Michael Sollorz: Abel und Joe

Buch

Mit seinem Debütroman „Abel und Joe“ brachte der Berliner Autor Michael Sollorz 1994 das Lebensgefühl einer ganzen Generation schwuler Männer auf den Punkt. Die Geschichte über einen jungen Mann, der auf der Suche nach seinem Freund die Sehnsuchtsorte und Cruising-Spots im wiedervereinten Berlin durchstreift, wurde zum Dauerseller. Sie verschwand nur aus den Buchläden, weil der Verlag rosa Winkel, in dem sie erschienen war, Anfang der 2000er pleite ging. Jetzt, 30 Jahre nach der Erstausgabe und 35 Jahre nach dem Mauerfall, ist der Klassiker als Neuausgabe erschienen. Trifft er auch heute noch einen Nerv? Gabriel Wolkenfeld über ein noch immer waghalsiges und vor Potenz geradezu strotzendes Werk.

Ein Streuner, der Wärme schenkt

von Gabriel Wolkenfeld

Wer Literatur nur als Einschlafhilfe nutzt oder allenfalls zwei, drei Seiten zwischen Wohn- und Arbeitsort im Stehen konsumiert, der beschmutze dieses Buch bitte nicht mit seinen Fingern. Wer dagegen keine Angst vor Tiefgang hat, wer nicht davor zurückschreckt, mitgerissen und herumgeschleudert zu werden, wer bereit ist, Blessuren und Schwindelzustände in Kauf zu nehmen, der greife zu. Diesen Effekt hatte die Lektüre jedenfalls bei mir: Mein Herz zog sich zusammen, als ich Abel dabei erwischte, wie er sich klammheimlich davonstahl. Vor Freude sprudelte es über, als er mit mir – ja, mit mir! – seinen Engel teilte. Und als er kam, da erfüllte auch mein Zimmer ein eigenartiges Duftgemisch: Moschus, Sperma, Zimt. Es haftete mir noch Tage nach der Lektüre an …

In dem Roman von 1994 bedient sich Michael Sollorz eines Konzepts, das einige der großartigsten Experimente der Literaturgeschichte hervorgebracht hat: Einen Tag im Leben folgen wir seinem Protagonisten.

Nur ist es nicht Clarissa Dalloway, die, Erinnerungen nachhängend, die letzten Vorbereitungen für ihre große Feier trifft, und auch nicht Leopold Bloom, der, gepeinigt vom Gedanken an die untreue Gattin, durch ein ihm feindliches Dublin tingelt. Sollorz wählt für seinen Roman ein Setting, das dem bürgerlich-konservativen Mief von Woolf und Joyce kaum ferner sein könnte: Berlin, Anfang der Neunziger: Die Euphorie des Mauerfalls ist verflogen, Westtouristen fallen in Eckkneipen ein, die sechs Mark für ein Bier verlangen, Märchenland ist untergegangen.

„Hinter seinen geschlossenen Lidern wirbelten die Bilder der Nacht, zerstückelt und falsch montiert; schmale Hände, ein haariger Arsch und Laternen, die stürzten wie Bäume. Ein Rudel Fahrkartenkontrolleure.“

Michael Sollorz – Foto: D.O.N.

Abel, aus dem Paradies vertrieben, sucht seinen Joe. Verwundbar, weil er liebt. Verwundet, weil verlassen. Auf der Suche nach dem verschwundenen Geliebten ziehen wir mit Abel um die Häuser. Wir nehmen ein Bierfrühstück zu uns. In der Greifswalder schweigen wir unisono mit dem bronzenen Thälmann. Im Volkspark treffen wir die Figuren am Märchenbrunnen auf einen Plausch. In der Schwulensauna stimmen wir das Lied der Lieder an, das hohe Lied des tiefen Falls. Wir werden gefickt im Hier und Jetzt und im Gestern, das vom Heute nicht zu trennen ist. Die verschiedenen Schauplätze wecken Erinnerungen an Begegnungen, an Unfälle und Abenteuer.

Den Finger über der Stadtkarte kreisend, lässt sich Abels Route genau verfolgen – ein nettes Gimmick besonders für jene, die Ostberlin aus der Vorwendezeit kennen, aber auch für Nachwendekinder, denen der Text eine Welt eröffnet, die heute nur noch mittels der Kunst zu betreten ist.

Vage bleibt, was Abel ausgerechnet an Joe findet. Joe, Sohn pseudokatholischer Drogisten aus der westdeutschen Provinz, bleibt ein Phantom. Dies ist notwendig. Denn auf diese Weise kann Joe als Projektionsfläche dienen: Auch nach seinem Verschwinden bleibt er der erste Mann, an dessen Seite ein Altwerden denkbar schien.

„‚Gewusst oder nicht gewusst‘, lamentierte Abel, ‚wissen wollen und nicht wissen wollen, glauben können und nicht wahrhaben müssen. An jedem Märchen hängt doch ein Zipfel Oma. Wir hatten viel Spaß und brüllten vor Lust, wenn die Stille nicht auszuhalten war.‘“

Mit Abel ist Sollorz eine Figur gelungen, die heraustritt aus ihrer Geschichte – und lebendig wird. Gälte es, den Antihelden als Hund zu zeichnen, dann nur so: keine Edelzüchtung, sondern ein herrenloser Welpe, der auf der Straße zum Rüden heranwächst, ein Streuner, bei dem man Gefahr läuft, dass Flöhe überspringen, sobald er sich anschmiegt, einer, der Wärme schenkt, Nähe, Trost.

Auch die Nebenfiguren, kunstvoll in wenigen, skizzenhaften Beschreibungen und Anekdötchen gezeichnet, schillern: Als Filmkritiker lernt Abel, noch vor dem Mauerfall, in einem Städtchen an der französischen Grenze den Schweden Gustav kennen, der sich alle Mühe gibt, ihn zum Bleiben zu verführen. Gustav als Vorbote des Westens ist es, durch den die ominöse Krankheit an Kontur gewinnt, eben weil er, anders als Abels Kerle im Märchenland, aufs Kondom besteht. Ganz anders dagegen die Grausig. Die frühpensionierte Lehrerin kann sich nach der Wiedervereinigung weder mit dem neuen System arrangieren noch den Tod ihres Mannes akzeptieren. Und schließlich: der taubstumme Engel mit dem Monsterschwanz. Er versteht sich aufs Geben. Seine Berührungen verschaffen Linderung.

Folgt der Roman zu Beginn noch klaren Linien, zerfasert die Erzählung im Fortgang zunehmend. Mit steigendem Pegel verschwimmen die Ebenen. Erinnerungen ploppen auf. Gegenwart und Vergangenheit, Fiktion und Fakten mischen sich. In seinem Kopf rekapituliert Abel Dialoge.

„‚Das ist das Wachsen‘, sagte Abel. ‚Die alte Haut wird zu eng und reißt. Wachsen, das heißt jeden Tag Abschied nehmen von dem kleinen, betenden Jungen. Darum tut es immer weh.‘“

Sprachlich leistet Sollorz hier Großes. Er geht keinen faulen Kompromiss zugunsten einer weniger fordernden Lektüre ein, sondern bleibt seinem Konzept treu. Eine Sauforgie wird zum Fest, das an Wortwitz kaum zu überbieten ist. Generell federt Sollorz sprachliche Bilder von großer poetischer Kraft durch den doch recht schnodderigen Ton seines sprechenden, denkenden, fühlenden Abels ab, und verleiht dem Text dadurch eine Eleganz, die zu spannenden Kontrasten führt, etwa bei der Darstellung der sexuellen Handlungen.

Dreißig Jahre hat „Abel und Joe“ mittlerweile auf dem Buckel, aber es ist immer noch ein waghalsiges, vor Potenz geradezu strotzendes Werk, über dessen (Wieder-)Begegnung wir uns freuen dürfen.




Abel und Joe
von Michael Sollorz
160 Seiten, € 22
Albino Verlag

 

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