Ulrike Ottinger – Die Nomadin vom See
DVD/VoD
Die Filme von Ulrike Ottinger gehören zum Aufregendsten, was die deutsche Kinogeschichte zu bieten hat. Für ihr Lebenswerk erhielt die gebürtige Konstanzerin 2010 das Bundesverdienstkreuz und 2012 den Special Teddy der Berlinale. Im Dokumentarfilm „Ulrike Ottinger – Die Nomadin vom See“, der nun im Salzgeber Club zu sehen ist, gibt Brigitte Kramer, ebenfalls in Konstanz aufgewachsen, einen Einblick in Ottingers surreales Werk – und zeichnet zugleich das Bild einer Epoche, die vom Aufbruch der Frauen in den Künsten geprägt war. Fritz Göttler über das Porträt einer Ausnahmekünstlerin und das ganze Glück des Kinos.
Ein Medium dieses Mysteriums
von Fritz Göttler
Über ein halbes Jahrhundert ist das kleine Foto alt, ein bisschen vergilbt, aber nicht mit jenem Andacht gebietenden Sepiaton, rein und klar, naiv und zauberhaft. Das Geheimnis dieses Films von Brigitte Kramer steckt darin, das Geheimnis des Schaffens von Ulrike Ottinger, dem er sich widmet, das Geheimnis des Kinos an sich.
Es ist ein Moment wunderbarer Balance, wenn diese Fotografie im Film erscheint, das allererste Bild, das Ulrike Ottinger machte, als Kind, und sie erzählt, wie es dazu gekommen ist: Sie hatte einen kleinen Rerina-Fotoapparat bekommen von der Mutter, und als sie mit der kurz nach dem Krieg in Amsterdam war, begegneten ihnen dort zwei Inder, und Ulrike fragte die Mutter, ob sie diese fotografieren dürfe. Das solle sie die beiden selber fragen, sagte die Mutter, und sie soufflierte dem Mädchen die englischen Worte, um die Frage zu formulieren. Die beiden sagten ja. Das Bild zeigt ein fröhliches Paar, der eine junge Mann mit Turban, der andere im Trenchcoat, der eine schaut sehr unbeschwert, er hat den Kopf leicht schräg gelegt, der andere wirkt ein wenig skeptisch und unsicher. Eine innere Gelassenheit strahlt von ihnen aus.
Das Einverständnis, das hier herrscht, zwischen den beiden Männern vor und dem Mädchen hinter der Kamera, evoziert die Magie von Ulrike Ottingers Arbeit. Sie macht keine Schnappschüsse, zupackend, entreißt der Realität nicht ihre Bilder. Das Bilder- und Filmemachen ist für sie ein Prozess, der vor dem Moment der Aufnahme beginnt und mit ihm nicht aufhört, er ist in den Bildern lebendig. Es ist das Mysterium der frühen Fotografie, im 19. Jahrhundert, das sich hier wieder beschworen findet. „Alles an diesen frühen Bildern war angelegt zu dauern“, hat zu diesem Mysterium Walter Benjamin geschrieben.
Ulrike Ottinger ist – als Filmemacherin, Malerin, Lithografin, Sammlerin – eine Vermittlerin, ein Medium dieses Mysteriums. Sie nimmt sich nicht selbst aus dem Spiel heraus, das vor der Kamera sich ereignet, macht sich nicht transparent, im Sinne einer vorgetäuschten Objektivität. Sie nimmt teil. In Konstanz, wo sie geboren und aufgewachsen ist, hatte sie eine Kneipe, das Salzbüchsle, wo sich junge Künstler trafen und austauschten. Hier gab es, erzählt die Filmemacherin Brigitte Kramer, ebenfalls in Konstanz geboren, in ihrer Jugend Filme und Bilder zu sehen, die es bislang nicht an den Bodensee geschafft hatten. Ulrike Ottinger hat zu dieser Zeit noch kurzes schwarzes Haar, eine Zigarre im Mund, das Insignium der alten Mediatoren, der Zirkusdirektoren.
Im Werk von Ulrike Ottinger geht alles zusammen, das Naive und das Künstliche, das Provinzielle und das Exotische, das Rituelle und das Spontane, auf eine fremdartig natürliche Weise. Ich bin sicher, dass ich nichts verstand, aber jede Menge spürte, sagt Brigitte Kramer von ihren damaligen Erfahrungen: Wir hielten mit und rauchten und flipperten mit den Großen um die Wette.
Seit ihrem neuesten Film, „Paris Calligrammes“, der letztes Jahr in die Kinos kam, weiß man, wie sehr Ulrike Ottinger von den Pariser Intellektuellen, Schreibern, Malern der Sechziger geprägt wurde, von Bourdieu und Althusser, und vom Mai 68, der noch einmal eine ganz andere Vorstellung vom Spektakel bot.
„Die Aura von diffusen Bedeutungen“, schreibt Frieda Grafe zu „Freak Orlando“ (1981), „verdinglicht sich in diesen Bildern, die voller Widersprüchlichkeiten bleiben, zu Empfindungen, für die es keine Wörter gibt. Es ist, als ob das übliche Tauschgeschäft des Kinos, in dem das Abbild für eine Realität steht, in Unordnung geraten wäre und alles sich auf die Ebene der Bilder verschoben hat. Als gäbe es frei schwebende Bilder, die keinem Vorbild in der Natur mehr folgten.“
Wieland Speck, der bei „Freak Orlando“ als einer der unzähligen Akteure mitmachte, war fasziniert, wie sich bei Ulrike Ottinger der tendenziöse Begriff des Monströsen auflöste, der alles wegschiebt, was angeblich nicht normal sei, „dieses falsche Vortäuschen, wir seien alle eins und die anderen sind die andern“. Ottingers Kino war immer, wenn man schon Formeln und Termini braucht, von Diversität bestimmt, hybride, inklusiv, transgender – lange bevor man diese Begriffe in ein festgezurrtes Argumentations-Gerüst packte.
In den drei Texten, die Frieda Grafe über Ulrike Ottinger schrieb, ist die Begeisterung zu spüren darüber, wie Delphine Seyrig, die man aus den strengen Filmen von Duras, Resnais und Akerman kennt, nun alles durcheinander bringen darf an Rollen und Erwartungen, wie sie die Frauen fordern in der neuen Medienwelt, wie sie, als Fanny Ziegfeld in Johanna d‘Arc of Mongolia, mit kratzig sanfter Stimme und diversen Sprachen umgeht. Die Frauen sind robust, sie halten einiges aus, Magdalena Montezuma und Tabea Blumenschein, oder Elfriede Jelinek, die sich King Kong in die Arme legt, im Film über den Wiener Prater (2007). Irm Herrmann gerät schier aus dem Häuschen angesichts des Glücks, das sie spürte beim Dreh von „Johanna d’Arc of Mongolia“ (1988).
Die Filme haben eine wohltuende Kühle, sie bleiben auf Distanz. Wärme könnte gefährlich sein, weil sie die Menschen schnell zu nahe zusammenbringt. Am schönsten sind Ottingers Filme, wenn sie Prozessionen und Rituale filmt, oder lange Zugreisen, ohne falsche Dramatik. Der Film ist ein animistisches Medium, sagt sie. Nochmal Walter Benjamin zum Ursprung der Fotografie: „Das Verfahren selbst veranlasste die Modelle, nicht aus dem Augenblick heraus, sondern in ihn hinein zu leben; während der langen Dauer dieser Aufnahmen wuchsen sie gleichsam in das Bild hinein.“
Ottingers Filme sollten uns stimulieren, den Schnee und seine Bedeutung fürs Kino zu studieren. Wie er alles verlangsamt, Bewegung einfriert, die Rasanz schwinden lässt, die uns Hollywood suggeriert als den Motor von Kinobewegung. Auch die Sprache scheint ausgebremst: zweiundzwanzig Wörter hat das Japanische für Schnee. Und jede Schneeflocke hat eine eigene kristalline Struktur, die man fixieren kann auf einem schwarzen Lacktablett.
Ottingers Filme sind zentrifugal, ihre Reisen, erst in die Reiche der Imagination, dann in ferne Länder, haben keine Zielpunkte, die Erkundung hat etwas von reiner Meditation. „Floating Food“ hieß die Ausstellung, die sie 2011 im Haus der Kulturen der Welt in Berlin zusammenstellte, aus ihrem Werk heraus und der Sammlung von Objekten aus aller Welt, die sie von ihren Filmreisen mitgebracht hatte. Der Titel führt noch einmal nach Amsterdam, kurz nach dem Krieg. In ein indonesisches Lokal, wo Ulrike mit der Mutter war, einem Tempelchen auf einer Insel in einem See, und wo die Speisen herangebracht wurden in kleinen Booten.
Die beiden Inder auf dem ersten ihrer Bilder – da ist eine Gelöstheit, eine Heiterkeit zu sehen auf ihren Gesichtern und in dem Blick, den Ulrike Ottinger auf sie wirft. Die Blicke scheinen miteinander zu verschmelzen, und in einem solchen Moment liegt das ganze Glück des Kinos.
Ulrike Ottinger – Die Nomadin vom See
von Brigitte Kramer
DE 2012, 86 Minuten, FSK 12,
deutsche OF,
Salzgeber