The Cakemaker
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Der Berliner Konditor Thomas hat eine Affäre mit Oren, einem verheirateten Mann aus Israel. Als Oren tödlich verunglückt, reist Thomas nach Jerusalem zu dessen Frau Anat und dem kleinen Sohn, heuert im Café der Familie als Bäcker an und hat mit seinen deutschen Kuchen riesigen Erfolg. Doch je tiefer er in das früherer Leben des Geliebten eintaucht, desto größer wird auch die Lüge, die zwischen ihm und Anat steht. Was ein wenig wie ein schnulziger Obsessions-Thriller klingt, entwickelt der in Berlin lebende israelische Regisseur Ofir Raul Graizer zu einem sensiblen Liebes- und Trauerfilm, der still und entschlossen vermeintliche Kultur- und Begehrensgrenzen überschreitet. Für sissy schreiben gleich zwei Autoren über den israelischen Oscar-Kandidaten „The Cakemaker“: Andreas Köhnemann ist beeindruckt, wie nah der Film seinen Figuren kommt, den anwesenden und den abwesenden. Philipp Stadelmaier schaut sich den Film vor allem mit seinem Magen an – und hat danach Lust auf Kirschtorte.
Der unsichtbare Dritte
„Liebe geht durch den Magen“, heißt es. Auch der israelische Drehbuchautor und Regisseur Ofir Raul Graizer spürt in seinem Langfilmdebüt „The Cakemaker“ dem Zusammenhang zwischen gutem, elegant zubereitetem Essen und intensiven Gefühlen nach. Schon die erste Sequenz erzählt davon: Der in Jerusalem lebende Geschäftsmann Oren, der für eine deutsch-israelische Stadtplanungsfirma tätig ist, sucht bei seinem monatlichen Berlin-Aufenthalt seine Stammkonditorei auf und lässt sich von dem jungen Bäcker Thomas eine Schwarzwälder Kirschtorte servieren. Noch wichtiger und aussagekräftiger als die ungemein appetitliche Großaufnahme der klassisch-traditionellen Köstlichkeit sind Orens Blicke. Etwa in dem Moment, in dem Thomas den Teller mit dem Tortenstück auf den Tisch stellt. Oder wenn Orens Augen nach dem ersten, erkennbar genussvollen Bissen in Thomas’ Richtung wandern.
Graizer benötigt nicht viele Bilder und Worte, um uns die Annäherung zwischen den beiden Männern zu vermitteln. Schon wenige Filmminuten später küssen sie sich leidenschaftlich; dann ist ein Jahr vergangen und Thomas und Oren führen eine Fernbeziehung, von einem Berlin-Aufenthalt Orens zum nächsten. Neben diesem geografischen Aspekt wird die Liebe zwischen den beiden durch die Tatsache erschwert, dass Oren in seiner Heimat Ehefrau und Sohn hat. Bemerkenswert ist, wie die Figuren mit dieser Situation umgehen. „Wann war das letzte Mal?“, fragt Thomas seinen Geliebten mit sanftem Lächeln, aber festem Blick – und lässt sich von Oren ausführlich die ehelichen Zärtlichkeiten beschreiben. Man hat nicht das Gefühl, dass Thomas Oren oder sich selbst damit quälen möchte; vielmehr scheint es ihm darum zu gehen, nichts am Gegenüber und Miteinander auszublenden.
Abrupt in die Brüche geht diese Konstellation jedoch, als Oren sich eines Tages nach der Abreise aus Deutschland nicht mehr bei Thomas meldet – und dieser bald erfahren muss, dass Oren bei einem Unfall in Jerusalem gestorben ist. Wenn „The Cakemaker“ dann den Schauplatz wechselt und die Perspektive erweitert, indem er die Lage von Orens Witwe Anat schildert und zeigt, wie Thomas in Jerusalem auftaucht und einen Job in Anats Café annimmt, ohne Anat wissen zu lassen, dass er Oren (sehr gut) kannte, könnte der Film rasch in diverse Fallen tappen. Er könnte zum trivialen Obsessions-Thriller werden, mit Thomas als ominösem Stalker, oder in Seifenoper-Gefilde abdriften, mit überzogener Dramatik und etlichen Zuspitzungen.
Diesen Fallen entgeht das Werk, da es sich in seiner Erzählweise ganz auf die Art seiner Figuren einlässt. Thomas ist ein ruhiger, introvertierter Mensch – und mit entsprechender Zurückhaltung fängt die Inszenierung Thomas’ Handlungen ein. Es gibt keine Wertung, weder eine Verurteilung für das Verschweigen der Wahrheit noch eine aufdringliche Rechtfertigung oder Sentimentalisierung seines Versuchs, Oren weiterhin irgendwie nahe zu sein. Und auch Anat lässt sich in kein dramaturgisches Klischee pressen. Sie ist keine tragisch-ahnungslose Heldin, sondern eine glaubhaft gezeichnete Person, die in aller Widersprüchlichkeit, mit zahlreichen Ecken und Kanten ihren beruflichen und privaten Alltag zu bewältigen versucht. Tim Kalkhof und Sarah Adler verleihen diesen Rollen etwas sehr Authentisches: Es wird klar, dass Thomas und Anat trauern – und es gibt nun mal keine richtige und keine falsche Art des Trauerns.
Zum Herzstück des Films wird eine Sequenz zwischen den beiden in der Küche von Anats Café, die ohne Schnitte, ohne Musik, ohne Ablenkungen auskommt: Als Thomas und Anat gemeinsam für einen Großauftrag Kuchen backen, wird aus Freundlichkeit Liebkosung, aus anfänglichem Zögern körperliche Entschlossenheit. Anat – die zu diesem Zeitpunkt bereits ahnt, dass ihr Mann sie betrogen hat, aber nicht weiß, dass ausgerechnet Thomas dessen Geliebter war – macht die ersten Schritte, Thomas schreckt zunächst zurück, bis er Anats Berührungen endlich zulässt. Nichts in dieser langen Einstellung wirkt choreografiert, nichts herbeikonstruiert. Wunderbar ist zudem, wie sich die Ambivalenz dieser Situation in der nächsten Szene noch einmal in Anats Gesicht widerspiegelt. Mehrmalig-freudiges Auflachen, ungläubiges Strahlen, leichtes Kopfschütteln, sichtbare Zweifel und Tränen – all das vereint dieser Moment, der keine Dialogzeile braucht, um die emotionale Konfusion zum Ausdruck zu bringen, in die Anat und Thomas geraten sind.
Immer wieder gelingt es Graizer, Oren als „unsichtbaren Dritten“ anwesend erscheinen zu lassen, etwa durch ein Kleidungsstück. Weder Thomas noch Anat kriegen den Verstorbenen aus dem Kopf und dem Herzen; er wird von beiden stets mitgedacht, mitempfunden. Das Skript könnte den Figuren endlose Ausführungen über trianguläres Begehren in die Münder legen; stattdessen begnügt sich Graizer mit dezenten Details und einem abschließenden, kitschfrei-anrührenden Blick in den Himmel. „The Cakemaker“ mag von einer Dreiecksbeziehung handeln, die gängigste Zutat „Eifersucht“ wird dabei aber ganz unaufgeregt aus dem Plot-Rezept gestrichen.
So wie die deutsch-israelische Co-Produktion ohne große Worte von fließender sexueller Identität erzählt, befasst sie sich auch präzise und unaufgeregt mit den Themen Religion und Tradition. Anat ist nicht religiös, dennoch ist es für sie – auch aus wirtschaftlichen Gründen – wichtig, dass ihr Café als koscher eingestuft wird. Thomas wiederum zeigt zwar großes Interesse an den jüdischen Ritualen, gerät wegen ihnen in Jerusalem aber oft in die Position des Außenseiters. So kann eine gut gemeinte Tat wie das Backen von Keksen als Geburtstagsüberraschung zum Konflikt führen, da Thomas noch nicht mit allen jüdischen Speisevorschriften vertraut ist. Auch Feinheiten wie diese machen Graizers Film letztlich zu einem Leinwand-Gebäck, das raffinierter ist, als es zunächst vielleicht den Anschein hat.
Ein Magen geht durch die Liebe
Es gibt Filme, die sieht man am besten mit leerem Magen, beziehungsweise unterzuckert. Zum Beispiel „The Cakemaker“ von Ofir Raul Graizer, die israelische Einreichung zu den Oscars 2019. Dieser Film, in dessen Mittelpunkt ein deutscher Kuchenbäcker steht, hält, was der Titel verspricht: Er wartet mit allerhand Kuchen und anderem Süßgebäck auf. Der Kuchenmacher, Thomas, gespielt von Tim Kalkhof, backt Schwarzerwälder Kirschtorten und Mohnstrudel, Zimt- und Butterkekse, Mohnecken und Gugelhupf. Alles natürlich nach alter deutscher Backkunst, denn Thomas hat ursprünglich in der Bäckerei seiner Großmutter gelernt. Für den Film bedeutet das: Foodporn vom Feinsten. Auf die Spitze treibt dies die Nahaufnahme eines Stück Schwarzwälder in Nahaufnahme, die Kirsche fast schon anzüglich auf dem Sahnehügel drapiert. Zum Reinbeißen.
Das Close-up der Schwarzwälder findet sich gleich zu Anfang des Films. Thomas, der in einem kleinen Berliner Café arbeitet, hat es einem Gast an den Tisch gebracht, der gut, aber mit starkem Akzent Deutsch spricht: Oren (Roy Miller) ist aus Israel gerade auf Geschäftsreise in Berlin. Offensichtlich ist er von der Schwarzwälder sehr angetan, offensichtlich auch von Thomas. Er schlägt ihm vor, ihn zu begleiten, um ein Geschenk für seinen Sohn in Israel einzukaufen. Eine Szene später küssen sie sich. Wieder eine Szene später ist ein Jahr vergangen, und Thomas und Oren blicken auf eine lange Affäre zurück, die sie immer dann fortsetzen, wenn Oren für seinen Job in Berlin ist. Oren fährt nach Israel zurück, Thomas kann ihn nicht mehr erreichen. Einige Tage später erfährt Thomas, dass Oren in Israel bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist.
Der Film springt nach Jerusalem, wo wir bei Orens Frau Anat (Sarah Adler) landen. Auch die betreibt ein Café. Und in dem taucht dann auf einmal, wie aus dem Nichts, Thomas auf. Auf der Suche nach Antworten auf die Frage, wie Oren ums Leben kam, sehnsüchtig nach Tuchfühlung mit dem Leben seines verstorbenen Lovers. Thomas erzählt Anat nicht, wer er ist und dass er Oren kannte. Er fragt nur, ob er bei ihr arbeiten kann. Und so beginnt er in Jerusalem seine Köstlichkeiten zu backen, die Anats Café zunehmend beliebter machen – und Thomas und Anat näher zusammenbringen.
Dies alles geschieht schnell und still. Thomas ist nämlich vor allem sehr diskret. Er redet nicht viel. Schon gar nicht über Oren. Wenn er was sagt, dann meistens nur, um zu bestätigen, dass er verstanden hat, was der/die andere gesagt hat („okay“), um seinen Pragmatismus unter Beweis zu stellen (eine Großbestellung in nur wenigen Tagen zubereiten? – „machbar“). Oder um seine Demut zu demonstrieren, wenn es zum unvermeidlichen Clash mit jüdischen Sitten kommt: Nachdem er anfangs einen koscheren Ofen in der Backstube benutzt hat, betont er bei einer späteren Gelegenheiten, dass er was gelernt hat („I didn’t use the oven.“)
Regisseur Graizer, der selbst zwischen Israel und Deutschland lebt, als Koch gearbeitet hat, Kochkurse in Berlin anbietet und Mitte November neben dem Film noch ein Kochbuch mit israelisch-palästinensischen Familienrezepten bei Suhrkamp veröffentlicht, stellt Thomas’ Diskretion in den Vordergrund, und diese Diskretion erzählt, diskret und im Verborgenen, noch eine andere Geschichte: die Geschichte eines Organs, das ebenfalls diskret und unter der Oberfläche arbeitet. Nämlich die Geschichte eines Magens.
Liebe, so ein Binsenweisheit, geht durch den Magen. Wer kocht oder backt, verführt, und dies lässt sich auch auf „The Cakemaker“ anwenden: Sowohl Oren als auch Anat kommen Thomas näher aufgrund seiner Backkünste. Zu ihrer ersten körperlichen Annäherung kommt es in der Küche; am Ende schlafen sie miteinander genau dort, wo der Teig ausgerollt werden sollte, und so wirkt die schöne, lange und langsam Sexszene wie ein geduldiges Ausrollen des Teiges.
Für den Film kann man das Sprichwort aber auch umdrehen: Ein Magen geht durch die Liebe. Das heißt: Er marschiert durch die Welt, auf der Suche nach Liebe, an der er sich sattessen kann. Thomas ist nicht nur ein Kuchenmacher, der Mägen füllt und die Leute mit seinem Gebäck verrückt macht, sondern er ist selbst wie ein Magen. Thomas ist ohne Eltern und bei seiner Großmutter aufgewachsen, die ihm das Backen beigebracht hat und auch, dass man niemals mehr wollen soll, als man essen kann: Man muss glücklich sein mit dem, was man hat. Es ist genau das, dieses Bisschen oder diese Menge, die er mit Oren hatte; und es ist das, was er später eine Zeit mit Anat haben wird. Er hat keine Begierden, keine Phantasien, keine Ansprüche. Er hat, ganz wie ein Magen, nur ein grundlegendes Bedürfnis: immer wieder gefüllt zu werden – mit Liebe. Er braucht nur das, nicht mehr. Es muss halt reichen, um satt zu werden.
So sieht man hier weniger die mehr oder weniger plausible Geschichte eines Berliner Bäckers, sondern das Funktionieren eines Magens. Wie auf den Hunger die Befriedigung, dann wieder die Leere folgt und das Bedürfnis nach Nahrung – nach Liebe – erneuert wird. Thomas hat die Passivität, die Stille, den stummen Automatismus eines Organs. Daher die rasche und elliptische Erzählweise, die weniger eine komplizierte Entwicklung beschreibt als einen Mechanismus, der immer gleich bleibt, egal, wo oder mit wem Thomas gerade ist. Ob nun in Berlin oder Israel – ein Magen funktioniert überall gleich. Ob man ihn nun mit Männern, Frauen oder Kuchen füllt – Hauptsache, er kriegt ein bisschen Liebe ab.
Wenn beim Essen das Auge mitisst, dann schaut beim Filmesehen auch der Magen zu. Sieht man „The Cakemaker“ mit dem Magen, dann kann man sich von den Bildern der Leckereien ebenso verführen zu lassen wie die Figuren im Film. Aber dann wird man auch sehen, wie hier jemand nach Liebe hungert. Am Ende richtet eine Person ihre Augen zum Himmel. Es könnte der Blick von jemandem sein, der gerade die große Liebe gefunden hat, oder sich einfach nur an den Geschmack einer tollen Schwarzwälder Kirschtorte erinnert. Vielleicht ist es ja auch beides.
The Cakemaker
von Ofir Raul Graizer
ISR/DE 2017, 104 Minuten, FSK 0,
OF mit englischen UT,
Missing Films
Ab 01. November hier im Kino.