche Übersetzung von Hans-Christian Oeser wurde seit ihrem Erscheinen im Herbst 2018 zuweilen als zu blumig kritisiert. Tatsächlich wirkt die eine oder andere der zahllosen Metaphern im Deutschen etwas gewollt, aber das ändert nichts daran, dass die Übersetzung ein sprachliches Kunstwerk für sich ist. Außerdem tun kleine Schwächen der existenzialistischen Wucht des Textes keinen Abbruch. Die Unmittelbarkeit der Sprache eines Erzählers, der nichts zu verlieren hat und dadurch über alle Kategorisierungen erhaben ist, bleibt erhalten – und damit die große Stärke des Buches. Nüchtern betrachtet ist dieser Thomas McNulty schwul, Soldat, Crossdresser, Mörder, Kindesentführer und alles andere als politisch korrekt. Beim Lesen empfindet man ihn aber vor allem als einen Menschen, der dem Schicksal im Rahmen seiner begrenzten Möglichkeiten etwas Glück abtrotzt. Dass es ein queeres Glück ist, wird nicht problematisiert, sondern für gegeben hingenommen. Das ist die queere Identität dieses Buches.
Tage ohne Ende
von Sebastian Barry
Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser
Gebunden, 261 Seiten, 22 €,
Steidl