Mr. Gay Syria

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Ein LGBTI*-Blogger aus Damaskus hat in Deutschland Asyl beantragt, ein schwuler Familienvater aus Aleppo ist auf seiner Flucht in Istanbul gestrandet. Beide haben einen Traum: Beim nächsten „Mr. Gay World“-Wettbewerb in Malta soll ein Mann aus Syrien teilnehmen. Der Dokumentarfilm von Ayşe Toprak begleitet die beiden zwischen Aktivismus, Freiheitsträumen und der Sehnsucht nach Sichtbarkeit – wenn es sein muss: in Speedos und auf High Heels.

Foto: COIN Film

Flucht auf den Laufsteg

von Toby Ashraf

Huseins Tochter heißt Salam. Salam hat im Arabischen viele Bedeutungen. Am bekanntesten ist wohl „Frieden“ oder der Gebrauch von „Salam!“ in der gängigen arabischen Begrüßungsformel „Friede sei mit dir!“. Als Husein seine kleine Tochter im Exil in Istanbul begrüßt und auf den Arm nimmt, hat er die Wahl zum „Mr. Gay Syria“ bereits gewonnen. Er spricht in die Kamera der Dokumentarfilmregisseurin Ayşe Toprak über sein Schwulsein, das er vor seiner Familie aber versteckt hält. Salam versteht das wohl noch nicht, muss sich Husein beim Interview denken. Eines Tages wird er es ihr sagen, das erzählt er uns auf arabisch, während er die Zweijährige auf dem Arm hält. Mit Frieden hatte ihr Leben zuletzt nichts mehr zu tun. Sie sind gemeinsam aus Afrin bzw. Aleppo in die Türkei gekommen, weil sie keine andere Möglichkeit gesehen haben zu überleben.

Dass Huseins Familie zusammen mit ihm vor dem Krieg in Syrien geflohen ist und sich in der gleichen Stadt aufhält, ist die Ausnahme. Die meisten schwulen, syrischen Männer im Film sind allein gereist. Husein führt ein Doppelleben. Sechs Tage die Woche arbeitet er in Istanbul als Friseur, an einem Tag ist er Familienvater.

Husein ist Teil einer Handvoll Protagonisten in dieser brüchigen und sprunghaften Bestandsaufnahme einer hauptsächlich schwulen, syrischen Diaspora, die sich auf der Zwischenstation Istanbul gebildet hat. Das Ziel ist Europa – oft Deutschland, aber auch Norwegen. Erst einmal ist es jedoch Malta, wo die „Mr. Gay World“-Wahlen stattfinden, und wo Husein als erster Bewerber aus einem homophoben arabischen Land eine Vertreterfunktion übernehmen, aber auch für die Sache der Geflüchteten werben soll.

Die weltweit gewählten Landesvertreter der Schwulen winken später im Film strahlend, in knappe Speedos gekleidet und mit sich irritierend ähnelnden Körpern, in eine Handykamera. Strand, Sonne, Malta. Der Kontrast zur Tristesse Istanbuls zwischen Winter und Polizeigewalt gegen LGTBI*-Demos könnte nicht deutlicher ausfallen. Was diese „Mr. Gay Syria“-Wahl eigentlich soll, fragt man sich ohnehin ein ums andere Mal.

Foto: COIN Film

Aber das fragt sich auch der Film: Mahmoud Hassino, der mittlerweile für die Berliner Schwulenhilfe arbeitet, ist selbst aus Syrien geflohen, ist Journalist, Aktivist, Sozialarbeiter. Er hat den Wettbewerb ins Leben gerufen und will aufmerksam machen auf die Geflüchteten in einem Zufluchtsland, das zunehmend homophober wird. Vom Gedanken der „Umsiedlung“ ist in den Untertiteln zu lesen. Wie genau die große politische Strategie aussieht, bliebt bis zum Ende nicht ganz klar. Visas werden abgelehnt, Mahmoud kann jedoch nach Deutschland reisen. Man sieht ihn zwischendurch in Berlin beim schwul-lesbischen Straßenfest als PR-Agent der Sache „Mr. Gay Syria“. Ein anderer Geflüchteter und Gestrandeter schafft es nach Norwegen. Der Rest bleibt erstmal in Istanbul hängen.

Foto: COIN Film

Nein, viel erklärt uns Ayşe Toprak, die mit „Mr. Gay Syria“ ihren ersten Kinofilm gemacht hat, zu Beginn nicht. Der eigentliche Wettbewerb ist nach einer halben Stunde schon passé, Protagonisten kommen, bleiben oder gehen, und es macht sich eine gewisse Unruhe breit in diesem Film. Das passt zum Thema, denn hier sind eigentlich alle nur auf der Durchreise oder warten. Istanbul war nie das Ziel. Eine Zigarette nach der anderen rauchen die Männer. Einen allwissenden Kommentar gibt es hier nicht, stattdessen Stationen einer Flucht. Hier und da. Anrufe auf dem Smartphone, Geburtstage auf Skype, weltweit vernetzte Menschen, die warten, dass sie in einem anderen Land leben können.

„Nothing about us without us“ heißt eine große Forderung von zahlreichen Geflüchteten-Bewegungen, und es ist interessant, diesen Claim am Film zu überprüfen. Wird hier wieder einmal etwas aus westlicher Perspektive über Geflüchtete gesagt und ihnen ihre Stimme genommen? Wohl kaum, denn die Protagonisten und Teilnehmer des Wettbewerbs – Isam, Wissam, Omar und Husein, wissen, dass sie gefilmt werden, und lassen die Kameras von Hajo Schomerus und Anne Misselwitz in ihr Privatleben. An einer Stelle wehrt sich Hussein gegen die Aufnahmen eines türkischen Fernsehteams, weil er Angst hat, seine in Istanbul lebende Familie könnte herausbekommen, dass er schwul ist. Im Film wird sein Coming-Out dann aber per Live-Schaltung eines Freundes gezeigt. Mahmoud Hassinos Idee von einer Öffentlichkeitsarbeit in schwuler, syrischer Sache wird von den Protagonisten des Films geteilt. Auch „Mr. Gay Syria“ wird letztlich zum Teil von Hassinos Kampagne, weniger zum Film von Ayşe Toprak, die sich inszenatorisch zurückhält und eher respektvoll und neugierig dokumentiert.

Foto: COIN Film

Bei allem politischen und sozialen Horror, der sich momentan in der Welt ereignet – sei es in Syrien, der Türkei oder Deutschland – sind es die schönsten Momente im Film, in denen zu sehen ist, mit welcher Freiheit und Freude die Überlebenden und Geflohenen sich ausgerechnet in diese Mister-Wahl stürzen. Wie sie sich im Sexshop Outfits kaufen, sich per Tanz auf High Heels ausdrücken oder einen Monolog an die Mutter verfassen. Das improvisierte Event ist schnell vorbei, die Bühne wieder abgebaut und die Realität zurück. Und dennoch hat Mahmoud Hassino mit seiner absurd klingenden Initiative erreicht, dass ein queeres Selbstverständnis zum Ausdruck kommen kann, das vorher und auch aktuell unter Strafe stand bzw. steht.

Von Istanbul bis Afrin sind es knapp 850 Kilometer, und an der türkisch-syrischen Grenzen beginnt und endet der Film. Manche Wege führen zurück, andere heraus und manche gehen nicht weiter. Husein lebt weiter in Istanbul, seine Tochter mittlerweile nicht mehr. Er sei Opfer einer Gesellschaft, die ihn nicht akzeptierte, sagt Hussein. Seine Frau sei es auch. Friede sei mit ihnen.




Mr. Gay Syria
von Ayşe Toprak
FR, DE, TK 2017, 87 Minuten, FSK 0,
arabisch-deutsch-türkisch-englische OF mit deutschen UT,
COIN Film im Vertrieb der Filmwelt Verleihagentur

Ab 6. September hier im Kino.

 

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