Lesbisch schwule Filmtage Hamburg 2018
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Nach fünf prall gefüllten Festivaltagen mit 65 Filmvorstellungen und insgesamt 123 Lang- und Kurzfilmen sind am vergangenen Sonntag die 29. Lesbisch schwulen Filmtage Hamburg zu Ende gegangen. Den Jurypreis des größten und ältesten queeren Filmfestivals Deutschlands hat in diesem Jahr der libanesische Essayfilm „Room for a Man“ von Anthony Chidiac gewonnen. Eine lobende Erwähnung ging an den Dokumentarfilm „Silvana“ des schwedischen Regiekollektivs von Olivia Kastebring, Mika Gustafson und Christina Tsiobanelis. Den Publikumspreis erhielt das lesbische Liebesdrama „My Days of Mercy“ von Tali Shalom-Ezer mit Ellen Page und Kate Mara in den Hauptrollen. Für sissy waren Britta Voß, Nilufar Karkhiran-Khozani, Doreen Kropp und Klaus Braeuer auf dem Festival unterwegs und präsentieren uns hier ihre Entdeckungen.
Versprechungen von oben
von Britta Voß
Wir alle wissen: Teenager sein, das ist schon an sich nicht leicht. Im strenggläubigen Bible Belt der USA aufzuwachsen, vereinfacht diese turbulente Phase nicht unbedingt. Wer dann wie Cameron Post auch noch lesbisch ist, findet sich unter Umständen sogar in einem religiös motivierten Umerziehungslager wieder, in dem mit Fronarbeit und Gebet der homosexuelle Teufel ausgetrieben werden soll. „God’s Promise“ heißt das Camp im Nirgendwo, in das Cameron gebracht wird, nachdem sie beim Sex mit ihrer Freundin erwischt wurde. Hier soll ihre gleichgeschlechtliche Neigung mit fragwürdigen Mitteln geheilt werden. Doch glücklicherweise ist Cameron wach und klar genug, um die Methoden zu durchschauen, und sie findet zwei Verbündete unter den anderen Bewohnern.
Obwohl der Film im Jahr 1993 spielt, ist Desiree Akhavans zweiter Langfilm nach dem viel beachteten „Appropriate Behavior“ (2015) immer noch von erschreckender Aktualität. Nur in neun US-Bundesstaaten ist – Stand heute – die Konversionstherapie bei homosexuellen Jugendlichen explizit verboten. Vor möglicherweise verheerenden Folgen macht „The Miseducation of Cameron Post“ trotz eher amüsant-ironischem Erzählstil nicht Halt. Damit hebt er sich ab von Jamie Babbits perlipopbuntem „But I’m a Cheerleader“ (1999), der in puncto Handlung und Figurenzeichnung an manchen Stellen doch mehr als nur etwas durchscheint.
The Miseducation of Cameron Post
von Desiree Akhavan
US 2018, 91 Minuten, englische OF mit deutschen UT
Eine ganz normale Familie
Es ist 1985, Madonna singt „Like a Virgin“, und Adrian, ein junger Mann aus New York, der vor Jahren seinem konservativen Elternhaus den Rücken gekehrt hat, kommt zum Weihnachtsfest nach Hause. Trotz des vordergründig freudigen Wiedersehens findet die Familie im von rigiden Moralvorstellungen geprägten Texas kaum zueinander. Im Adrians Kinderzimmer hängen noch die Fetzen eines abgerissenen Rockposters, die eine ferne Freiheit andeuten. Eine Freiheit, die von den Auswirkungen von Aids jäh gekappt wurde. Für Adrian bedeutet die HIV-Diagnose den baldigen Tod.
Regisseur Yen Tan zeigt damit das Destillat aus Erfahrungen einer Generation schwuler Männer im Amerika der 1980er. Die schemenhaft dargestellten Protagonisten geben dank großer schauspielerischer Leistungen in akkurat dosiertem Text der Zerrissenheit innerhalb der damaligen US-Gesellschaft ein Gesicht. Fotografiert in Schwarz-Weiß, offenbart „1985“ im Einsatz der filmischen Mittel eine feine Kunstfertigkeit und ermöglicht so den Blick auf ein Stück queere Geschichte, ohne voyeuristisch zu wirken. Yen Tan öffnet den Raum für das Unausgesprochene, das im Rauschen der Filmkörnung verklingt, und die Gefühle, die auch beim Publikum, dem Outing und Stigmatisierung nach wie vor vertraut ist, mitschwingen. Beim Öffnen dieses exemplarischen Familienalbums mögen manche tatsächlich einen Stich verspüren. Als betrachte man das Gefühl einer Ära in einer Glasvitrine.
1985
von Yen Tan
US 2018, 85 Min. englische OF mit deutschen UT
Zu allererst Mensch
von Doreen Kropp
Der Dokumentarfilm „Genderblend“ begleitet fünf junge Niederländer*innen, die sich weder eindeutig als Mann noch als Frau fühlen. Der Film von Sophie Dros überzeugt durch seinen intimen, wertschätzenden Blick auf das Leben seiner Protagonist*innen. Wir begleiten sie zum Fußballgucken in die Kneipe oder zur Friseurin. Beim Bezahlen stellt sich die Frage: „Frauen- oder Männerhaarschnitt?“ Antwort: „Ist mir egal.“
Besonders berührend ist die Stärke der Menschen, die wir im Laufe des Films kennenlernen. Wie die Zwillinge Anne und Lisa Bosveld, die immer einen witzigen Spruch parat haben, sich aber auch ganz verletzlich vor der Kamera zeigen. Manche Szenen sind unfreiwillig komisch. Das Lachen hat jedoch oft auch einen bitteren Beigeschmack. Denn der Film macht deutlich, dass Menschen, die sich nicht eindeutig einem Geschlecht zuordnen, es bis heute schwer im Leben haben. Jobsuche, Dating, aber auch ganz Alltägliches werden oft zur Herausforderung. Daher wünscht sich Selm Wenselaers, eine der porträtierten Personen, „dass Menschen begreifen, dass ich zuallererst Mensch bin“.
„Genderblend“ ist ein Film für alle, die sich selbst nicht in der Binarität der Geschlechter verorten. Hier kann man gemeinsam mit den Protagonist*innen über die Widrigkeiten des Lebens lachen. Aber auch alle, die mit den Begriffen „gender queer“ und „gender fluid“ bisher wenig anfangen konnten, bekommen in diesem Film Identifikationsangebote. Letztendlich geht es ums Menschsein – mit all seinen alltäglichen Ängsten, Wünschen und Sehnsüchten. Nach dem Film weiß man darüber vielleicht wieder ein wenig mehr.
Genderblend
von Sophie Dros
NL 2017, 68 Min., niederländische OF mit deutschen UT
Tiefe Verlorenheit
von Klaus Braeuer
Pedro (Shico Menegat) ist ein junger Mann, der in der brasilianischen Stadt Porto Alegre mit seiner Schwester Luiza (Guega Pacheco) zusammenlebt. Als sie von der tristen Wohnsiedlung wegzieht, bleibt er allein zurück und widmet sich einer Tätigkeit, mit der er zumindest etwas Geld verdienen kann: Er bemalt seinen glatten Körper mit bunten Neonfarben, löscht das Licht und setzt oder legt sich vor den Computer. In einem Chatroom schauen ihm andere Männer dabei zu, wie er sich als „NeonBoy“ streichelt und auf dem Bett räkelt. Eines Tages bemerkt er, dass ein Unbekannter seine Shows abkupfert. Er trifft sich mit dem jungen Mann und will ihn eigentlich zur Rede stellen, doch es kommt anders – er landet mit Leo (Bruno Fernando) im Bett. Ganz allmählich verlieben sie sich und arbeiten zusammen vor der Kamera.
Das klingt nach einem Film mit Happy End, doch so einfach machen es sich die beiden jungen Filmemacher Marcio Reolon (34 Jahre alt) und Filipe Matzembacher (30) nicht. Sie stammen beide aus Porto Alegre und haben diese Stadt bereits in ihrem ersten gemeinsamen Film „Beira Mar“ (2015) und der Mini-Serie „Das Nest“ (2017) porträtiert. Besonders schön ist es dort in „Tinta Bruta“ ganz offensichtlich nicht: Die Häuser sind grau, die Wohnungstüren werden gleich mehrfach verrammelt und verriegelt, und die Menschen kümmern sich nur um sich selbst. Im Film ist es meistens dunkel, draußen wie drinnen, und die Menschen kapseln sich ein.
Für Pedro gilt das ganz besonders. Er war aufgrund einer Schlägerei von der Schule geflogen, Luiza hat ihm Halt gegeben, später macht das Leo. Diese zwischenmenschlichen Beziehungen droht er nach und nach zu verlieren: Erst verlässt Luzia die Stadt, dann will auch Leo weg. Trost findet Pedro bei seiner Großmutter, vor allem nach der Flucht vor einem Typen, der ihn ausnehmen will. Hauptdarsteller Shico Menegat verleiht Pedro eine tiefe Traurigkeit und eine Verlorenheit, die später zwar einer Verliebtheit etwas Platz macht, die er aber nie ganz ablegen kann. Er ist in praktisch jeder Szene zu sehen, dabei oft mit in einer Großaufnahme seines Gesichts. Die Sequenzen mit den Neonfarben, die auf und im Körper (seinem Mund) leuchten, sind besonders eindrucksvoll, weil sie mit ihren sinnlichen Effekten die Sehnsucht nach Liebe, Anerkennung und Zärtlichkeit widerspiegeln.
Reolon und Matzembacher haben einen erotischen und atmosphärischen, sehr aktuellen und politischen Film gedreht, der ruhig erzählt ist und durch den Einsatz von Handkameraaufnahmen in zentralen Momenten beschleunigt wird. Die Regisseure machen die Gier nach Geld und Macht, aber vor allem die zunehmende Homophobie in breiten Teilen der Gesellschaft deutlich. Das wird sicher nicht besser werden, wenn die Stichwahl um das brasilianische Präsidentenamt am kommenden Sonntag so ausgeht, wie zu befürchten steht – und der Ex-Militär und Rechtspopulist Jair Bolsonaro, der regelmäßig gegen Homosexuelle, Frauen, Künstler, Indigene und Schwarze hetzt, gewinnen wird. Es ist nicht anzunehmen, dass sich Bolsonaro für eine Annäherung der Parallelwelten einsetzt, die „Tinta Bruta“ so eindrücklich zeigt.
Tinta Bruta
von Filipe Matzembacher & Marcio Reolon
BR 2018, 123 Min., portugiesische OF mit deutschen UT
Geschichtsstunde für die Generation Netflix
von Britta Voß
Lesbische Figuren im Film haben es über Jahrzehnte hinweg nicht leicht gehabt. Entweder, es gab sie schlichtweg nicht. Oder aber ihre Chancen, das Ende der Geschichte zu erleben, waren äußerst gering. Überspitzt gesagt galt lange Zeit: Lesbe tot, Ende gut. Hauptsache, die soziale Ordnung war pünktlich zum Abspann wiederhergestellt.
Caroline Berler zeigt in ihrem Dokumentarfilm „Dykes, Camera, Action!“ Filmemacherinnen, die genau das geändert haben und für die lange überfällige Sichtbarkeit von Lesben gesorgt haben. Indem sie einfach selbst die Filme gedreht haben, die sie gerne sehen wollten. Sie hätten es schlichtweg satt gehabt, deprimiert aus dem Kino zu kommen, berichten etwa Rose Troche und Guinevere Turner, die mit „Go Fish“ (1994) einen wichtigen Beitrag zum New Queer Cinema der frühen 90er lieferten. Eindrucksvoll ist auch der Verve der heute fast 80-jährigen Barbara Hammer, die Anfang der 70er Jahre mit lesbischen Experimentalfilmen wie „Dyketactics“ (1973) Pionierarbeit leistete. Wie bei vielen anderen auch ist das filmische Schaffen bei ihr eng verknüpft mit politischem Aktivismus.
„Dykes, Camera, Action!“ ist eine schöne und kurzweilige Zusammenfassung für alle, die jahrelang jeden noch so kleinen lesbischen Krümel aus den Nebenhandlungen und Subtexten von Filmen gepult haben, um endlich einmal Gleichgesinnte auf der großen Leinwand zu sehen. Für die Generation Netflix sollte er Pflichtprogramm sein.
Dykes, Camera, Action!
von Caroline Berler
US 2018, 58 Minuten, englische OF
Filmen gegen die Einsamkeit
Anthony Chidiac öffnet in seinem Essayfilm „Room for a Man“ die Tür für die Kamera manchmal nur einen Spalt breit. An der Transformation seines Zimmers in Beirut über die Jahre vollzieht sich die kritische Auseinandersetzung mit der Umwelt, mit Träumen von Sehnsuchtsorten und mit Begehren. Der radikal persönliche Film verhandelt soziale Ungleichheit und maskuline Normen – und verfolgt diese weit zurück.
Der Filmemacher lässt seine Eltern und Verwandte, aber auch junge syrische Arbeiter zu Wort kommen. Mit großem Bewusstsein für die Bedeutung der beiläufigen Szenen zeichnet er sein Verhältnis zu einer ihm fremden Außenwelt nach. In einem Arrangement von Fragmenten werden die verschiedenen Stimmen und Bilder aufwendig miteinander verwoben und verdichtet. Er versteht es aber auch, den Selbstbezug immer wieder mit ästhetischen Mitteln aufzubrechen und lässt eine französische, weibliche Erzählerstimme aus dem Off erklingen, statt selbst zu sprechen.
Die vier Jahre dauernde Arbeit an der Erkundung von sexueller Identität, die in einem von patriarchalen und kapitalistischen Strukturen geprägten Umfeld keine Heimat findet, habe ihn vollständig ausgefüllt, erklärt Chidiac nach dem Film dem Publikum. Der Regisseur stellt seine Protagonisten voller Feingefühl dar und ohne ihre Widersprüche aufzulösen. Dabei scheut er sich nicht, seine eigene verletzliche Position zu offenbaren. Es sei ein schmaler Grat für ihn gewesen, mit sich und seinen engen Bezugspersonen zu arbeiten, erklärt er. Die Einsamkeit, sich nirgendwo zugehörig fühlen zu können, verspüre er noch heute.
Room for a Man
von Anthony Chidiac
LI/US 2017, 77 Min., arabisch-französisch-spanische OF mit deutschen UT
Große Gefühle
von Doreen Kropp
Lucy kniet vor ihrem kleinen Bruder Ben und klebt vorsichtig ein Pflaster auf sein blutendes Knie. Seit Lucy vor sieben Jahren die Leiche ihrer Mutter in einer Blutlache im Wohnzimmer gefunden hat, sitzt der Vater im Gefängnis – im Todestrakt. Ihm wird vorgeworfen, seine Frau umgebracht zu haben. Lucy und ihre ältere Schwester Martha scheuen keine Mühen, um die Unschuld des Vaters zu beweisen, auch wenn sie dabei bis an finanzielle und emotionale Belastungsgrenzen geraten. Sie haben sich den Protesten gegen die Todesstrafe angeschlossen. Mit ihrem uralten Campingbus fahren die drei Geschwister zu Hinrichtungen in verschiedene US-Bundesstaaten. Dabei lernt Lucy Mercy kennen. Mercy und ihre Familie gehören zur Gegenseite – sie sind für die Todesstrafe. Trotzdem nähern sich die beiden Frauen an. Derweil wird die Zeit bis zum Hinrichtungstermin des Vaters immer knapper …
Legt die Taschentücher bereit, denn es wird emotional! Exzellent gespielt von Ellen Page (Lucy), Kate Mara (Mercy) und Amy Seimetz (Martha), verbindet Tali Shalom Ezers zweiter Langfilm „My Days of Mercy“ geschickt persönliche Tragödie und lesbische Coming-of-Age-Geschichte mit politischem Kommentar. Und entfaltet dabei eine ganz eigene Spannung. Der Film zeigt, wie sich zwei Frauen in einer schwierigen Lebenssituation ineinander verlieben. Auch wenn die Themen des Films speziell wirken mögen, zeigt er letztendlich eine ganz universelle Geschichte von Leid, Trauer, Wut, Zuneigung und Liebe, die selbst politische und gesellschaftliche Gräben überwindet. Wer keine Scheu davor hat, mit den Protagonistinnen auch die schlimmen Gefühle zu durchleben, dem sei der Film wärmstens empfohlen.
My Days of Mercy
von Tali Shalom Ezer
US/UK 2017, 103 Minuten, englische OF mit deutschen UT
29. Lesbisch schwule Filmtage Hamburg
16.-21. Oktober 2018
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