XXY (2007)

DVD/VoD

Alex ist 15 und mit den Eltern gerade von Buenos Aires in ein kleines Küstendorf nach Uruguay gezogen. Hier soll erstmal niemand erfahren, dass Alex inter* ist, finden die Eltern; Alex selbst würde hingegen am liebsten ganz offen damit umgehen. Dann lädt die Mutter einen befreundeten Chirurgen und dessen Familie für ein Wochenende ein, um über die Möglichkeiten einer geschlechtsangleichenden Operation Klarheit zu bekommen. Die Ereignisse im Haus am Meer überschlagen sich… Selbst im queeren Kino gibt es nur wenige Filme, die sich mit dem Thema Intergeschlechtlichkeit beschäftigen. Der Zugang der argentinischen Regisseurin Lucía Puenzo führt tief in die Erlebniswelt zweier Jugendlicher, die sexuelles Erwachen mit dem Neuentdecken des eigenen Körpers in Einklang zu bringen versuchen, und stellt die vielleicht gar nicht so gewagte These auf, dass sich Menschen ineinander verlieben, nicht biologische Geschlechtsträger:innen. Melanie Waelde über einen der wenigen Klassiker des inter* Kinos, der – wenngleich nicht ganz unproblematisch in Bezug auf seine Perspektive auf die Hauptfigur – seiner Zeit weit voraus war.

Foto: Kool Filmdistribution

Die Freiheit der Wahl

von Melanie Waelde

Das Haus der Familie Kraken liegt abgeschieden am Rand eines kleinen Küstendorfs in Uruguay – direkt am Meer. Hier ist die Welt in Ordnung. Bis die Mutter Gäste einlädt und den sicheren Raum zur Austragungsstätte einer Verhandlung von Identität macht.

Alex ist 15 und gerade erst mit den Eltern, Mutter Suli und Vater Néstor, aus Buenos Aires hier hergezogen. Erstmal soll niemand erfahren, dass Alex inter* ist – zumindest wünschen sich das die Eltern, um Alex vor Anfeindungen zu schützen, die Grund waren, weshalb sie aus der Stadt weggezogen sind. Bisher haben die Eltern Alex als Mädchen großgezogen. Alex hat aber selbst vor kurzem beschlossen, die Medikamente abzusetzen, die die männlichen Hormone unterdrücken. Obwohl Alex am liebsten ganz offen mit der eigenen Intergeschlechtlichkeit umgehen möchte, will Alex’ Vater das „Geheimnis“ unbedingt hüten, während sich die Mutter die Frage stellt, ob eine geschlechtsangleichende Operation nicht eine gute Option wäre. Deswegen lädt sie auch eine befreundete Familie ein – ohne dass sie ihrem Mann oder Alex sagt, was der eigentliche Grund für den Besuch ist. Ramiro, ein Chirurg, soll sich ein Bild von Alex machen, um danach die Möglichkeit eines operativen Eingriffs einschätzen zu können. Begleitet wird er von seiner Frau Erika und Sohn Álvaro. Alle werden sie gemeinsam ein paar Tage im Haus am Meer wohnen.

Foto: Kool Filmdistribution

Dieses Haus wirkt wie ein Aquarium, wie ein gläserner Käfig. Solange niemand da ist, der hineinschaut, bedeuten die riesigen Fenster, die den Blick direkt zum Wasser öffnen, Freiheit und Einklang mit der Natur. Aber sobald es Beobachtende gibt, erlauben sie den Blick nach innen und nehmen jeglichen Schutzraum. Auch innerhalb des Hauses sind Wände und Fenster durchlässig. Als die Gäste eintreffen, sitzt Alex versteckt in einem Verschlag unter dem Haus, im Halbdunkeln, während das Meer rauscht. Dort verharrt Alex und beobachtet die Ankunft, lauscht den Gesprächen und weint, ob des fremden Eindringens in das eigene Refugium. Alex’ Körper droht bereits in diesem Bild zu zerbrechen. Immer wieder wirkt es im Film so, als ob Bildkanten, Wände und Menschen Alex in die Enge drängen. Und manchmal wirkt es auch nicht nur so, sondern wird zu bitterer Realität.

Kraftvoll und frei ist Alex’ Körper hingegen in der Natur. Hier kann Alex existieren ohne sich rechtfertigen oder anpassen zu müssen. Die Ästhetik und Erzählung des Films bewegen sich zwischen Wasser und Wald, zwischen Blau- und Brauntönen, die auch im Kostümbild stark präsent sind. Die Farben erinnern daran, dass der Mensch Teil der Natur ist – selbst wenn er mitunter versucht, sich über sie zu stellen.

So wird Alex’ Vater, der Biologe ist, beim Sezieren einer Schildkröte in den Film eingeführt. Das erste Mal, wenn Alex und Ramiro allein sind, treffen sie in der Küche aufeinander, wo Ramiro Speck mit einem riesigen Messer schneidet. Später beobachten Alex und Álvaro Alex’ Vater, der eine Amputation an einer verletzten Schildkröte durchführt. Dabei erklärt Alex: „Am Ende sind dein und mein Vater gleich.“ Álvaro fragt zurück, ob die Schildkröte überleben werde. Alex antwortet trocken: „Ja, aber sie wird nie wieder ins Meer zurückkehren.“ An dieser Stelle und auch an vielen anderen formuliert Alex sehr klar, was die eigenen Ansichten, die eigenen Ängste, die eigenen Wünsche sind. Aber Alex’ Worte verpuffen immer wieder im leeren Raum. Sie werden gehört, aber ignoriert, wieder und wieder. Was bleibt Alex also übrig, außer sich einen harten Panzer anzulegen und die eigenen Gefühle mit aufgesetzter Abgeklärtheit zu überspielen?

Foto: Kool Filmdistribution

Alex’ Identitätssuche wird hauptsächlich mit der Suche nach sexueller Identität gleichgesetzt. Sexualität scheint Alex’ einziger Modus zu sein, als ob dieser junge Mensch sich mit nichts anderem auseinandersetzen würde. Vielleicht, weil es wirklich das dominante Thema in Alex’ Leben ist, auf das Alex immer wieder zurückgeworfen wird, weil die Außenwelt immerzu darüber kommunizieren möchte. Vielleicht aber auch nur, weil die Filmemachenden dieses Thema ausbreiten und vergessen, dass Alex weitaus komplexere Charakterzüge zustehen sollten.

Bereits in der ersten Begegnung mit Álvaro stellt Alex ihm die Frage, ob sie miteinander schlafen wollen. Álvaro lehnt ab, auch mit den Worten: „Du bist nicht normal.“ Das Gefühl „nicht normal zu sein“ hat sich in Alex bereits so sehr manifestiert, dass Alex überhaupt keiner Norm mehr entsprechen möchte – schon zu Beginn des Films nicht. „Ich möchte, dass alles so bleibt, wie es ist“, schafft Alex am Ende irgendwann über den eigenen Körper zu sagen, und wird dann auch endlich gehört. Während alle in ihren Weltbildern straucheln, ist Alex sehr klar, sehr viel weiter als der gleichaltrige Álvaro und auch sehr viel weiter als die Erwachsenen. Diese diskutieren und verlieren sich im Theoretischen, wohingegen zwischen Alex und Álvaro stets eine Neugier bestehen bleibt. Die beiden forschen, fühlen, leiden und haben schließlich doch Sex. Dabei werden sie von Alex’ Vater beobachtet. Der intime Moment endet in Irritation und Verletzung; jenseits der sexuellen Begegnung finden die beiden keine emotionale Klärung für ihre Erfahrung. Álvaro flüchtet in die Natur, Alex verkriecht sich auf dem Dachboden. In der Nacht stehen sie sich oberkörperfrei gegenüber. Alex im trockenen Haus, Álvaro draußen im strömenden Regen. Was zwischen den beiden passiert, ist weniger eine Liebesgeschichte, als vielmehr ein Erforschen von Sexualität und Identität. Dabei sind sie sich Spiegel und Reibungsfläche zugleich.

Foto: Kool Filmdistribution

Dieses Erforschen beinhaltet auf der Ebene der Bildgestaltung, dass Alex’ Brüste ganz selbstverständlich immer wieder gefilmt werden und die Kamera auch immer wieder über Alex’ Schritt gleitet. Nacktheit und Körper werden hier irgendwo zwischen Selbstverständnis und Voyeurismus behandelt, mit uneindeutiger Positionierung. Der Film bedient sich zudem gewisser Horrornarrative, bei denen unklar bleibt, ob sie die Sicht der Filmemachenden oder die des Publikums widerspiegeln sollen oder sogar Alex’ Perspektive auf sich selbst. Mitunter wirken diese Elemente schmerzhaft wie jene Szenen, in denen Alex von Jungs aus dem Dorf überfallen und in den Dünen ausgezogen wird oder wenn Alex über sich selbst sagt: „Ich bin ein Monster.“

Der Film macht nicht die Menschen, über die er erzählt, zum Thema, sondern die Intergeschlechtlichkeit. Das wird auch in einer Interviewäußerung der Regisseurin im Presseheft deutlich: „Ich habe monatelang recherchiert. Ich habe mit Medizinern zusammengearbeitet, mit Genetikern, Professoren, aber auch mit den Eltern von Kindern, die mit unterschiedlichen Intersex-Diagnosen zur Welt kamen. Ich habe auch junge Erwachsene getroffen, die nach der Geburt entweder operiert oder nicht operiert wurden.“ Eine gewisse Distanz spricht aus diesen Zeilen – und in gewisser Distanz bleibt der Film auch zu seiner Hauptfigur. Statt Alex zu einem vielschichtigen Menschen werden zu lassen, wird Alex zu einer symptomtragenden Figur eines Themenfilms über Intergeschlechtlichkeit gemacht. Dabei werden zwar verschiedene Perspektiven aufgezeigt, vermutlich mit den besten Absichten, anderen wird dabei aber oft mehr Stimme gegeben als Alex selbst. Hinzu kommt die unverständliche Titelwahl, die zu so viel Irritation geführt haben muss, dass im Zuge der Herausbringung des Films vom deutschen Verleih im Presseheft eine Erklärung zum Titel abgegeben wurde, in der es unter anderem heißt, der Titel XXY „verstehe sich als dichterische Metapher für Intersexualität“. Gleichzeitig wird erklärt, dass Alex gerade nicht mit dem Klinefelter-Syndrom, Chromosomensatz 47, XXY, erzählt wird, wie der Titel suggeriert, sondern mit dem Adrenogenitalem Syndrom (AGS), einer angeborenen Störung der Hormonbildung in der Nebennierenrinde, und weiblichem Chromosomensatz 46, XX. Somit tut dieser Titel vor allem der Hauptfigur unrecht und offenbart eine gewisse Ignoranz.

Foto: Kool Filmdistribution

Trotzdem ergreift der Film aber ganz klar Partei für Alex’ Bedürfnisse und fordert die Freiheit der Wahl über den eigenen Körper und die eigene Identität – auch jenseits eines binären Systems. In diesem Punkt ist der Film seiner Zeit weit voraus gewesen. In Deutschland beispielsweise wurde erst 2021 das „Gesetz zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung“ verabschiedet.

Immer wieder spielt der Film mit Selbst- und Fremdwahrnehmung. Alex wird angestarrt und Alex starrt genauso konsequent zurück. Es gibt viele Blicke durch Fenster und in Spiegel. Was macht uns zu dem, was wir sind? Wie viel formt das Außen unser Innen? Werden wir jemals in einem Zeitalter ankommen, in dem wir akzeptiert werden, wie wir sind? Die große Hoffnung liegt auf der Zeit nach dem Ende der filmischen Erzählung. Nämlich darin, dass Alex auch weiterhin stark bleibt, auch wenn es oft schmerzhaft mit anzusehen ist, wie stark Alex sein muss, um sich gegen das Außen zu stemmen. Die Vorstellung, dass die damals 15-Jährige Figur heute 32 wäre und immer noch mit aller Kraft für sich einsteht und dabei nicht allein ist, macht Mut. Wenn Alex damals schon den eigenen Willen klar formulieren konnte, ist Alex vielleicht trotz aller streitbaren Anlagen dieser Filmerzählung eine Figur, die als Vorbild dienen kann und für Repräsentation sorgt.

Und so legt sich Alex, nachdem die Fremden wieder gefahren sind, den Arm des Vaters um die eigenen Schultern. Nichts kommt zwischen die beiden. Die Mutter bleibt auf Distanz. Womöglich ist das das Wahrhaftigste dieses Films: diese Vater-Kind-Beziehung. Alex hat einen Vater, der bedingungslose Liebe schenkt. Im Kontrast dazu steht die Beziehung von Álvaro und seinem Vater, dessen Ansprüchen der Sohn nie genügen können wird. Das Glück scheint abhängig zu sein von starken Bindungen und von Vertrauen. Alex, engumschlungen vom Vater, läuft aus dem Bild. Was bleibt ist der Blick auf das Meer, das in den Horizont übergeht. Das ganze Bild geflutet von Blau. Am Ende steht die Natur über allem.




XXY
von Lucía Puenzo
AR/FR/ES 2007, 88 Minuten, FSK 12,
spanische OF mit deutschen UT,
Kool Filmdistribution

Als DVD und VoD