Sechs Filme des Jahres
Kino / DVD / Blu-Ray / VoD
Wenngleich das Kinojahr 2020 von großen Einschränkungen geprägt war, gab es auch in den letzten zwölf Monaten eine Reihe fantastischer queerer Filme. Manche waren auf der großen Leinwand zu sehen, andere sind direkt als VoD oder DVD erschienen, mitreißend und besonders fand sissy sie alle. In unserem traditionellen Rückblick lassen wir entlang kurzer Auszüge aus den Rezensionen unserer Autor*innen unsere Filmhighlights Revue passieren. Wir folgen dabei einem Mädchen, das sich in einem heißen Kreuzberger Sommer zu einem Schmetterling entpuppt; einem Deliquenten, der in einem chilenischen Gefängnis Anfang der 1970er Jahre in ein Netz aus sexuellen Freiheiten und Abhängigkeiten gerät; zwei Damen, die nach Jahrzehnten im Geheimen für die Anerkennung ihre Liebe kämpfen; einen Tanzstudenten in Georgien, der gegen die Heternormatitvität und Repressionen in seinem Heimatland aufbegehrt; einem jungen Mann, der sich in eine New Yorker Vogue-Tänzerin verliebt und in deren Ballroom-Community gleich mit; und einem postmigrantischen Teenager in Hildesheim, der mit einem syrischen Geschwisterpaar die Zukunft erobert. Uns gehört die Welt!
Kokon
„Lähmende Hitze, verbrannte Haut, die sich vom Körper pellt, der enge Radius des eigenen Mikrokosmos am Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg: ‚Wir sind wie Fische im Aquarium. Wir schwimmen immer im Kreis. Von der einen Seite des Kottis zur anderen und wieder zurück, so lange bis wir irgendwann aus dem Becken springen.‘ Nora, Hauptfigur und Erzählerin von ‚Kokon‘, lässt die Geschichte ihres Sommers zu fluide wabernden Synthieklängen mit der Beschreibung sensueller Wahrnehmungen beginnen. Satt, lichtdurchflutet und farbintensiv wie Polaroidfotos sind auch die Bilder des Films. Dass Texturen und Haptik fast schon exzessiv zum Einsatz kommen ist programmatisch. Denn Leonie Krippendorf erzählt in ihrem zweiten Spielfilm von Identitätssuche und sexuellem Erwachen als etwas, das den gesamten Körper erfasst: der Schock der ersten Menstruation, das Entdecken des eigenen Begehrens beim Herumbalgen mit anderen Mädchen, beim Betrachten ihrer Körper: ‚Ich finde manchmal Mädchen so schön‘, wird sie im Gespräch mit der Sexualkundelehrerin zunächst noch etwas scheu gestehen.“
aus „Die Verwandlung“ von Esther Buss
(sissy-Besprechung zu „Kokon“)
Der Prinz
„Blut ist ein ganz besonderer Saft. Bindemittel – und Lösungsmittel. Um einen am Boden liegenden Körper mit klaffender Wunde breitet sich eine Lache aus und stockt vor den Füßen des Mörders. Die Leute in der Bodega weichen vor dem 20-jährigen Jaime zurück, der zur Musikbox wankt, in der der rotierende Schallplatten-Speicher rattert. Keine Musik erklingt. Die hebt erst an – mit einem sehnsüchtigen Tango-Gesang –, als das Gefängnis Jaime umschließt und er, noch im blutbesudelten Hemd und mit dem Gesichtsausdruck des besinnungslosen Täters, durch die Gänge in eine Zelle geführt wird, wo ihn vier Insassen erwartungsvoll taxieren. Derjenige, der dort das Sagen hat, ist der ältere zernarbte Ricardo, genannt ‚El Potro‘ (‚Der Hengst‘). Der seit dem Jugendknast mit den in dieser separierten Welt herrschenden Gesetzen, Gefahren und Überlebenstechniken erfahrene ‚Potro‘ sagt auch Jaime, was er zu tun hat, staffiert ihn aus, erklärt ihn zu seinem Schützling, holt ihn zu sich ins Bett und macht ihn zu seinem Geliebten, seinem ‚Prinzen‘.“
aus „Der König ist tot. Es liebe der König!“ von Andreas Wilink
(sissy-Besprechung zu „Der Prinz“)
Wir beide
„Doch kaum irgendwo finden sich Spuren von Nina, sieht man von der zweiten Zahnbürste im Badezimmer einmal ab. Davon, dass eine gemeinsam ausgebildete Paar-Identität sich in einem gemeinsam bewohnten Raum widerspiegeln würde, kann also keine Rede sein. Was wiederum Rückschlüsse zulässt auf das Maß an Selbstverleugnung, das Mados und Ninas Liebesroman Zeit ihres Lebens prägte, sowie auf den Druck, den die geänderte Situation auf die beiden ausübt. Ein systemischer Shutdown, der sich auch in Mados Krankheits-Symptomatik widerspiegelt. Konnte sie zunächst nicht aussprechen, dass ihre Nachbarin nicht nur eine gute Freundin ist, sondern ihre langjährige Geliebte, verliert sie nun tatsächlich die Sprache. Also muss Nina die Stimme erheben und für beide sprechen, Nina, die Jahrzehnte lang tot geschwiegen worden war. Doch sie tut das. Und sie kämpft. Sie kämpft wie die sprichwörtliche Löwin.“
aus „Jetzt oder nie“ von Alexandra Seitz
(sissy-Besprechung zu „Wir beide“)
Als wir tanzten
„Während sich im Hintergrund die Hochzeit von Merabs Bruder David abspielt, verhandeln Merab und Irakli im Bildvordergrund ihre fragile Beziehung. Der aus Batumi kommende Irakli tendiert zu einem Leben in der Sicherheit der Konventionen. Alles in seinem Innersten mag ihn zu Merab hinziehen. Doch hat ihre Liebe im zutiefst konservativen Georgien überhaupt irgendeine Chance? Bringt sie die beiden nicht sogar in Gefahr? Sollte er nicht zurück in seine Heimatstadt gehen und seine dortige Verlobte heiraten? Diese Art von Kompromiss, von Sicherheit um den Preis der Anpassung und Selbstverleugnung, kommt für Merab nicht infrage. So wie er sich ohne Rücksicht auf den eigenen Körper in den Tanz stürzt, so hat er sich auch vorbehaltlos in seine Liebe zu Irakli fallen lassen. Von dem Moment an, in dem er seine Gefühle für seinen Tanzpartner und Konkurrenten verstanden hat, gab es für ihn kein Zögern, keine Vorsicht mehr.“
aus „Zum Licht, zur Freiheit“ von Sascha Westphal
(sissy-Besprechung zu „Als wir tanzten“)
Port Authority
„‚Port Authority‘ handelt also mehr von Paul als von der queeren Subkultur, aber gerade das ermöglicht einen Blick, der nicht sensationsheischend ‚das Andere‘ konstruiert, sondern der eine gemeinsame Sehnsucht aufdeckt: die nach Geborgenheit, auch und gerade jenseits der Paarbildung. Eine endgültige Lösung bietet ‚Port Authority‘ für Paul nicht, aber der Film lässt ihn eine Bewegung erkennen, die nun einmal seine eigene, ganz und gar unsensationelle ist: ein paar Schritte hin und wieder her. Her und hin. Ein Tanz, der an Rilkes eingesperrten Panther erinnert, in dessen Mitte ‚betäubt ein großer Wille steht‘; Pauls Wille ist nicht groß, aber er erwacht, vielleicht gerade noch rechtzeitig, aus der Betäubung.“
aus „Blut und Glitzer“ von Cosima Lutz
(sissy-Besprechung zu „Port Authority“)
Futur Drei
„Bei ‚Futur Drei‘ soll Widerstand Spaß machen und Hoffnung wecken – und eine mögliche Zukunft denkbar werden. Diese Zukunft, die emanzipatorisch ist und frei, kann jedoch nicht ohne das Wissen um eine diskriminierende Gegenwart entstehen, in der Rassismus, Homophobie und strukturelle Gewalt an der Tagesordnung sind. Und so ist die Geschichte des Films eine Geschichte von Konflikten und Selbstzweifeln, auch wenn sie im Licht einer queeren, postmigrantischen Utopie schimmert. Unter ihrem Kollektivnamen ‚Jünglinge‘ haben Shariat, Lorenz und Molt einen sexpositiven Film gedreht, den sie als ‚juicy‘ bezeichnen und dessen filmische Mittel ganz klar im Zusammenhang mit der Strategie stehen, sich gegen gängige – das heißt: weiße, patriarchale, heteronormative – Repräsentationsweisen im deutschen Kino aufzulehnen. ‚Futur Drei‘ erprobt selbstbewusst eine queere Ästhetik und Körperpolitik.“
aus „Du kannst es tun, oh Sailor Moon“ von Dennis Vetter
(sissy-Besprechung zu „Futur Drei“)
Kokon
von Leonie Krippendorff
DE 2020, 94 Minuten, FSK 12,
deutsche OF,
Salzgeber
Hier auf DVD.
Der Prinz
von Sebastián Muñoz
CL/AR/BE 2019, 96 Minuten, spanische OF mit deutschen UT, FSK 18,
spanische OF mit deutschen UT
Salzgeber
Hier auf DVD.
VoD: € 4,90 (Ausleihen) / € 9,90 (Kaufen)
Wir beide
von Filippo Meneghetti
FR/LU/BE 2019, 95 Minuten, FSK 6,
deutsche SF & französische OF mit deutschen UT,
Weltkino
Als wir tanzten
von Levan Akin
SE/GE 2019, 106 Minuten, FSK 12,
deutsche SF und georgische OF mit deutschen UT,
Salzgeber
Hier auf DVD.
Hier auf BLU-RAY.
VoD: € 4,90 (Ausleihen) / € 9,90 (Kaufen)
Port Authority
von Danielle Lessovitz
US 2019, 94 Minuten, FSK 12,
englische OF mit deutschen UT,
Salzgeber
Hier auf DVD.
VoD: € 4,90 (Ausleihen) / € 9,90 (Kaufen)
Futur Drei
von Faraz Shariat
DE 2020, 92 Minuten, FSK 16,
OF in Deutsch und Farsi, teilw. mit deutschen UT
Salzgeber
Hier auf DVD.
Hier auf BLU-RAY.