Teorema (1968)

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Am 2. November jährt sich zum 49. Mal der Tag, an dem Pier Paolo Pasolini am Strand von Ostia auf brutalste Weise ermordet wurde. Die Hintergründe konnten nie restlos aufgeklärt werden. Zuvor schuf Pasolini, einer der wichtigsten italienischen Intellektuellen und Poeten des 20. Jahrhunderts, in nur 15 Jahren ein dichtes und vielgestaliges Filmwerk, das von neorealistischen Außenseiterporträts („Accatone“, 1961; „Mamma Roma“, 1962) bis zu dem vielleicht grausamsten Film aller Zeiten („Die 120 Tage von Sodom“, 1975) reicht. sissy erinnert an einen ihrer Lieblingsregisseure mit einem Text zu dessen mysteriösestem und queerstem Film. In „Teorema“ besucht ein strahlend schöner Fremder eine Mailänder Industriellenfamilie, verführt jedes der Familienmitglieder und verschwindet danach so plötzlich wieder, wie er aufgetaucht war. Für Philipp Stadelmaier schlummert in „Teorema“ nicht weniger als die Möglichkeit einer Utopie: das Patriarchat wird abgeschafft, die Kleinfamilie ebenso, der Besitz aufgegeben, die Sexualität frei ausgelebt. Die Geschichte einer Heilsbringung. Oder doch etwas ganz anderes?

Foto: Aetos

Die rosa Wüste (Allegorien des Sehens)

von Philipp Stadelmaier

Eingeladen worden, über Pier Paolo Pasolinis „Teorema“ aus einer queeren Perspektive zu schreiben, hat der „Teorema“-Kommentator zunächst darauf hinzuweisen, dass „Teorema“ alle möglichen Kommentare und Perspektiven, die auf den Film geworfen werden könnten, queere und andere, bereits in sich vereint. Es gibt keine Lesart, die nicht schon im Film angelegt wäre, von ihm provoziert und gleichzeitig in ihm ins Leere laufen würde. So hat es einst Serge Daney festgehalten, der (homosexuelle, 1992 an den Folgen von Aids gestorbene) französische Filmkritiker, in seiner „Teorema“-Kritik von 1969 mit dem Titel „Le désert rose“ trägt („Die rosa Wüste“), in Anspielung auf Michelangelo Antonionis Film „Die rote Wüste“ (1964). Glaubt man den Erinnerungen Pascal Bonitzers, Daneys damaligem Kollegen bei den Cahiers du cinéma, verfasste Daney sein Manuskript mit roter Tinte.

Daneys Grundidee ist folgende: „Teorema“ ist die Allegorie seiner eigenen Vorführung und anschließenden Interpretation. Die großbürgerliche Familie, der anfangs die Ankunft eines namenlosen Gastes angekündigt wird, wäre das Publikum; der Gast, gespielt von Terence Stamp, der Film. Die Mitglieder der Familie werden zunächst einzeln gefilmt und versammeln sich erst im Moment der Ankunft des Gastes in ihrem Anwesen, so wie das Publikum zur Vorführung in einem Kinosaal zusammenkommt. Familie und Gast, Publikum und Film verbringen einige Zeit zusammen. Dann reist der junge Mann wieder ab und verschwindet – die Vorführung ist beendet. In der zweiten Hälfte des Films gehen die Familienmitglieder, wie die Zuschauer:innen nach dem Kinobesuch, getrennte Wege und machen verschiedene Erfahrungen, die, so Daney, verschiedenen Interpretationen des Gesehenen entsprechen. Da wäre die religiöse Interpretation, da die Haushälterin (Laura Betti) eine Levitation erlebt und als Heilige verehrt wird; die ästhetische Interpretation, da der Sohn (Andrés José Cruz Soublette) zu malen beginnt und Künstler wird; die pornographische Interpretation, da die Mutter (Silvana Mangano) sexuelle Abenteuer mit diversen Männern hat; und schließlich die politisch-ökonomische Interpretation, da der Vater (Massimo Girotti) seine Fabrik an seine Arbeiter:innen abtreten wird. Die Tochter wiederum, gespielt von Anne Wiazemsky, verliert ihre Sprache, denn eine Möglichkeit besteht auch darin, den Film gar nicht zu kommentieren.

Gleichzeitig laufen all diese Wege der Interpretation ins Leere. Denn der Film beginnt und endet in der Wüste. Aus ihr, so Daney, hat Gott „sich zurückgezogen und die Schrift beginnen lassen, diese unendliche Bewegung ohne Ende und ohne Garantie, interpretiert werden zu können.“ Somit wird „die Domäne des Kommentars“ betreten, „in der niemand falsch liegt und niemand recht hat.“ [*] Die Schrift verblasst, die rote Tinte versickert und hinterlässt eine Wüste. Eine rosa Wüste.

Damit wäre auch das Schicksal eines queeren Interpretationsweges durch „Teorema“ besiegelt. Queere Elemente gibt es natürlich, die ohne Pasolinis eigene Homosexualität vielleicht nicht nachvollziehbar wären: Der junge Mann, der die Familie heimsucht, ist ein prachtvoller Engel (Terence Stamp in der Blüte seiner Schönheit), ein Männerkörper, der die Blicke aller, Männer wie Frauen, auf sich zieht, und nicht zuletzt dazu führt, die Homosexualität des Sohnes aufzudecken. Der Gast, der hier so gerne angeschaut wird, wird dabei selbst zum Blicköffner: Seine immer wieder weit gespreizten Beine sind kein Manspreading, keine Ausdehnung einer raumgreifenden Männlichkeit, sondern eine Konzentration und Blickführung auf das, was sich zwischen den Beinen zu sehen gibt, im Schritt, unter der gespannten, prall gefüllten Hose: das verborgene und daher umso verlockendere Geschlecht.

Foto: Aetos

Der Film besteht ganz und gar aus Blicken: aus den Blicken der Figuren im Film, die sich auf den Gast richten, aber auch aus unseren Blicken auf den Film. Und diese Blicke richten sich auf einen Körper (sowie, zwischen seine Beine, auf sein Geschlecht). Es gibt wenige Filme, die so wenig theoretisch sind wie „Teorema“ und so sehr die physische (Blick-)Begegnung mit ihren Zuschauer:innen suchen – vor allem, wenn man das Glück hat, dem Film im Kino vor der Leinwand gegenüber zu sitzen. „Teorema“ ist, folgen wir Daneys Allegorese, genau das: der Körper von Stamp. Indem sich die allegorischen Bilder von ihrem konkreten Inhalt und noch von ihren allegorischen Bedeutungen befreien – Bedeutungen, die in dieser „Domäne des Kommentars“ versanden, „in der niemand falsch liegt und niemand recht hat“ –, machen sie Platz für die Begegnung mit diesem Körper, auf den der Film uns vorbereitet und der vor unseren Augen „an seine Stelle“ treten soll.

Von diesem Körper wissen wir nichts, selbst dann nicht, wenn wir ihn wiedersehen, man den Film „Teorema“ also schon kennt und ein weiteres Mal sieht. Der Name des Gastes ist ebenso unbekannt wie seine Herkunft und seine Sexualität (hetero? homo? bi?). Wir wissen nur, dass er auf verschiedene Weisen begehrt werden kann, so wie die Familienmitglieder den Körper von Terence Stamp auf verschiedene Art begehren. Der Gast inspiriert verschiedene sexuelle Praktiken, Handlungen und Erfahrungen. Da wäre die Entjungferung (der katholischen Haushälterin), der Fetischismus (die Ehefrau, die erst mit dem Gast und später mit anderen ihm ähnelnden Männern schläft), die Homosexualität (im Falle des Sohnes), die Sublimierung (die stumme Tochter schießt Fotos von dem Fremden), der Voyeurismus und die Frustration (der Vater beobachtet den Gast und seinen Sohn gemeinsam im Bett, während ihn seine Frau abweist) und schließlich der Exhibitionismus (am Ende entkleidet der Vater sich auf dem Mailänder Bahnhof).

Foto: Aetos

Nun kündigen sich in „Teorema“ durch das Eintreffen des Gastes zwei Revolutionen an: eine politisch-ökonomische und eine sexuelle. Die eine richtet sich gegen die Klassengesellschaft, die zweite gegen das cis-heteronormative Patriarchat. Beide werden im Schoß der Industriellenfamilie zusammengeführt. Da ist der Vater, der seine Fabrik den Arbeiter:innen vermacht; und da ist die bürgerliche Familie, die in alle Winde zerstreut wird. Der Film handelt auch davon, dass sich Klassenkampf verbinden muss mit Kämpfen für eine Befreiung der Sexualitäten und Geschlechtsidentitäten aus cis-hetero-patriarchalen, im klassischen Familienmodell verankerten Normen. Im Herzen von „Teorema“ schlummert die Möglichkeit einer Utopie: das Patriarchat wird abgeschafft, die Kleinfamilie ebenso, der Besitz aufgegeben, die Sexualität frei ausgelebt. Nackt durch die Wüste irren, auf ein Gemälde pissen, sich lebendig beerdigen lassen, nymphoman werden: Alle Kinks haben ihren Platz.

Diese Transformation ist gekoppelt an eine messianische Gestalt, einen namenlosen Körper, der angekündigt wird, erscheint und wieder verschwindet, der festgehalten werden soll und auf vielfache Weisen begehrt wird. Wäre es verkehrt, mit Bezug auf den Gast in „Teorema“ von einem queeren Messianismus zu sprechen, dem Hoffen auf die Ankunft eines queeren Erlösers?

Und doch wird die Revolution scheitern, was sich erneut der Logik der Allegorie ablesen lässt, oder vielmehr der Grenze, an die sie stößt. Der Film, schreibt Daney, mag davon erzählen, wie das Publikum einen Film sieht, sich dann zerstreut und nichts mehr ist wie zuvor. Nur: Das echte Kinopublikum wird ins Kino zurückkehren, weiter Filme sehen und keine Revolution machen. Denn „Teorema“ ist keineswegs der „letzte“ Film (der Filmgeschichte oder seines Autors). Die alten Besitzverhältnisse werden sich neu formieren, ebenso wie das Patriarchat und die Struktur der Familie. Der queere Messianismus muss, wie jeder Messianismus, enttäuscht werden. Der Erlöser, mit dem sich alles ändern soll, war da, aber zu kurz. Kaum war er hier, schon ist er wieder fort.

Foto: Aetos

Gerade durch dieses Scheitern seiner politisch-queeren Revolution und seiner messianischen Mission löst der Film dann aber doch sein Versprechen ein, keinen Stein auf dem anderen zu lassen. Insofern der „Gast“ als Figur der Veränderung diese Veränderung nicht einlöst und die Bilder den von ihnen hergestellten allegorischen Sinn immer auch hintertreiben („niemand liegt falsch, niemand hat recht“), kann nicht mehr klar sein, was genau „Veränderung“, „Revolution“, „Transformation“ oder „Transgression“ überhaupt noch bedeuten. Der Schock von „Teorema“ verändert das Verständnis von „Verändern“ selbst: Verändern, aber anders als bisher. Die Begriffe der Veränderung verlieren ihre Bedeutung, an denen ihr erfolgreicher Vollzug gemessen werden könnte, um neu ausgehandelt und neu definiert zu werden. Ihre Inhalte können heute andere sein als 1968, bleiben aber noch 2024 im Fluss. Womit die Frage, was „queer“ oder eine erfolgreiche „queere Revolution“ bedeuten könnte, ebenfalls zur Disposition gestellt wird. Eine „queere Lesart“ des Films muss, mit Bezug auf den enttäuschenden queeren Messias, scheitern und in ein „misreading“ münden; gerade in diesem Scheitern liegt aber ein transformatives Potenzial für den Begriff „queer“ selbst.

„Sei nicht traurig“, sagt Emilia, wenn sie sich von einer älteren Frau, gespielt von Pasolinis Mutter, auf einer Baustelle begraben lässt: „Ich bin nicht hergekommen, um zu sterben, sondern um zu weinen.“ Ihre Tränen, die neben ihrem Kopf einen kleinen See bilden, werden „eine Quelle“ sein, aber „nicht eine Quelle des Schmerzes.“ Aus Schmerz und Scheitern quillt bei Pasolini die Hoffnung, in Form eines Pflänzchens, das neben der Tränenpfütze aus der Erde zu sprießen beginnt und dessen künftige Konturen unabsehbar bleiben.

* Bei den Zitaten handelt es sich um eigene Übersetzungen aus Daneys Text. Sie finden sich in meinem Buch „Die Kommentatoren des Post-Cinema. Serge Daney, Jean-Luc Godard und die Rephilologisierung des Kinos im digitalen Zeitalter“, erschienen 2023 im Transcript Verlag, auf den Seiten 171 und 173. Im Open Access hier verfügbar.




Teorema
von Pier Paolo Pasolini
IT 1968, 98 Minuten, FSK 16,
deutsche SF & italienische OF mit deutschen UT