Acht Filme des Jahres

Kino / DVD / VoD

Das nicht-heterosexuelle Kinojahr 2018 war so vielfältig wie kaum ein Jahr zuvor – vor allem was die Perspektiven und Lebensentwürfe seiner filmischen Figuren betrifft. Wir haben für Euch unsere acht Highlights der vergangenen Monate zusammengetragen und stellen Sie mit kurzen Spotlights in den Worten unserer Autor*innen noch einmal vor. Eine Rückschau auf ein schwules Arbeiterkind, das aus der französischen Provinz nach Paris flüchtet, um dort eine neue Entfremdung zu erleben. Auf eine schüchterne Studentin in Oslo, die sich mit übernatürlichen Kräften aus der Hetero-Hölle ihrer Kindheit befreit. Auf einen Schriftsteller, der im Paris der frühen 90er nicht mehr lange zu leben hat und sich trotzdem ein letztes Mal verliebt. Auf eine Ballettschülerin in Gent, die einen Penis zu viel hat. Auf einen altklugen Professorensohn, der während eines Sommers in der Lombardei erfährt, was er alles noch nicht weiß. Auf einen US-amerikanischen Teenager, der an seiner High School  zwangsgeoutet wird und erst so in ein großes Liebesmärchen schliddert. Auf zwei Frauen, die sich in São Paulo die Mutterschaft für ein Werwolfkind teilen. Und auf einen Stricher, der so frei und so einsam durch Straßburg zieht wie ein wildes Tier.


Marvin

Foto: Edition Salzgeber

„Marvin ist stets das und der Andere und er wird es immer sein. Dabei muss Ausgrenzung nicht mal unbedingt in Gewalt münden, sie kann auch in ein hämisches Lächeln verpackt sein oder sogar – wie in diesem Film – in einem edlen Jaguar heranbrausen. Marvin, der hier gewiss nicht zufällig den Namen eines berühmten Afroamerikaners trägt, ist immer der Fremde. Beschimpft und geschlagen in der Schule, beschimpft und verlacht in der Familie. Und an die Haltestelle des Schulbusses hat jemand ‚Tod den Schwulen‘ gesprüht. Jahre später, wenn er sich freigeschwommen hat und versucht, in der leuchtenden Metropole Paris aus seiner sozialen Dysfunktionalität eine Lebenshaltung zu gewinnen, wenn er mit Intellektuellen Rotwein trinkt und mit Industriellen Champagner, bleibt er dort genauso außen vor wie in seinem provinziellen Dreckskaff mit dem fiesen Dialekt und der noch fieseren Arbeitslosigkeit. Marvin hat keinen Ort, nirgends.“

aus „Marvin. Gai“ von Matthias Frings
(sissy-Besprechung zu „Marvin“)


Thelma

Foto: Koch Films

„Es gibt eindeutige Parallelen zwischen dem Genrekino, das mächtige Frauen zu bösen Monstern macht, und der gesellschaftlichen Stigmatisierung von queeren Menschen. Beide arbeiten damit, einen Menschen von der Gesellschaft abzuspalten, ihn als anormal und gefährlich zu deklarieren, ihm negative Eigenschaften zuzuschreiben, Angst zu schüren und so aus dem Subjekt ein Objekt zu machen, dem die Menschlichkeit genommen wird, und das so verurteilt, bestraft, zerstört werden kann. Die Liebe zu Anya und auch ihre sexuelle Sehnsucht nach ihr, die der Film nie voyeuristisch ausnutzt, sondern auch hier ganz bei Thelma bleibt, geben ihr eine Möglichkeit, sich den normativen Strukturen ihrer Umwelt zu entziehen. (…) Für Thelma ist es zwar anfangs schwierig, ihre homosexuellen Bedürfnisse in Einklang mit ihrer christlichen Erziehung zu bringen, doch sie spürt sofort die Erleichterung. Es ist die Erleichterung, die wir alle kennen, wenn wir zum ersten Mal auf andere treffen, die so sind wie wir. Es ist die Befreiung, die man empfindet, man selbst sein zu können und zu wissen, dass es andere Welten als heteronormative gibt. Es ist das wunderbare Gefühl, nicht als das ‚Andere‘ abgesondert zu werden, sondern Teil zu haben. Geliebt und begehrt zu werden. Kurzum: es ist Thelmas Queerness, die sie ebenfalls bemächtigt, denn sie findet eine Gesellschaft, in der sie sie selbst sein kann und die Gesetze des Vaters ihre Macht verlieren.“

aus „Satans jüngste Tochter wird erwachsen“ von Beatrice Behn
(sissy-Besprechung zu „Thelma“)


Sorry Angel

Foto: Edition Salzgeber

„Einmal inszeniert Honoré eine Cruising-Szene in der nächtlichen Altstadt von Rennes als streng choreographiertes Ballett der Begierden, in dem sich schnell auch Machtverhältnisse offenbaren. Es ist ein faszinierender Moment, in dem Arthur sein Aussehen geschickt ausspielt und ganz selbstverständlich zum Zentrum der Aufmerksamkeit wird. Im Rausch dieses Augenblicks, den Honoré in lyrischen, fast schon verzauberten Bildkompositionen einfängt, offenbart sich nicht nur Arthur. Man weiß genau, dass Jacques zehn Jahre zuvor ebenso alle Blicke und alles Begehren auf sich gezogen hat. Die beiden sind nicht tragisch Liebende. Der eine ist auch das jüngere Spiegelbild des anderen. Als sie sich in einem dunklen Kinosaal in Rennes zum ersten Mal begegnen, erkennt jeder im anderen auch sich selbst. Darin liegt für Arthur der Reiz dieser Beziehung. Später wird er erzählen, dass Jacques der erste Mann ist, in den er sich verliebt hat. Alles davor war nur Sex. Aber für den Schriftsteller, der mit seiner Krankheit und mehr noch mit dem Verfall seines Körpers ringt, hat diese Spiegelung auch etwas Bedrohliches. Er glaubt, nicht mehr lieben zu können, und kann die Liebe des anderen auch nicht annehmen. Immer wieder entzieht sich Jacques seinem jüngeren Geliebten, ohne ganz von ihm lassen zu können. So bleibt ihm schließlich nur der radikalste aller Schritte.'“

aus „Über den Tod hinaus“ von Sascha Westphal
(sissy-Besprechung zu „Sorry Angel“)


Girl

Foto: Universum Film

„Man muss sagen, dass ‚Girl‘ weniger ein Film ist, der sich um den Prozess der Geschlechtsanpassung dreht. Klar, das Thema ist zentral. Lara trifft sich mit Ärzten und mit einem Therapeuten, wird von ihrem Vater (großartig) dabei unterstützt. Aber dennoch ist sie, wie ihr Therapeut von Anfang an betont, längst ein Mädchen. Das Thema der ‚Umwandlung‘ herauszustellen würde bedeuten, Laras männlichen Anteil zu naturalisieren, würde den Verdacht in den Raum stellen, dass ihr ‚wahres‘ Geschlecht möglicherweise eben doch das männliche war, das nun operativ zu überwinden ist. Penis hin oder her: Lara ist ein Mädchen. Und dennoch ist dieser Penis da, und damit dieses etwas, was stört. Dhonts großer Wurf besteht nun darin, dass er einen Film weniger über eine Transition, als, sehr viel subtiler und grundlegender, über einen Penis gemacht hat. Womit er bei den Dingen ansetzt, die ein Geschlecht vermeintlicherweise überhaupt festlegen können; bei den Dingen, die aufgrund dieser Festlegung Leute dazu bringen können, dieses Geschlecht zu ändern.“

aus „Ein Penis zu viel“ von Philipp Stadelmaier
(sissy-Besprechung zu „Girl“)


Call Me by Your Name

Foto: Sony Pictures

„Nach knapp der Hälfte des Films gesteht Elio seinem Geliebten auf dem Marktplatz der nahe gelegenen Stadt endlich seine Gefühle. Und zwar auf eine Art, die nur derjenige versteht, der die entsprechenden Codes kennt. Vor einem Brunnen stehend, der zugleich ein Gefallenendenkmal ist, wundert sich Oliver, ob hier in der Nähe wirklich eine Schlacht im Zweiten Weltkrieg stattgefunden habe. Nein, korrigiert ihn Elio, dies sei doch ein Denkmal für die im Ersten Weltkrieg gefallenen Männer der Stadt. Man müsse heute fast 80 Jahre alt sein, um einen der Toten  persönlich gekannt zu haben. ‚Gibt es noch etwas, das Du nicht weißt?‘, sagt Oliver beeindruckt. ‚Wenn Du wüsstest, wie wenig ich über die Dinge weiß, auf die es ankommt‘, antwortet Elio. ‚Von welchen Dingen sprichst Du?‘ – ‚Du weißt genau welche Dinge.‘ – ‚Heißt das, was ich denke, dass es heißt?‘ Auf das gegenseitige Schweigen folgt das abstrakte Reden über Gefühle. Dass Elio ein Denkmal als Ort für sein indirektes Liebesgeständnis wählt, passt zu dem Motiv der Vergänglichkeit, das dem Film von Beginn an eingeschrieben ist: Elio fantasiert nicht nur die Vereinigung mit dem Geliebten, sondern zugleich auch schon die Trennung von ihm. In wenigen Wochen muss Oliver schließlich zurück in die USA. Ein antizipierter Liebeskummer, eine Sehnsucht nach der wehmütigen Erinnerung, nach dem nostalgischen Exzess.“

aus „Zwischen Immer und Nie“ von Christian Weber
(sissy-Besprechung zu „Call Me by Your Name“)


Love, Simon

Foto: 20th Century Fox

„Ja, der Film ist für Kinder jeden Alters gemacht. Für die, die sich wiedererkennen wollen. Und die, die verstehen wollen, oder sollen. Er dreht Gefühle jeder Art ganz weit auf. Die Botschaften sind einfach, verständlich, und stellenweise ist das Ganze sehr didaktisch, und zwar nicht nur, weil der Film hauptsächlich in einer Schule spielt. Große Fragen wie die nach verschiedenen Formen von schwuler Identität, heterosexueller Solidarität, nach Hautfarbe und Zugehörigkeit zu einer bestimmten Klasse werden smart oder humorvoll gestreift, aber nie ausdiskutiert. Die Absurdität des Coming-outs wird in einer Fantasie-Sequenz gespiegelt und so besser erklärt, als das Seiten von Dialog könnten. Das Ganze ist ein schönes, kluges, stellenweise saukomisches, multikulturelles Märchen. Und ist das irgendwie schlimm? Nein, gar nicht. Der Marketingslogan zum Film verspricht: ‚Jeder verdient eine große Liebe‘. Was ja stimmt. Besonders im Kino. Aber die großen filmischen Romanzen für LGBTIQ* enden eben immer noch oft damit, dass die Figur, mit der wir uns identifizieren sollen, am Ende tot an einem Zaun hängt, elegant abgewiesen in einer Spielzeugabteilung herumsteht oder in einem windschiefen Wohnwagen traurig und einsam ein Jeanshemd streichelt.“

aus „Just Like You“ von Paul Schulz
(sissy-Besprechung zu „Love, Simon“)


Gute Manieren

Foto: Edition Salzgeber

„Genau hier legt ‚Gute Manieren‘ den Finger in die Wunde und nutzt gekonnt Märchen und Fantastik, Archetypen und ein bisschen magischen Realismus, um präzise Sozialkritik zu üben. Es geht um die Unterdrückung unerwünschten Begehrens von Teilen der Gesellschaft, die nicht der wahrgenommen Norm entsprechen (gute Manieren!) und als deviant ausgeschlossen werden. Das Spannende daran ist, dass Rojas und Dutra verstehen, dass diese Problematik intersektionell ist, und gehen sie als eben solche an: Es ist das queere Begehren nach sexueller Freiheit genauso wie das soziale Begehren der Armen nach finanzieller Erleichterung. Es ist das Begehren nicht-weißer Menschen nach Anerkennung ihrer Rechte und ihrer Menschlichkeit genauso wie das Begehren von Frauen nach Gleichberechtigung. Kurzum: Es geht um Menschlichkeit und Gerechtigkeit in einer Gesellschaft, deren Grenzen so eng gezogen sind, weil sie den Kontakt zu ihren Wurzeln und ihrer Imagination verloren haben.“

aus „Pakt der Wölfe“ von Beatrice Behn
(sissy-Besprechung zu „Gute Manieren“)


Sauvage

Foto: Edition Salzgeber

„Dreimal zeigt Camille Vidal-Naquet seinen Protagonisten in einer Arztpraxis. Gleich in der ersten Szene des Films lässt sich Léo untersuchen. Allerdings täuscht der äußere Anschein, die Situation entpuppt sich als Rollenspiel. Erst viel später sucht Léo eine echte Ärztin auf. Nur sieht er im Gespräch mit ihr keinen Sinn darin, sein Leben zu ändern. Erst in der dritten Version dieser Szene scheint sich etwas geändert zu haben: Léo will ein anderer sein. Dafür muss er jedoch aufgeben, was ihn im Innersten ausmacht. Aus dem Rollenspiel wird eine Rolle, die einfach nicht passt. Diese drei Szenen strukturieren den ansonsten mäandernden Fluss der Erzählung. Sie deuten drei Kapitel an, ohne den Film in eine starre Form zu gießen. Es ist genau diese Offenheit, aus der ‚Sauvage‘ einen unwiderstehlichen Zauber zieht. Er erzählt nicht nur von einem jungen Mann, der absolut frei lebt, dem selbst das Geld der Freier nichts bedeutet. Vidal-Naquets Film ist selbst frei, indem er die bekannten Motive des Stricherfilms aufgreift und in ein anderes, offeneres Licht setzt.“

aus „Die große Freiheit“ von Sascha Westphal
(sissy-Besprechung zu „Sauvage“)




Marvin
von Anne Fontaine
FR 2018, 115 Minuten, FSK 12,
französische OF mit deutschen UT,

Edition Salzgeber

Hier auf DVD.

vimeo on demand

VoD: € 4,90 (Ausleihen) / € 9,90 (Kaufen)



Thelma
von Joachim Trier
NO 2017, 116 Minuten, FSK 12,
deutsche SF, OF mit englischen UT,

Koch Films



Sorry Angel
von Christophe Honoré
FR 2018, 132 Minuten, FSK 16,
französische Originalfassung mit deutschen Untertiteln,

Edition Salzgeber



Girl
von Lukas Dhont
BE 2018, 105 Minuten, FSK 12,
deutsche Synchronfassung & Originalfassung mit deutschen Untertiteln,

Universum Film

Seit 18. Oktober hier im Kino.



Call Me by Your Name
von Luca Guadagnino
IT/FR/US/BR 2017, 133 Minuten, FSK 12,
deutsche SF & OF mit deutschen UT,

Sony Pictures

Seit 1. März hier im Kino.



Love, Simon
von Greg Berlanti
US 2018, 105 Minuten, FSK 12,
deutsche SF & englische OF mit deutschen UT,
Twentieth Century Fox



Gute Manieren
von Juliana Rojas & Marco Dutra
BR/F 2017, 135 Min., FSK 12,
portugiesische OF mit deutschen UT,

Edition Salzgeber

Hier auf DVD.

vimeo on demand

VoD: € 4,90 (Ausleihen) / € 9,90 (Kaufen)



Sauvage
von Camille Vidal-Naquet
FR 2018, 99 Minuten, FSK 16,
französische OF mit deutschen UT,

Edition Salzgeber

Seit 29. November hier im Kino.

Hier auf DVD.


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