Emilia Pérez

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Seit „Emilia Pérez“ im Mai Weltpremiere in Cannes feierte und gleich doppelt ausgezeichnet wurde, gehen die Meinungen über den Film weit auseinander. Für die einen ist Jacques Audiards Musical-Thriller-Melodram über die Führungsfigur eines mexikanischen Drogenkartells, die sich einer geschlechtsangleichenden Operation unterzieht, um zu ihrem wahren Selbst zu finden, aber auch um den Fahndern zu entgehen, größte Filmkunst; für andere hat der Film in Bezug auf die Darstellung der Lebensrealitäten von trans Menschen und der mexikanischen Kultur- und Sozialgeschichte massive Perspektivenprobleme. Für Arabella Wintermayr ist „Emilia Pérez“ ein schrilles Wagnis, das seine eigene Künstlichkeit stetig ausstellt und nur funktioniert, wenn man es als überzeichnete Groteske versteht, die an realistischer Repräsentation überhaupt nicht interessiert ist.

Foto: Neue Visionen/Wild Bunch

Faszinierend frustrierend

von Arabella Wintermayr

„Emilia Pérez“ ist ein filmisches Wagnis. Das immerhin lässt sich mit Gewissheit über das neue Werk des renommierten französischen Regisseurs Jacques Audiard („Ein Prophet“, „Der Geschmack von Rost und Knochen“) sagen. Mit „Emilia Pérez“, einem opulenten, spanischsprachigen Musical, das zwischen Narco-Thriller, Telenovela und Sozialdrama changiert, überschreitet der mittlerweile 72-jährige Filmemacher nicht nur sprachliche, sondern auch thematische und stilistische Grenzen seines bisherigen Schaffens.

Schon die Prämisse gleicht einem Paukenschlag: Audiard, der bisher weder Musicals gedreht noch queere Hauptfiguren in seinem Werk behandelt hat und zudem kein Spanisch spricht, kombiniert glühende Neonfarben, rasante Tanznummern und von Pathos getränkte Gesangseinlagen mit einer Story um Manitas, der Führungsfigur eines mexikanischen Drogenkartells, die endlich auch äußerlich zu der Frau werden möchte, die sie im Inneren längst ist.

Schnell wird klar, dass Audiard keinerlei Interesse an Subtilität hat – weder im Erzählen noch Inszenieren dieser Geschichte. Noch bevor die titelgebende Kartellchefin überhaupt die Bühne betritt, fächert er einen Reigen an stilistischen und tonalen Extravaganzen auf: Anwältin Rita Mora Castro, die später von Manitas engagiert wird, um die langersehnten geschlechtsangleichenden Operationen zu arrangieren, bereitet sich in der Auftaktsequenz theatralisch auf die Verteidigung eines wegen Mordes an seiner Ehefrau angeklagten Mandanten vor. Von der Schuld des Mandanten überzeugt, ist sie sich zugleich der Macht des Geldes und der frauenfeindlichen Strukturen in ihrer Heimat bewusst. Mitten im Supermarkt rezitiert sie energisch ihr Plädoyer, für das doch wieder ihre männlichen Kollegen den Ruhm kassieren werden. Die Szene kippt abrupt in ein musikalisches Intermezzo: Passanten beginnen zu singen und tanzen, während Rita ihren Frust und ihre Argumente in einen Song verpackt, der zwischen Sarkasmus und Selbstbewusstsein changiert.

Auch im weiteren Verlauf illustriert Audiard die inneren Konflikte seiner Figuren immer wieder durch einfache, aber effektvolle Musicalnummern, deren Texte bewusst mit Stereotypen arbeiten, um maximale Dramatik zu erzeugen. Die von der französischen Sängerin Camille und Filmkomponist Clément Ducol („Peter von Kant“) geschriebenen Songs wechseln binnen Sekunden von intimen Balladen zu wütenden Rap-Stücken oder überlebensgroßen Ensemblenummern. Vor allem durch die energiegeladenen Choreografien von Damien Jalet („Suspiria“), die dynamischen Schnitte von Juliette Welfling („Schmetterling und Taucherglocke“) und durch Zoe Saldañas magnetische Präsenz werden diese Sequenzen mitreißend.

„Emilia Pérez“ ist zweifellos ein ästhetisches Kinoerlebnis. Doch seine stilisierte Form ruft inhaltliche Fragen auf, die bereits im Vorfeld für Kontroversen sorgten: Wie angemessen ist die Darstellung der titelgebenden trans Frau? Inwieweit reproduziert der Film Klischees, nicht nur über Transidentitäten, sondern auch über Mexiko?

Tatsächlich ist es vor allem die bisherige Rezeption von „Emilia Pérez“, die solche Uneindeutigkeiten eröffnet. Der Film selbst macht früh deutlich, dass er nur Raum für das Schrille, das Grelle und Plakative zulässt – und damit auch, was er darstellt und was nicht. Anders ausgedrückt: Sucht man in Audiards Ansatz den ernsthaften Versuch einer realistischen Repräsentation von Transidentitäten oder gar Auseinandersetzung mit Korruption und Gewalt im Mexiko der Gegenwart, kann man „Emilia Pérez“ als nichts anderes als einen Affront bezeichnen. Ob man dieses Werk, das in Cannes unter anderem mit dem Preis der Jury ausgezeichnet wurde, nun als unterhaltsames „Camp“-Spektakel oder als ärgerliches Klischeefeuerwerk versteht, hat vor allem mit der Frage zu tun, ob man „Emilia Pérez“ tatsächlich als mehr denn ein aberwitziges Kitsch-Musical verstanden wissen will.

Foto: Neue Visionen/Wild Bunch

Paul B. Preciado, Philosoph und queerer Theoretiker („Orlando, meine politische Biographie“) tut dies implizit, wenn er den Film in der französischen Tageszeitung „Libération“ besonders scharf kritisiert und „Emilia Pérez“ mit Steven Spielbergs gleichnamiger Verfilmung von Alice Walkers Roman „Die Farbe Lila“ (1982; Film 1985) vergleicht: Audiards Film sei ebenfalls ein Werk, für das sich weiße „Progressive“ begeistern könnten, ohne eigene Vorurteile zu hinterfragen – wofür sie sich aber in zehn Jahren schämen werden.

Ob Preciado mit seiner Prognose recht behalten wird, hängt maßgeblich davon ab, ob „Emilia Pérez“ tatsächlich als ein Melodram gelesen wird, das sich – ähnlich wie Steven Spielbergs Südstaatendrama – mit gesellschaftlichen Missständen beschäftigen möchte, also auf Seriosität bedacht ist, und im Bemühen um Kritik doch nur problematische Stereotype reproduziert. Die bisherigen Reaktionen des (deutschen) Feuilletons, in dem mit verblüffender Häufigkeit die „Ernsthaftigkeit“ von „Emilia Pérez“ beschworen wird, lassen eine gewisse Tendenz erkennen – und den traurigen Schluss zu, dass der Film auf ein Publikum trifft, das im Kino noch nicht ausreichend Transidentitäten begegnet ist, um die absurde Darstellung auch als solche zu verstehen.

Dabei ergibt sich ein sehr eindeutiges Bild, wenn man „Emilia Pérez“ losgelöst von dieser Debatte betrachtet. Seine Künstlichkeit stellt der Film von Beginn an offen zur Schau: Gedreht wurde nicht etwa in Mexiko, sondern fast ausschließlich in einem Studio außerhalb von Paris. Die (auch als solche zu erkennenden) Kulissen sowie die dramatische Beleuchtung unterstreichen die Theatralik der Inszenierung. Das bringt auch auf erzählerischer Ebene gewisse Freiheiten mit sich, da so (eigentlich) auch das Geschehen als überspitzt, überdreht, gar verquer erkennbar wird. Die Abwegigkeit der Grundidee – ein Drogenboss wird zur Femme fatale – tut ihr Übriges und unterstreicht, dass auch der Umgang mit seinem Setting, den individuellen und gesellschaftlichen Problemen der vorkommenden Figuren nicht um „Ernsthaftigkeit“ bemüht sein kann.

Foto: Neue Visionen/Wild Bunch

Als Rita für mehrere Millionen Dollar schließlich die Aufgabe übernimmt, diverse geschlechtsangleichende Operationen für Manitas zu arrangieren, ihren Tod vorzutäuschen und ihr eine neue Identität als Frau zu verschaffen, zeigt Audiard den Prozess in entsprechend abstrus-komischen Szenen. Ob Rita in einer Klinik in Bangkok mit tanzenden Chirurgen zu einer Pop-Arie über „Vaginoplastie“ ansetzt oder Emilia nach einem Marathon von augenscheinlich allesamt in einem einzigen OP-Termin durchgeführten Eingriffen aus einer grotesken Zahl an Bandagen in den Handspiegel blickt – in „Emilia Peréz“ ist der kompromisslose Hang zum Exaltierten durchgängig präsent.

Umso mehr als dass der Film Emilias Transition als schillernde Metapher für Neubeginn nutzt und dabei binäre Stereotype perpetuiert: Emilia, die als männlich gelesene Person brutal und aggressiv dargestellt wird, verwandelt sich hernach in eine mütterliche, sanfte Wohltäterin. Vier Jahre nachdem sie sich von ihrem alten Leben als Kartellchefin verabschiedet hat, möchte sie zu ihrer in der Schweiz untergebrachten Ehefrau Jessi (Selena Gomez) und ihren Kindern zurückzufinden, ohne ihre wahre Identität preiszugeben. Rita bringt die Familie daraufhin zurück nach Mexiko, wo Emilia fortan als angebliche Schwester Manitas wieder mit ihnen zusammenlebt. Doch sie sehnt sich nicht nur nach familiärer Zusammenführung, sondern auch nach Erlösung, und engagiert sich folglich für die Opfer ihrer früheren Taten und gründet eine NGO zur Unterstützung von Hinterbliebenen.

Natürlich werden im Zug dieser Plottwists die Grenzen der „realistischen“ Repräsentation ständig überschritten. Zu einem Problem werden derartige Verzerrungen allerdings erst, wenn sie nicht als solche erkannt werden. Audiard fordert mit „Emilia Pérez“, ob nun bewusst oder unbewusst, sein Publikum heraus, sich selbst zum Gezeigten zu verhalten. Dass eine trans Frau im Zentrum steht, die nicht den engen und letztlich limitierenden Grenzen des moralisch Wünschenswerten entsprechen muss, sondern eben auch eine zwielichtige Gangsterin sein kann, trägt im Kern eine emanzipatorische Kraft in sich. Eine, die durch das Grande-Dame-Charisma von Karla Sofía Gascón, das Emilia eine einnehmende Gravitas verleiht, noch verstärkt wird. Dass sich diese Kraft dennoch selbst dann nicht recht entfalten mag, wenn man „Emilia Pérez“ als die mutige Groteske versteht, die der Film ganz offensichtlich ist, mag mit der weiterhin marginalisierten Darstellung von Transidentitäten im Kino zusammenhängen.

Foto: Neue Visionen/Wild Bunch

Im Vergleich zur Entwicklung allgemeiner queerer Repräsentation im Film, wird das Fehlen von positiven Erzählungen um trans Figuren schnell deutlich. Auch schwule, lesbische und bisexuelle Figuren mussten sich im Kino über Jahrzehnte mit negativen Tropen begnügen – sie starben früh, wurden für ihre Sexualität bestraft, als tragische Opfer („Philadelphia“, „Brokeback Mountain“, „Mädchen in Uniform“) oder aber als gefährlich, als Psychopathen oder Mörder („Der talentierte Mr. Ripley“, „Rebecca“, „Rope“) inszeniert. Doch Filme wie „Carol“, „Love, Simon“, oder „Moonlight“ fügten zuletzt auch dem Mainstream-Kino facettenreichere Perspektiven auf queere Identitäten hinzu. Dadurch können lesbische, schwule und bisexuelle Charaktere mittlerweile wieder nahezu alles sein, auch böse, moralisch ambivalent, zwielichtig – wie in „Tár“, „Saltburn“ oder „Love Lies Bleeding“.

Trans Figuren hingegen fehlt dieses Momentum. Wenn man so will, scheint „Emilia Pérez“ als Film, der selbstbewusst eine trans Drogenkartellchefin ins Zentrum rückt, seiner Zeit kurioserweise voraus – auch wenn man Audiard eine solche visionäre Absicht kaum unterstellen mag. Vielleicht wird „Emilia Pérez“ irgendwann als überbordendes Kuriosum seinen Platz als Kultklassiker finden. Bis dahin bleibt er ein Werk, das als Wagnis fasziniert und in seiner Rezeption frustriert – aber womöglich gerade in diesem Widerspruch den Raum für Diskussionen eröffnet, der trans Figuren im Kino bislang oft verschlossen blieb.




Emilia Pérez
von Jacques Audiard
FR 2024, 130 Minuten, FSK 12,
deutsche SF, spanisch-englische OF mit deutschen UT,
Neue Visionen/Wild Bunch

Ab 28. November im Kino