Rabih Alameddine: Der Engel der Geschichte

Buch

„Der Engel der Geschichte“ erzählt von einem außergewöhnlichen Leben: Jakob wird im Jemen unehelich geboren, die Mutter und ihr kleiner Sohn werden mit Schimpf und Schande aus dem Haus des Kindsvaters getrieben. Auch die Verwandtschaft der Mutter will keine ledige Frau mit Kind aufnehmen, also beibt nur das Bordell. Hier hat der kleine Junge eine glückliche Kindheit, vielleicht ist es die schönste Zeit seines Lebens. Dann holt ihn der Vater auf ein katholisches Internat, dessen erzieherische Leistung im Vergleich zum Bordell ziemlich schlecht abschneidet. Als Jakob es endlich geschafft hat, der Enge der arabischen Welt zu entfliehen und in San Francisco ein neues Leben zu beginnen, sterben alle seine Freunde Schlag auf Schlag an Aids. Er steckt den Kopf in den Sand, er will nur noch vergessen. Erst 20 Jahre später rüttelt ihn das massenhafte Sterben in seiner Heimat Jemen wieder wach. Rabih Alameddine bedient sich vieler Kunstgriffe der orientalischen Fabulierkunst, um Jakobs erschütternde Geschichte mal lustvoll, mal witzig und dann auch hochdramatisch zu erzählen. Michael Sollorz hat den vielstimmigen Roman, der 2016 in den USA mit dem renommierten Lambda Literary Award ausgezeichnet wurde, für uns gelesen.

Um zu überleben

von Michael Sollorz

Das Wartezimmer einer Psychiatrie-Ambulanz. So beginnt das Buch. Ein Mann steigt aus dem Taxi, um sich selbst einzuliefern, der Ich-Erzähler, ein nervliches Wrack. Sein Name ist Jakob, oder Ya’qub, wie er auf Arabisch heißt und hier auch genannt werden soll, weil er es verdient. Wir sind in San Francisco unter Obama, doch unser Held stammt aus dem Libanon, und auf diesem biografischen Drahtseil betreibt Ya’qub die literarische Innenschau seines zermarterten Gehirns. Ein Spinner? Ein Irrer? Ein Mensch in Not.

Der gut gewählte Buchtitel geht zurück auf eine Paul-Klee-Zeichnung von 1920, den Angelus Novus. Sie zeigt skizzenhaft eine ulkige Figur mit großem Kopf und kleinen Vogelfüßen, die flügelartigen Arme gehoben, dem Betrachter zugewandt. Für die horrende Summe von tausend Reichsmark erwarb der Philosoph Walter Benjamin das Blatt. Zwanzig Jahre später, kurz vor seinem Freitod im Exil, schrieb er jene berühmten Zeilen über seine Betrachtung von Klees Bild: „Der Engel der Geschichte muss so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen.“ Doch ein Sturm, vom Paradies herkommend, wo bekanntlich alles begann, treibt das arme Geschöpf unaufhaltsam fort, in die Zukunft, darin uns Menschen allzu gleich. Was geschehen ist, können wir nicht ändern, und manche von uns zerbrechen daran. In dieser Gefahr schwebt Ya’qub. Irgendwann bekennt er selbst, „dass ich nicht wusste, ob ich es ertragen könne, mit meinen Erinnerungen zu leben.“

Rabih Alameddine – Foto: Benito Ordonez

Darum kreist „Der Engel der Geschichte“, um die Erinnerungen eines schwulen Mannes in seinen späten Fünfzigern, um das Mysterium des Erinnerns generell. Zu vergessen sei gut für die Seele, sagt der Tod in einem Gespräch mit Satan, Stimmen, die Ya’qub hört. Diese Gespräche Satans, um den einzigen Ärger gleich loszuwerden, gibt es mehrere Male im Buch. „Die Überlegenheit der westlichen Zivilisation beruht vollständig auf der Fähigkeit, Menschen aus großer Entfernung zu töten“, so Satan. Oder: „Franziskus muss mal ordentlich gefistet werden.“ Beides mag wohl zutreffen, doch der Versuch des Autors, eine Art origineller Kommentar-Ebene zu Ya’qubs Geschichte einzuflechten, erscheint dem Verfasser dieser Zeilen verzichtbar.

Denn im Ganzen liegt vor uns ein wundervolles Buch, farbig und welterfahren, voller Schmerz und Erotik, verspieltem Übermut und berührender Momente. Unentwegt vermischen sich die Ebenen, ein Rausch wie von Drogen, dennoch wird Schicht um Schicht der Blick auf Ya’qubs Leben freigelegt. Da schimmert noch das Weiß der Knochen jenes Zickleins, mit dem der Knabe befreundet war, als er mit seiner Mutter in Kairo im Bordell lebte, behütet im Kreis der Huren und gestreift von einer ersten Ahnung, was ihm Männer dereinst bedeuten werden, oder wenig später das Gewand der katholischen Nonne in Beirut. Nie legt sie es ab, wenn sie auf dem Heranwachsenden reitet. Dort, im Orient, wurzeln die sinnlichen Erfahrungen, die Alameddines Prosa ihre Potenz verleihen und auch seinen Ya’qub geprägt haben, bevor er in den Westen kam. Dort wurde er zum „Sandnigger, weil ich Araber war, Nigger, weil ich schwarz war, Nigger, weil ich queer war, Nigger, weil ich im Exil lebte“.

In groben Zügen gleichen Ya’qubs Erfahrungshintergründe denen seines Schöpfers. Auch Rabih Alameddine kam aus dem Libanon in den Westen und ist ein bekannter Maler und Dichter. Sein Erinnern als einen Fluss zu beschreiben, der sich strömend verbreitert, um schließlich im Ozean der Erkenntnis zu münden, würde ihm nicht gerecht. „Lineares Erzählen ist oft langweilig“, lässt er Satan verkünden. „So etwas gibt’s nur in Hollywoodfilmen und Bestsellern. So funktioniert das Gedächtnis nicht.“ Schlachtruf oder Ausrede? Jedenfalls verweigert sich der Autor den Ansprüchen bequem konsumierbarer Formate und lädt seinem Helden eine besondere Besorgnis auf: Hat mich die Poesie verlassen? Ya‘qub schreibt keine Gedichte mehr, sondern einen Roman, und fürchtet dabei, es wären bloß noch „Flüge eines Geistes mit erschöpften Schwingen“.

Da möge er beruhigt sein! Besonders kraftvoll erhebt sich sein Text immer dort in die Luft, wo ihm kalte Wut als Treibstoff dient. „Ich schaue mir online Videos über die Heimat an, eine Rakete, ein Bulldozer, eine Bombe, die auf eine Wand treffen, das Haus kniet nieder, (…) Drohnenangriffe im Jemen, Autobomben im Libanon (…).“ Und dann fliegt er selber als Drohne los, irgendwo im Nahen Osten, und gibt zu, „dass es mir Spaß gemacht hat, zuzusehen, wie meine Hellfire ihr Ziel traf; das Gefühl belebte meine Schaltkreise.“ Die Passage ist Alameddines bitteres Urteil über US-amerikanische Außenpolitik – nicht erst nach 9/11. „Der Geruch von Napalm am Morgen war unvergleichlich, er überlagerte alles, wie Knoblauch im Essen. Bei meinen Treffern roch ich Feuer, Kordit und Überreste von geröstetem Menschenfleisch.“ Und sogar hier, in der Gluthitze des Wahnsinns, in dieser ätzenden Kriegssatire, ein Rest von Erbarmen. Verletzt stürzt die Drohne ab, liegt hilflos im Wüstensand, und ein Araberjunge kommt über die Düne; beider scheue Annäherung beginnt.

„Ob nun berühmt oder nicht, man möchte in diesem Land nicht mit einem arabischen Namen leben“, heißt es über Ya’qubs Stellung als arabischer Immigrant in den USA. Als junger Schwuler mag er sich zunächst befreit gefühlt haben, der „kleine, fremde braune Muslim“, wie der Tod ihn zärtlich nennt. Doch kaum angekommen, fällt ein Virus über das sonnig durchmischte San Francisco her. Ya’qubs gesamter Freundeskreis wird ausgelöscht, eine lustige Homo-Clique, und auch sein Lebensgefährte stirbt. Nur Ya’qub ist verschont geblieben, ausgerechnet.

„Ich wurde am Leben gelassen, um einsam zu sein.“ Im Prozess des Schreibens als Trauerarbeit schont er seinen Geliebten nicht. „Du hasstest meine Dschellaba und wolltest nicht, dass ich sie trage, obwohl sie dir ungehinderten Zugang zu meinem Arsch gewährte, doch nein, du wolltest, dass ich meinen braunen Hintern in enge Jeans zwänge.“ Ya’qub spricht fließend englisch, arabisch und französisch, kennt sich aus in der europäischen Geistesgeschichte. Aber wurde er wirklich ernst genommen? „Hast du mich geliebt oder liebtest du eine minderwertige Version von mir?“, fragt er seinen toten Partner, einen Kinderarzt. Schließlich ahnen wir, wie viel Spott Ya’qub ob seiner intellektuellen Ambitionen erfahren hat. Einen Eintrag unterschreibt er als „Deine ernste und naive Negerschwuchtel“.

In der Psychiatrie-Ambulanz, bevor der Arzt erscheint, führt eine arglose junge Therapeutin mit den Patienten ein Vorgespräch. Sie fragt Ya’qub, wie er seinen Partner verloren hat. „Aids“, sagte ich, „wir sind alle an Aids gestorben.“ Der Satz hinterlässt eine tiefe Stille.

Und unser Held? Er wollte bloß ein paar Tage aus dem Verkehr gezogen werden, zur Ruhe kommen, doch als er leichtfertig angibt, sich nicht umbringen zu wollen, schicken sie ihn nach Hause, abgespeist mit Antidepressiva, und er kehrt zurück in die Wohnung, die einmal eine gemeinsame war. Heute wartetet dort nur noch ein Kater. Der heißt übrigens Behemoth, eine Referenz an den russischen Kollegen Michail Bulgakow, einen Meister phantastischen Erzählens.

Schreiben, um zu überleben. Trifft es nicht auch aufs Lesen zu? „Der Engel der Geschichte“ ist so ein Buch. Wünschen wir uns, dass der Verkauf den ehrgeizigen Albino-Verlag ermutigt, noch weitere Titel Alameddines ins Deutsche übersetzen zu lassen. Ein Spinner! Ein Irrer! Ein Engel! Solche brauchen wir hier!




Der Engel der Geschichte

von Rabih Alameddine
aus dem Amerikanischen von Joachim Bartholomae

Gebunden mit Schutzumschlag, 304 Seiten, 24 €,
Albino Verlag