The Visitor

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Ein nackter Geflüchteter wird in einem Koffer an das Ufer der Themse gespült. Er streift durch London und klopft an die Tür einer wohlsituierten Familie, erhält Einlass und darf als Angestellter bleiben. In den nächsten Tagen verführt der Besucher alle Mitglieder der Familie. So plötzlich wie er gekommen ist, verschwindet er auch wieder – und lässt eine sexuell befreite, aber in ihrer kapitalistisch-bürgerlichen Identität grob verstörte Familie zurück. Der neue Film von Kultregisseur Bruce LaBruce ist eine radikale Neuinterpretation von Pier Paolo Pasolinis Meisterwerk „Teorema“ (1968). Während bei Pasolini ein mysteriöser Fremder ohne akzentuierten sozialen Hintergrund als erotisch-spiritueller Aufrührer in eine Mailänder Industriellenfamilie eindringt, schickt LaBruce einen Schwarzen Geflüchteten in die Londoner Upper Class von heute. Lukas Foerster arbeitet heraus, dass LaBruce im Gegensatz zum marxistischen Pessimisten Pasolini nicht nur weiß, wovon er weg möchte, sondern auch wo er hin will. Über eine queer-feministische Befreiungsfantasie.

Foto: Salzgeber

Anal Liberation Now

von Lukas Foerster

Dem Revolutionör ist nichts zu schwör. Oder sagen wir mal, weniger polemisch: Dem Revolutionär sind alle Mittel recht, auch die naheliegenden. Auf der Suche nach Material, das für den Umsturz der heteronormativ-bürgerlichen Ordnung nutzbar zu machen ist, kapert Bruce LaBruce, unermüdlicher Freibeuter der queer-cinematografischen Gegenfilmgeschichtsschreibung, diesmal keine kulturell schlecht beleumundete Genretradition wie das Zombie- oder das Exploitationkino, sondern einen Film, der längst als Meisterwerk des subversiven Kinos gehandelt wird. In Pier Paolo Pasolinis „Teorema“ (1968) verführt ein Fremder nach und nach alle Mitglieder einer großbürgerlichen Familie (sowie, nicht zu vergessen, die Haushälterin) und bringt dadurch – und noch mehr durch sein anschließendes Verschwinden – deren Selbstbilder und Selbstverständnisse zum Einsturz.

So opak und spröde Pasolini seine Bilder auch baut, an der soziopolitischen Schlagrichtung konnte damals kein Zweifel bestehen: Kein Stein darf auf dem anderen bleiben, das bürgerliche Familienmodell und die zugehörige Gesellschaftsordnung sind zum Abschuss freigegeben. Auf der Leinwand jedenfalls. Wie es jenseits von ihr, im echten Leben, weitergegangen ist, steht auf einem anderen Blatt.

Auf welche Weise lässt sich heute an Teorema anschließen? Keine Um-, eher eine Fortschreibung hat LaBruce im Sinn. Eine vereindeutigende Zuspitzung obendrein. Blieben bei Pasolinis im Hoffnungsjahr der Linken 1968 entstandenen Film dessen soziale Kontexte, insbesondere die sich radikalisierenden Protestbewegungen der Zeit, im Off des Bildes, hält LaBruce mit seiner realpolitischen Agenda nicht hinter dem Berg und setzt gleich mit einer Feindmarkierung ein: Der Prolog ist von einer Radioansprache untermalt, in der eine mit viel Lust an der Übertreibung intonisierende Männerstimme die vermeintlich liberale Einwanderungspolitik Großbritanniens verdammt und Migranten mit Ungeziefer gleichsetzt. Dazu sehen wir, wie sich zunächst ein schwarzer, nackter Mann aus einem an die britische Küste gespülten Koffer schält; und wie danach weitere schwarze Männer weiteren Koffern entsteigen. Die Invasion hat begonnen.

Foto: Salzgeber

Ein wenig führt dieser Beginn in die Irre. Eine politische Parabel ist „The Visitor“ zwar irgendwie auch, aber nicht primär. Sobald sich einer der Neuankömmlinge, wie damals in „Teorema“, bei einer wohlhabenden Familie einnistet, wird vielmehr klar: LaBruce macht ernst mit Pasolini. „The Visitor“ übernimmt keineswegs nur die Grundidee des Vorbilds, sondern stellt, en detail, Szenen und sogar Einstellungsfolgen des älteren Films nach. Wie der Sohn der Familie vor dem Fremden nicht die Unterhose ablegen will und verschämt unter die Bettdecke kriecht, nur um wenig später seinerseits neugierig die Decke des schlafenden Fremden anzuheben. Wie die hier ziemlich breitschultrige Hausangestellte neugierige Blicke in den Schritt des Fremden wirft, der rauchend und lesend auf einem Gartenstuhl sitzt – und bei LaBruce freilich nicht auf seinen Oberschenkel, sondern gleich auf die vielversprechende Wölbung unter dem Slip ascht. Wie die Tochter im Garten den Vater und den Fremden fotografiert und sich anschließend selbst zwischen den Beinen des Eindringlings platziert.

Diese Verführungsszenen, bei denen es stets um Blick- und Bildregime geht, um ein Wechselspiel von Ver- und Enthüllen, fungieren bei LaBruce gleichzeitig als geradezu klassische Porno-Setups, führen also hin zur totalen Sichtbarkeit. Die Sexszenen selbst sind abstrakte Technoträume: pulsierendes Licht, elektronische Beats, massive Farbflächen, Genitalien in Großaufnahme und viel Lube, dazwischengeschnitten immer wieder Polit-Pornoparolen in Wortspielform, manche davon originell („Give Piece of Ass a Chance“, „Colonise the Coloniser“), andere nicht ganz so („Incest is Best“). Nebenbei werden einige andere Klassiker des subversiven Films geplündert und gleichfalls auf Schlüsselreize hin zugespitzt. Wie einst Divine in John Waters’ „Pink Flamingos“ (1972) verspeist auch LaBruces Familie einen Scheißhaufen – eine Szene, in der sich die Kamera regelrecht suhlt. Der Jesus-Dildo aus Paul Verhoevens „Benedetta“ (2021) wiederum sorgt für „Anal Liberation Now“.

Foto: Salzgeber

Die queer-feministische Befreiungsfantasie hat Witz und knallt gut, keine Frage. Nicht zu übersehen ist freilich auf die Dauer, dass zwischen „The Visitor“ und „Teorema“ ein Graben verläuft, der nicht bloß mit stilistischen und Temperamentsunterschieden zu tun hat. Die entscheidende Differenz dürfte vielmehr eine ideologische sein: Im Gegensatz zum marxistischen Pessimisten Pasolini weiß LaBruce nicht nur, wovon er weg möchte, sondern er weiß auch ganz genau, wo er hin will. Das Reich der Freiheit ist erreichbar, im Hier und Jetzt, mithilfe des Körpers, den wir entweder bereits haben oder uns selbst erschaffen. Ein wenig fragt man sich doch, warum es dann überhaupt nötig ist, ein weiteres Mal, und sei es als pornographisches Rollenspiel, den Umsturz aller libidinösen Verhältnisse zu inszenieren. Andererseits: ein Film, an dessen Herstellung alle Beteiligten sichtlich eine helle Freude hatten, ist sich vielleicht auch selbst Zweck genug.

Jedenfalls ist „The Visitor“ am schönsten in seinem Schlusskapitel, das unter der Überschrift „Liberation“ das ins Bild setzt, was bei Pasolini kategorisch unmöglich war: die realisierte Utopie. Hier emanzipiert sich LaBruce von der Vorlage, greift Motive aus „Teorema“ freier, spielerischer auf, lässt die Parolen weg und fickt dafür den Kapitalismus ganz konkret. Außerdem: Genitalmalerei, Fesselspiele am Kreuz, ein Urschrei vorm rauschenden Wasserfall. Am Ende eine Wiedergeburt.




The Visitor
von Bruce LaBruce
UK 2024, 101 Minuten, FSK 18,
englische OF mit deutschen UT,
Salzgeber

Ab 5. Dezember im Kino