Marvin
Trailer • DVD / VoD
Martin Clement, geboren als Marvin Bijou, ist entkommen: dem Dorf seiner Kindheit, der Tyrannei seiner Eltern, den Schikanen seiner Mitschüler. In Paris, dem Ort seiner Zuflucht, bereitet er mit der Schauspielerin Isabelle Huppert die Uraufführung seines autobiographischen Debütdramas vor. Die Geschichte von Marvins schwuler und intellektueller Befreiung aus den Untiefen der französischen Provinz erinnert nicht zufällig an Édouard Louis‘ bahnbrechenden queeren Bildungsroman „Das Ende von Eddy“ (2014). Inspiriert von der Biografie des Autors entwickelt Regisseurin Anne Fontaine in „Marvin“ eine eigene, künstlerisch-humanistische Perspektive auf das Thema. Den berührenden Coming-of-Age-Film, der im vergangenen Jahr in Venedig mit dem Queer Lion ausgezeichnet wurde, gibt es jetzt auf DVD und VoD.
Marvin. Gai.
von Matthias Frings
Wie oft haben wir diese Ur-Szene (fast) jeder schwulen Biografie schon im Film gesehen, in Romanen gelesen: Der Junge – zart zumeist, ein wenig verschreckt, gewohnt an Schikane – wird vom Schulbrutalo aufgemischt. Schubsen, Rempeln, Hiebe, Beleidigungen. Homo, schwule Sau, Schwuchtel. Haben wir sie zu oft gesehen, zu oft gelesen? Ist ihr nicht inzwischen jeder Inhalt abhandengekommen, so wie man „New York, New York“ buchstäblich nicht mehr hören oder die Mona Lisa nicht mehr sehen kann? Stellt sich inzwischen vielleicht erst durch die Wiederholung der ewig gleichen Bilder eine Realität her, die es so schon längst nicht mehr gibt?
Für Marvin, den Titelhelden dieses Films dreht sich jedenfalls alles um diese existentielle Grunderfahrung. Marvin ist stets das und der Andere und er wird es immer sein. Dabei muss Ausgrenzung nicht mal unbedingt in Gewalt münden, sie kann auch in ein hämisches Lächeln verpackt sein oder sogar – wie in diesem Film – in einem edlen Jaguar heranbrausen. Marvin, der hier gewiss nicht zufällig den Namen eines berühmten Afroamerikaners trägt, ist immer der Fremde. Beschimpft und geschlagen in der Schule, beschimpft und verlacht in der Familie. Und an die Haltestelle des Schulbusses hat jemand „Tod den Schwulen“ gesprüht. Jahre später, wenn er sich freigeschwommen hat und versucht, in der leuchtenden Metropole Paris aus seiner sozialen Dysfunktionalität eine Lebenshaltung zu gewinnen, wenn er mit Intellektuellen Rotwein trinkt und mit Industriellen Champagner, bleibt er dort genauso außen vor wie in seinem provinziellen Dreckskaff mit dem fiesen Dialekt und der noch fieseren Arbeitslosigkeit. Marvin hat keinen Ort, nirgends.
„Marvin“, der Film, spielt an gleich zwei Orten. Regisseurin, Drehbuchautorin und Schauspielerin Anne Fontaine lässt die Erzählung zwischen zwei Lebensstationen ihres Helden hin und her springen. Sie zeigt den Schuljungen mit der Porzellanhaut und den Edelsteinaugen ebenso wie den jungen Mann, der Provinz entkommen, ein bisschen zu ernst geworden inzwischen, ein vorsichtiger Eckensteher in den Schwulenclubs im Marais, aber einer mit Träumen.
Alles hat mit Allem zu tun, also hüpft die Dramaturgie vom Schüler, der von seinem Peiniger ein paar Klassen höher bedrängt wird und dennoch von ihm tagträumt, zum Schauspielschüler, der ein Stück schreibt und auf die Bühne bringen wird, das von der Jugend eines zarten schwulen Jungen in der borstigen französischen Provinz handelt. Konzept also. Könnte mächtig in die Hose gehen, passiert hier aber nicht, weil es spannend zu sehen ist, wie der Film das Leben dieses Marvin abbildet und es im Theaterstück über ihn mit anderen Akzenten gleich noch einmal doppelt. Manchmal nimmt die ansonsten recht konventionell gefilmte Filmbiografie sich Freiheiten heraus, etwa wenn der Pariser Marvin an seinem Theaterstück schreibt und hinter ihm eine Projektion (!) seiner Kindheit im milchigen Vergangenheitslicht erscheint. Spiegelungen über Spiegelungen. Davon später mehr.
Erst einmal zurück aufs Land, zur prekären Familie Marvins, die ihn „Gerippe“ ruft, „Mädchen“, „Schwuchtel“, wo Vattern, ein Gabelstaplerfahrer, den lieben langen Tag in ausgeleierten Frotteeunterhosen rumläuft und die Mutter, ein verschwitzte Blondine, der stets die BH-Träger über die fleischigen Oberarme rutschen, ihrem Kleinen von ihrer ersten Fehlgeburt erzählt: Hat sich wie Verstopfung angefühlt, plopp, hättest du sein können, aber ich bin ja eine gute Legehenne und dein Vater hat große Eier. In dieser Familie herrscht eine robuste, lustvolle Unbarmherzigkeit.
Mit viel widerständiger Kraft stattet der kleine Jules Porier diesen Marvin aus, im Gesicht stets das Gelübde, hier raus zu kommen, nix wie weg – für Myriaden schwule Jungen weltweit ein nur allzu bekanntes Mantra. Dieser Rotschopf (!) wird und will es schaffen.
Fast zuviel des Schlechten, dass diese Familie, der Alptraum eines jeden Sozialromantikers, auch noch Bijou heißt: Juwel. Marvin Juwel – ein Name wie eine herausgestreckte Zunge. Logisch, dass die Schläger der Schule ihn bevorzugt triezen und seinen Kopf auffallend gern an ihre nackte Brust pressen.
Anders ist er ja, keine Frage, aber wie? Er will das herausfinden, fragt den mürrischen Vater, was eine Schwuchtel ist. Der sagt „Das ist eine Geisteskrankheit.“ Und Marvin ist froh, denn wenn er eines weiß, dann, dass er nicht geisteskrank ist. Also kann er auch keine Schwuchtel sein.
Wem diese Geschichte nun furchtbar bekannt vorkommt, dem kann geholfen werden: „Das Ende von Eddy“ von Édouard Louis war vor ein paar Jahren ein großer Bucherfolg, wie auch aktuell sein Nachfolgeroman, „Im Herzen der Gewalt“, beide größtenteils in der trüben, rechtslastigen französischen Provinz spielend.
Hier ist nun ein kleiner Exkurs vonnöten, der uns zu einem sehr erfolgreichen soziologisch-literarischen Dreier führt, zuerst in Frankreich, dann noch erfolgreicher in Deutschland. Es handelt sich um drei Soziologen/Schriftsteller, zwei davon recht jung und Schüler des älteren, die Supremes der Pariser Intellektuellenszene gewissermaßen, bestehend aus ebenjenem Édouard Louis und Geoffroy de Lagsnerie (zusammen mit Louis u.a.: „Manifest für eine politische und intellektuelle Gegenoffensive“) und dem in Deutschland von der Presse hymnisch gefeierten Didier Eribon. Sein Buch „Rückkehr nach Reims“ wurde überall als Erklärstück für den Rechtsruck der französischen Arbeiterklasse gelesen, ist aber – auch nach seinen eigenen Aussagen – viel eher ein queeres Buch, das sich mit Marginalisierung, Ausgrenzung, Fremdsein (!) und vor allem mit einer doppelten Scham auseinandersetzt: der Scham, eine „Schwuchtel“ zu sein und obendrein aus dem Proletariat zu stammen. Eribons Buch wurde von der Berliner Schaubühne als Theaterstück herausgebracht, eine Verfilmung steht bevor.
Beide, Eribon wie Louis erzählen, wie sie als gedemütigte Schwule ihrer proletarischen Familie entkommen sind, im universitären Paris andockten und sich doch immer wieder wie Migranten fühlten, die nicht die richtige Sprache sprechen, die richtigen Codes beherrschen, Falschmünzer eben – was sich als queere Grunderfahrung lesen lässt und das Zentrum dieses Films ausmacht.
Wohlgemerkt: Die Rede ist von Eribon und Louis, nicht von Marvin Bijou in seinem französischen Provinzkaff. Alles klar?
Und dann gibt es noch eine hübsche Volte obendrauf: Das Theaterstück, das unser Titelheld Marvin Bijou in Paris zur Aufführung bringt, heißt nicht ohne Grund „Wer hat Marvin Bijou umgebracht?, denn er hat in der Kapitale diesen grotesken Namen in einen gewöhnlichen geändert: Martin Clément. Genau das hat auch Édouard Louis gemacht, der in Wirklichkeit Eddy Bellegueule heißt, was seine Jugend nicht gerade erleichtert haben dürfte – Bellegueule: schöne Fresse. Et voilà, soviel zum Thema Spiegelungen und Dopplungen.
Man hört, Louis sei von der Filmbearbeitung seines Romans nicht überzeugt gewesen und man habe deshalb Titel wie Rollennamen ändern müssen – egal, denn für den Zuschauer zählt nur das, was er sieht, nicht das, was nicht zu sehen ist.
Ziehen wir also mit unserem fast erwachsenen Marvin (der talentierte, aber ein wenig steife Finnegan Oldfield) nach Paris und sehen ihm beim Häuten zu, wie er versucht, seine Herkunft abzuschütteln, man könnte auch sagen, sich zu verleugnen. Sichtbares Zeichen dafür sind die neuen Zähne (!), die er sich machen lässt, bezahlt von einem älteren schwerreichen Liebhaber. Da schämt sich ein Schwuler seiner Herkunft aus der Arbeiterklasse, will sich hochvögeln, ein Spießer werden, keifen die intellektuellen Freunde. Und eine weitere Verführung taucht im wehenden Sommerkleidchen auf, die Verführung zu Karriere und Protektion in Form von Isabelle Huppert, die sich hier als gar nicht mal so unfreundliche kleine Pissnelke selbst spielt und parodiert und en passant das gesamte Ensemble an die Wand klatscht.
Leider ist diese Bürgerwelt dem Buch wie der Regie mächtig stereotyp geraten: Jaguar plus Champagner und Barockmusik vor Eifelturm und Seineglitzern – das ist freundlich ausgedrückt nicht gerade subtil. Und auch die alte Gefahr französischer Filme, anschwellende Geredelawinen mit einem Überfluss an Ausrufezeichen macht hier nicht immer Freude. Die Interpretation muss nicht stets in Großbuchstaben mitgeliefert werden, am Denken möchte der Zuschauer sich schon noch lieber selber versuchen, merci beaucoup.
Am Ende findet der leicht unrunde Films seinen Ton wieder, zieht mit seinem nun erfolgreichen Protagonisten noch einmal in die Provinz zur Prollfamilie und macht dort eine verblüffende Entdeckung: Sie sind Menschen, diese Mutter, dieser Vater, diese Geschwister, schwer auszuhalten oft, aber ohne sie, wäre Marvin nur das Produkt einer schlechten Verdauung gewesen, nur fast eine Geburt.
Marvin
von Anne Fontaine
FR 2018, 115 Minuten, FSK 12,
französische OF mit deutschen UT,
Edition Salzgeber
Hier auf DVD.