Benedetta

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Spätestens seit „Basic Instinct“ (1992) und „Showgirls“ (1995) gilt Paul Verhoeven als Meisterregisseur der erotischen Unter- und Obertöne. Vier Jahre nach seinem kontroversen Selbstermächtigungsdrama „Elle“ lässt er nun in „Benedetta“ Katholizismus und „verbotene“ Sexualität aufeinanderprallen. Die Geschichte der Nonne Benedetta, die von Visionen getragen gegen das Zwangssystem um sich herum aufbegehrt und ihrem alles durchdringenden lesbischen Begehren folgt, sorgte dieses Jahr bereits in Cannes für breites Aufsehen. Philipp Stadelmaier sucht nach dem Platz von „Benedetta“ in der Filmgeschichte und taucht tief in Visionen ein.

Foto: Capelight/Koch Films/Central

Marien-Dildo-Verehrung

von Philipp Stadelmaier

Es gibt diesen einen Moment in „Benedetta“, von dem man sich erst nicht ganz sicher ist, ob es ihn wirklich gab. Im Grunde gleitet die Wahrnehmung an ihm ab, oder eher an etwas, was da sein sollte, aber nicht da ist. Dieses Etwas ist das Geschlecht des gekreuzigten Jesus, das unter seinem gelüfteten Gewand sichtbar wird, und bei dem es sich keineswegs um einen Penis handelt, wie man vermuten könnte, sondern um eine Vagina. Benedetta de Carlini hat eine Vision, und in ihr nähert sie sich diesem genderfluiden trans Jesus an, der hier „verschmilzt“ mit derjenigen Person, mit der Benedetta gerade eine Affäre beginnt: der Novizin Bartolomea, die sie zuvor aus den Händen eines gewalttätigen Vaters gerettet und ins Kloster aufgenommen hat.

Paul Verhoevens neuer Film, der bereits letztes Jahr fertiggestellt worden war und wegen Corona erst dieses Jahr in Cannes lief, erzählt die Geschichte der historischen Figur der Benedetta Carlini, Nonne in einem Theatiner-Konvent in Pescia, im 17. Jahrhundert. Schon als Teenager hat sie Visionen von Jesus, die von Beginn an auch erotischer Natur sind. Dank ihrer besonderen Nähe zum Erlöser steigt sie schnell zur Äbtissin auf. Doch einige ihrer Schwestern bekommen Zweifel: Ist sie wirklich eine Auserwählte, oder hat sie sich die Stigmata an den Händen selbst zugefügt? Spricht da wirklich Jesus durch sie hindurch, oder ist sie nur eine gute Schauspielerin? Dass sie eine lesbische Beziehung mit einer ihrer Schwestern hat, kommt während eines von den kirchlichen Autoritäten angestrengten Inquisitionsprozesses zum Vorschein. Bei all dem bezieht sich Verhoeven auf die Studie „Immodest Acts. The Life of a Lesbian Nun in Renaissance Italy” der Historikerin Judith C. Brown, die in den 1980er Jahren die Prozessakten in einem Archiv in Florenz entdeckt hat.

Um den Platz von „Benedetta“ in der Filmgeschichte zu bestimmen – jedenfalls in demjenigen Teil, der dem Autor dieser Zeilen in diesem Moment wie in einer Vision vor Augen tritt –, genügt diese grandiose Szene am Kreuz. Ihr Hintergrund, in dem Himmellicht dramatisch durch dichte Wolken bricht, könnte von einem sehr alten flämischen Meister oder einem weniger alten Hollywood-Historienfilm von William Wyler oder George Stevens stammen. Später hat Pier Paolo Pasolini Jesus zum Sozialrevolutionär gemacht, Milo Rau hat ihn als Schwarzen Migranten wiederbelebt. Verhoeven hingegen macht ihn zur Frau oder eher noch zur Maske einer Frau, die unter seinen Zügen aufscheint: unter dem gelüfteten Gewand am Kreuz, am Geschlecht und an Stelle des Geschlechts, dessen konstruierte und falsche Binarität auf einmal in einen flackernden, virtuellen Charakter überführt wird.

Die Verflüssigung der Geschlechter, das Spiel aus christlicher Ikonographie und körperlichen Metamorphosen, die von einem queeren Begehren befeuert werden, rückt Verhoeven überraschenderweise in die Nähe von Joao Pedro Rodrigues. In dessen Film „Der Ornithologe“ (2016) schläft die Hauptfigur mit einem jungen Mann namens Jesus und verwandelt sich in den Heiligen Antonius von Padua – die körperliche und spirituelle Ektase fallen in eins. Rodrigues hat den queeren Fond katholischer Ikonographie gerade in deren Körperfixiertheit ausgemacht, wobei die Lust auf den Körper mit der Lust an seiner Peinigung zusammenkommt, was sein Faible für SM erklären mag.

Foto: Capelight/Koch Films/Central

Auch Benedetta und Bartolomea geilen sich auf, wenn eine Mitschwester sich zur Strafe auspeitschen muss. Das Körperliche und Organische wird unterdrückt und bestraft, aber die Sexualität entsteht gerade aus ihrer Unterdrückung. Schon wenn Benedetta, noch als Kind, ins Kloster kommt, wird ihr eine unangenehm kratzende Kutte übergeben, denn, so die andere Schwester, „dein Körper ist dein schlimmster Feind“. Einer anderen Ordensgenossin wurden schon Gliedmaßen amputiert, aber umso besser: „Ich würde meinen ganzen Körper durch Holz ersetzen, in den der Name von Jesus geschnitzt ist.“ So ist es bereits der Wunsch nach körperloser Keuschheit und hölzerner Reinheit fernab des Organischen, in dem, ironischerweise, der anzügliche Wunsch der körperlichen Verschmelzung mit dem geliebten Heiland „eingeschnitzt“ ist.

Es ist genau dieser Wunsch, den Benedetta ausleben wird. Der komische Sieg des Organischen und Sexuellen lässt sich als Geschichte einer Brust und ihrer Fleischwerdung beschreiben. Er kündigt sich an, als Benedetta, noch als Kind, nachts vor einer Marienstatue betet, die sich mit einem Mal von ihrem Sockel löst und auf sie herniedersaust, dann aber in der Luft vor ihr stehen bleibt, sodass die steinerne Brust der Heiligen Jungfrau beinahe den Mund der jungen Novizin berührt: ein erstes Wunder, das Benedetta wiederfährt. Später kehrt die Brust wieder: als verstümmelter Teil des Körpers einer anderen Schwester, und schließlich als Bild im spiegelnden Teller, mit dem sich Benedetta als junge Frau die Brüste betrachtet.

Foto: Capelight/Koch Films/Central

Den größten Triumph aber erlebt die Libido in der Marienstatue, die Benedetta als Kind mit ins Kloster nimmt und die von Bartolomea in einen Dildo umgezimmert wird. Man kann sich vorstellen, dass der Film, wäre er nicht so fein inszeniert, ins Nunsploitation-Genre abgedriftet wäre, das im italienischen B-Movie der 1970er Jahre oder in Pedro Almodóvars post-franquistischem, punkig-hedonistischen Frühwerk mit Filmen wie „Das Kloster zum Heiligen Wahnsinn“ (1983) seinen Platz hatte, aber im 21. Jahrhundert schlecht gealtert ist. Nicht bei Verhoeven: Benedetta ist kein „Objekt“, auf das erotische Phantasien projiziert werden, sondern das handelnde, gleichzeitig völlig opake Subjekt des Films. Verhoeven spannt den Bedeutungsfächer zu weit auf, als dass der Film auf einen „male gaze“ auf zwei Lesben reduziert werden könnte: Der Marien-Dildo ist ein Symbol der Heiligkeit, aber auch der Machtergreifung einer Frau über den eigenen Körper und über die Gemeinschaft des Konvents. Benedetta könnte ebenso eine „echte“ Heilige sein, mit „echten“ Visionen und Stigmata, wie auch eine geschickte Manipulatorin, die Wunder inszeniert, um zur Äbtissin aufzusteigen, damit sie in ihrem eigenen Zimmer mit Bartolomea ungestört Sex haben kann.

Foto: Capelight/Koch Films/Central

Während sich die beiden Geliebten das erste Mal mit dem Dildo befriedigen, zieht draußen ein Komet über den Himmel und färbt ihn rot – ein historisch verbürgtes Ereignis, interpretiert zuweilen als Zeichen Gottes, in dem die sexuelle mit einer universalen Ekstase einhergeht. Wie bei Rodrigues verlässt das homosexuelle Begehren das kleine Theater des Privaten und affiziert die ganze Welt. Der Portugiese folgt in seinen Filmen der Auflösung der körperlichen Identität seiner Figuren ins Reich der Fetische und des Posthumanen. Verhoeven interessiert sich eher für die Erschütterung der Symbole und Bedeutungen in der Welt, die seine Figuren umgibt. In einer Vision zerhaut Jesus mit dem Schwert die Schlangen, die Benedetta verführen wollen (Schlange = Frau = Bartolomea); in einer anderen Vision ist es dann Jesus selbst, der Benedetta verführt („In meiner Gegenwart muss sich niemand schämen.“). Die Bindung von Benedetta an Jesus stellt sich also als Bindung an eine Kraft heraus, die keineswegs mit dem Schwert das böse lesbische Begehren abhält, sondern die Bedeutungslinien durchtrennt, die dieses als böse konstruieren und zwischen Mann (Jesus) und Frau (Bartolomea) unterscheiden.

Indem sich Benedettas Liebe zu Bartolomea mit jener zu Jesus und gleichzeitig (qua Komet) „zu allen“ vermischt, den Menschen, die sie in Pescia vor der Pest bewahren will, erahnt man, wie bei einem Rohdiamanten, die Vorstellung einer universellen Sexualität, die jegliches filmisches Genre (B-Movie, Giallo, Parodie) wie auch jede heteronormativ-binär konstruierte Geschlechtlichkeit überbordet. Unnötig zu erwähnen, dass eine solche Vision den Herrschenden Angst macht. Am Ende wird die Penetration, nach ihrem Auftauchen im lesbischen Liebesspiel, in Form eines grauenvollen Folterinstrumentes wieder zur Waffe des Patriarchats, das für die lesbische Nonne und vermeintliche Häretikerin schon mal den Scheiterhaufen angeheizt hat.




Benedetta
von Paul Verhoeven
FR/NL 2021, 131 Minuten, FSK 16,
französische OF mit deutschen UT und DF,
Capelight/Koch Films/Central

Ab 2. Dezember im Kino.

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