Sebastian
Trailer • Queerfilmnacht
Tagsüber arbeitet Max bei einem Literaturmagazin, nachts lässt er sich unter dem Pseudonym „Sebastian“ als Escort buchen. Seine Erfahrungen als Sexworker in London fließen in seine Kurzgeschichten ein, die immer mehr Leser:innen erfreuen. Während Max versucht, sein Doppelleben geheim zu halten, muss er sich langsam eingestehen, dass sich die Rolle des Escort nicht ganz falsch anfühlt. „Sebastian“ von Mikko Mäkelä ist ein bemerkenswert sexpositiver Film, der in Transgression und Kinkyness Momente der Befreiung findet, ohne die komplexen Mechanismen und Gefahren von Sexarbeit außer Acht zu lassen. Christian Horn über ein Selbstfindungsdrama zwischen Fiktion und Wirklichkeit, das im Dezember in der Queerfilmnacht zu sehen ist.
Der nackte Autor
von Christian Horn
Autofiktionales Erzählen ist ein Trend der Stunde. Dabei kombinieren Schreibende ganz persönliche und selbst erlebte Geschichten mit frei Erfundenem und Dramatisierungen aller Art. Die wahren Kerne und das fiktive Drumherum werden so kodiert und ineinander verschachtelt, dass für Außenstehende im Ergebnis unklar ist, wo die Wahrheit aufhört und wo sie anfängt. Das Vexierspiel fasziniert weite Teile der Leserschaft, weil es Spekulationen anregt und ein starkes Gefühl des Authentischen vermittelt.
Genau dieses Spiel mit Dichtung und Wahrheit betreibt auch der Protagonist aus „Sebastian“ des finnisch-britischen Regisseurs Mikko Mäkelä, der 2017 mit dem Achtungserfolg „Die Hütte am See“ debütierte. Im Film arbeitet der 24-jährige Protagonist Max als freier Autor für ein Londoner Literaturmagazin, will aber nicht für den Rest seines Lebens die Bücher anderer Leute rezensieren, sondern selbst welche schreiben. Seine Kurzgeschichten über einen Sexarbeiter, die er unter dem Pseudonym „Sebastian“ aufschreibt, stoßen auf Resonanz – sogar ein Verlag meldet sich. Während die geschilderten Callboy-Erlebnisse offiziell als fiktive „Pseudo-Memoiren“ gelten, holt sich Max die Inspiration tatsächlich aus eigenen Erlebnissen, die er fast eins zu eins verschriftlicht: Nebenher arbeitet er als Sexworker, der vor allem ältere Männer bedient. Um neue Impulse für seine literarische Betätigung abzugreifen, lässt sich Max bald auch auf grenzwertige Dates ein. Zunehmend verwischen die Grenzen zu seinem Alter Ego – das Doppelleben des Autors wird selbst zur Autofiktion.
Zur internen Metaebene des Films, in der Max seine Erlebnisse, die zuvor im Film zu sehen waren, in den Laptop tippt, kommt noch eine externe dazu. Für Mikko Mäkelä ist das verhandelte Thema nämlich auch eine Gelegenheit, den eigenen Schaffensprozess zu reflektieren. Dass sich der Drehbuchautor und Regisseur Gedanken über diese Verquickung gemacht hat, zeigen seine einschlägigen Äußerungen dazu: Von Anfang an habe er sich die Frage gestellt, ob man über etwas schreiben könne, ohne selbst „gelebte Erfahrung der Sache“ zu haben. Und: „Wem steht es zu, wessen Geschichten zu erzählen?“
Ob überhaupt und inwieweit Mäkelä selbst sein Sujet ausgelotet hat, bleibt reine Spekulation. Klar ist aber: Sebastian ist das Alter Ego von Max, Max das Alter Ego von Mikko Mäkelä. Entsprechend dreht sich der Film auch wesentlich darum, wie der Autor Max eine eigene Stimme findet und sich im Wechselspiel zwischen seiner Kreativarbeit und dem echten Leben einrichtet. Das rührt an der alten Frage nach dem Verhältnis zwischen Autor und Werk und konträren Zugängen dazu. Jules Verne ist nie in 80 Tagen um die Welt gereist; eine gegenteilige Faustformel für die schreibende Zunft besagt hingegen, man solle nur über Dinge schreiben, die man selbst erlebt hat. Mäkelä exerziert nun die Frage durch, was passiert, wenn man zweiteres konsequent durchzieht und den Stoff der eigenen Geschichten buchstäblich am eigenen Leib erfährt.
Filmästhetisch drückt Mikko Mäkelä die Wechselwirkung zwischen den Lebenswelten und die potentielle Gefahr, dass Max’ wirkliche Identität in der Grauzone dazwischen verloren geht, in vielen halbdunklen Bildern aus. In Close-ups bleibt Mäkelä oft nah dran an seinem Hauptdarsteller Ruaridh Mollica, der bisher vor allem in Serien und Kurzfilmen zu sehen war und eine beachtliche Leistung liefert. So vollzieht auch der Stil des Films nach, dass wir es mit einer Hauptfigur zu tun haben, die sich ins Zwielicht begibt. Besonders am Anfang hat die Nabelschau auch den Anstrich eines Sozialdramas, wenn Max desillusioniert vor einem beschlagenen Spiegel steht oder bei Nachtfahrten durch London ins Leere starrt. Als Single in der Großstadt ist der junge Mann von urbaner Einsamkeit umwabert. Und mit seinen literarischen Ambitionen, die sich erstmal nicht auszahlen, könnte er schnell im Hinterhof der Illusionen aufschlagen.
Als eine Verlegerin schließlich Interesse bekundet und einen Roman beauftragt, nimmt Max’ Doppelleben an Fahrt auf. Plötzlich muss der Callboy-Autor mit seinen Stories äußere Erwartungen erfüllen, was Mäkelä für Seitenhiebe auf die Literaturszene nutzt. Die Lektorin scheint zu ahnen, woher Max sein Arbeitsmaterial bezieht, schlägt die Ich-Form vor und wünscht sich mehr Abwechslung in den Schilderungen. Die (eben nicht) fiktive Figur Sebastian soll ein breiteres Spektrum an Situationen erleben. Und wenn es hinterher Änderungen am Text gibt, fällt das einem wie Max, der nicht weniger als sein eigenes Leben aufgeschrieben hat, natürlich besonders schwer. Die Verlagswünsche veranlassen Max schließlich dazu, sich auf bezahlten Gruppensex einzulassen, den er zuvor eigentlich abgelehnt hat. Den Akt selbst zeigt der Film dann vorerst nicht; erst hinterher, als Max das Erlebte schriftlich festhält, wirft eine Parallelmontage Schlaglichter auf die Orgie. So wird auch filmisch dargestellt, warum Max tut, was er tut.
Bei der Sequenz mit dem Gruppensex blinken eigentlich alle Warnlichter, weil das Event in dieser Form nicht abgesprochen war – erst an der Hotelzimmerschwelle erfährt Max, dass mehrere Männer ihn gebucht haben. Zudem muss er sein Handy abgeben, zieht Kokain und lässt einen gewissen Kontrollverlust zu. Die Situation geht glimpflich aus. Doch in einer anderen Sequenz nötigt der dominante Daniel Max indes gegen seinen Willen zum Sex.
Von diesen vielleicht auch etwas pflichtbewusst angerissenen Schattenseiten der Sexarbeit abgesehen, zeichnet der Film ein faires, respektvolles Bild der Escortwelt – nicht nur, was die selbstbewusste Entscheidung des Sexarbeiters Max angeht, sondern auch in Bezug auf die Freier, ihre Sehnsüchte und unperfekten Körper. Zwischenzeitig verlagert sich der Fokus auf die Treffen mit dem älteren Nicholas, dessen Wesen so sanft ist wie seine Stimme und der den Rang eines Lieblingskunden einnimmt, dem es nicht allein um die schnelle Nummer geht. Die warme Ausleuchtung der gemeinsamen Szenen betont die behagliche Stimmung. Thematisiert werden auch die Veränderungen der Sexarbeit im digitalen Zeitalter, wenn Max „digitaler Strichjunge“ genannt wird oder eine Plattform wie Onlyfans als neue Konkurrenz zur klassischen Sparte ausgemacht wird. Unterm Strich nimmt Mikko Mäkelä eine eindeutig sexpositive Haltung ein und zeigt die intimen Begegnungen dazu passend recht explizit.
Im Verlauf der Handlung sehen wir Höhen und Tiefen im Leben des Protagonisten und verschiedene Nuancen und Schattierungen seiner Identität, die alle irgendwie mit dem Grundthema der autofiktionalen Wechselwirkung zusammenhängen. Bald gibt es auch zwischenmenschliche Störgeräusche, wenn die Lebenswelten knirschend aufeinanderprallen. Max’ Mutter, die wohl vermutet, dass gewisse Wahrheit in den Geschichten ihres Sohns steckt, fragt besorgt: „Musst du über so persönliche Dinge schreiben?“ Und ein Kunde bekommt einen Wutanfall, als er sich in einer Buchpassage nicht gut getroffen sieht: Max fliegt aus dem Hotelzimmer, sein Laptop bleibt drin, der Tiefpunkt ist erreicht. Rückschläge muss Max auch bei seinem offiziellen Job als freiberuflicher Autor einstecken, als ein Kollege ihm den erhofften festen Redakteursposten wegschnappt und die Artikel fortan intern verfasst werden, also ohne Max. Die Episode ist eine weitere Kritik an der oft geringen Wertschätzung, die dem Schreiben entgegen gebracht wird.
Letztlich zeigt die Charakterstudie das künstlerische Selbstexperiment ihres Protagonisten als aufreibenden, doch lohnenden Balanceakt, der am Ende zur persönlichen Reifung und zum publizistischen Erfolg führt. Dass er sich als Autor nackt gemacht und verschiedene Aspekte seiner Persönlichkeit schonungslos erforscht hat, macht sich bezahlt: Max’ Roman wird gedruckt und beim Pressetermin dazu sitzt er fester im Sattel als zuvor. „Sie können mich alles fragen“, leitet er ein Interview ein – und ja, das kauft man ihm dann wirklich ab.
Sebastian
von Mikko Mäkelä
UK/FI/BE 2023, 112 Minuten, FSK 6,
englische OF mit deutschen UT
Im Dezember in der Queerfilmnacht