Light Light Light
Trailer • DVD/VoD
Inari Niemi erzählt in „Light Light Light“ von zwei Mädchen, die sich in der finnischen Provinz des Jahres 1986 und im Schatten der Atomkatastrophe von Tschernobyl ineinander verlieben. Voller bittersüßer Melancholie und mit lichtdurchfluteten Bildern zeigt der berührende Coming-of-Age-Film das Heranwachsen in einer Zeit der abstrakten Bedrohung und sozialen Kluften. Theresa Rodewald ist vor allem von der erfrischenden Selbstverständlichkeit begeistert, mit der sich die beiden Hauptfiguren finden und füreinander da sind.

Foto: Salzgeber
Das neue Mädchen in der Klasse, aber anders
von Theresa Rodewald
26. April 1986: Bei einem Routinetest in Block 4 des Kernkraftwerks Tschernobyl kommt es zur nuklearen Katastrophe. Die Explosion und der darauffolgende Brand des Reaktors setzen große Mengen radioaktiven Materials frei, das vom Wind tausende Kilometer weit getragen wird.
Im ländlichen Westfinnland sind Mariia und Mimi derweil mit ganz anderen Dingen beschäftigt. Mimi wird von ihrem Vater bei ihrer Tante abgesetzt und kommt neu in die Klasse von Mariia. Ihre Familien könnten unterschiedlicher kaum sein: Mimis Alltag ist geprägt von einem Mangel an emotionaler und materieller Fürsorge, während Mariias Familie mit Eigenheim, Waffeln am Sonntag und gemeinsamen Fernsehabenden einem Bilderbuch entsprungen zu sein scheint. Mimi und Mariia ist das aber relativ egal, die Sommerferien stehen vor der Tür und Mimis Zuzug ist der Beginn einer engen Freundschaft, die sich schon bald zu einer wunderbaren ersten großen Liebe entwickelt. Nur Mariias Eltern sehen das anders. Mimi – „diese Person“ – ist für ihre Tochter nicht der richtige Umgang, finden sie. Es ist ein bisschen wie Romeo und Julia auf dem finnischen Lande, nur eben mit zwei Julias. Und es ist genau diese Selbstverständlichkeit, die „Light Light Light“ auszeichnet.
Vielleicht bilden queere Coming-of-Age-Filme kein eigenes Genre wie etwa Actionfilme oder Western. Wobei man sich fragen könnte, wieso das so ist und ob daran nicht vielleicht die Annahme Schuld ist, queere Filme würden kein breites Publikum ansprechen. Aber sie weisen definitiv eigene erzählerische und formsprachliche Muster auf. Im queeren Coming-of-Age-Film gibt es wiederkehrende Narrationsstränge und spezifische Themen: Die Handlung spielt zum Beispiel oft auf dem Land und wird durch „das neue Mädchen in der Klasse“ (bzw. „den neuen Jungen in der Klasse“) in Gang gesetzt. Es gibt die Freundschaft, aus der Liebe wird, die verständnislosen Eltern und den einen Sommer, der alles verändert. All diese Elemente weist auch „Light Light Light“ auf. Und ist doch noch einmal anders.
Denn nicht das sexuelle Erwachen von Mimi und Mariia steht im Zentrum der Geschichte; weder die beiden, noch ihr Umfeld hadern mit ihrer Sexualität. Die Hürde, die sich ihnen in den Weg stellt – zunächst unauffällig, dann immer deutlicher und unüberwindlicher – ist nicht Homophobie, sondern Klassismus. Denn Finnland 1986 ist nicht so gleich und brüderlich, wie wir es uns gerne vorstellen. Die Kluft zwischen den sozialen Schichten ist tief – auch, wenn sie weniger offensichtlich und weniger institutionalisiert ist als in anderen Ländern.

Foto: Salzgeber
In Mariias Leben ist nicht alles rosig: Ihre Mutter hat Krebs und ist erschöpft von der Chemotherapie, Mariia kann ihren Bruder nicht ausstehen und sowieso wird in der Familie nicht offen miteinander gesprochen. Aber ihre Eltern kümmern sich, oder versuchen es zumindest. Mariia hat ein nettes, helles Zimmer und so viele Sonntagswaffeln, wie sie möchte. Selbstverständlich, könnte man meinen. Das Klischee der Mittelklasse, in der es an nichts fehlt – außer an emotionaler Offenheit.
Doch dass gestillte Grundbedürfnisse alles andere als selbstverständlich sind, erfährt Mimi mit schmerzhafter Deutlichkeit. Ihr Vater liefert sie bei ihren Verwandten ab, als wäre sie ein lästiges Gepäckstück. In einem Anflug von Verzweiflung fährt Mimi später in die Stadt, um ihn zu besuchen. Er sitzt mit Freunden beim Bier und tut so, als kenne er sie nicht. Der Moment fühlt sich an, wie ein Schlag in die Magengrube, und es ist ja auch Gewalt, die Mimi hier wiederfährt, nur dass sie eben keine Spuren auf ihrem Körper hinterlässt.

Foto: Salzgeber
In ihrem neuen Zuhause, das das Wort nicht verdient, sieht es nicht viel anders aus: Ihre Tante begegnet ihr mit unverhohlener Feindseligkeit. Mimi ist für sie ein weiteres Maul, das gestopft werden muss. Woher soll das Geld kommen und was tut das Kind überhaupt hier, wenn es doch zu nichts nutzt? Mimis Onkel trinken von früh bis spät und betrachten sie mit den unangenehmsten Blicken. Nur Mimis Großmutter ist liebevoll. Sie gibt ihr von ihrer Portion Essen, denn nicht einmal dieses grundlegendste aller Grundbedürfnisse ist gestillt. Dazu kommt das ärmliche Haus, in dem die Farbe von den Wänden abblättert, wo die Türrahmen voller Splitter sind und die Bettdecken feucht und fleckig. Und natürlich ist da noch das Stigma, die soziale Zuschreibung, ein schlechter Einfluss, ein „Problem“ zu sein.
„Light Light Light“ schildert eindrücklich, wie verletzlich und ausgeliefert Kinder und Teenager ihrem Umfeld sein können. Gleichzeitig ist der Film aber weder voyeuristisch in seiner Darstellung von Armut und Vernachlässigung noch ein Sozialdrama, mit deutlicher politischer Kernbotschaft. Er erzählt aufrichtig von allem: dem Schönen, das Mimi und Mariia erleben, und dem kaum Aushaltbaren.

Foto: Salzgeber
In diesem Kontext ist die Beziehung zwischen Mimi und Mariia in ihrer Gelassenheit besonders berührend. Das Entdecken und Ausleben ihrer Sexualität hat nichts Traumatisches. Die beiden begegnen sich zwar in dem sozialen Gefüge ihrer Kleinstadt, lassen diese Zuschreibungen aber problemlos hinter sich. Dass Mariias Eltern Mimi ablehnen ist zwar insofern tragisch, als dass sie von den Erwachsenen nicht die Hilfe bekommt, die sie braucht, an der Beziehung zwischen den beiden ändert das jedoch nichts. Ganz im Gegenteil: Je schwieriger Mimis Situation, desto mehr hält Mariia zu ihr. Die beiden klammern sich aneinander fest, versuchen, sich gegenseitig zu retten, wie es nur Teenager können – mit einer Mischung aus Naivität, Trotz und Stärke. Die Liebe der beiden ist nicht der Grund ihrer Probleme, sie ist ihr Anker und Lichtblick.
Und gleichzeitig verklärt „Light Light Light“ die Beziehung nicht. Es gibt Ansätze von Co-Abhängigkeit. Und wahrscheinlich hätte die Liebe auch nicht ewig gehalten? In diesem Moment, in diesem Sommer ist sie aber das Beste, was den beiden passieren kann. Es gibt eine Sequenz, in der Mariia ihr gespartes Geld zusammenkratzt, um mit Mimi wegzufahren. Sie reißen aus, fühlen sich frei und müssen am Ende wieder nach Hause. In diesem Wollen und nicht Können, gehen sie sich gegenseitig auf die Nerven und vertragen sich dann doch wieder. Es fühlt sich echt an, bitter und dennoch so viel besser als nichts.

Foto: Salzgeber
Genauso gut beobachtet ist der zweite Erzählstrang des Films. Hier kehrt die inzwischen erwachsene Mariia in ihr Elternhaus zurück, zu ihrer Mutter, deren Krebs zurückgekommen ist. Und sie ist den Erinnerungen ausgesetzt, den unbearbeiteten Emotionen und der Schuld, die sie all die Jahre mit sich herumgetragen hat. Immer wieder zeigt Regisseurin Inari Niemi ihre Hauptfigur dabei, wie sie komplett unbefreit und ohne besondere Freude durch die finnische Landschaft joggt. Ihre Mutter fragt sie, was das soll, und Mariia sagt: Es gibt dieses Bild im Film, wo die Hauptfigur geplagt wird von Problemen, aber beim Laufen immer noch frei ist.
„Light Light Light“ setzt diesem Klischee etwas entgegen, denn ja: Mariia funktioniert, sie kann Joggen und arbeiten und sich mit alten Freundinnen treffen, und trotzdem trägt sie die Vergangenheit immer mit sich herum, wird von ihr zurückgehalten und hinuntergezogen. Diese Darstellung ist nicht etwa hoffnungslos, sie ist in ihrer Ehrlichkeit heilsam. Bei Mariia lösen sich die Gefühle irgendwann und sie ist fähig, offen mit ihrer Mutter zu sprechen. Der Film sprengt auch an dieser Stelle die Grenzen des (queeren) Coming-of-Age-Films, denn dieses Sich-selbst-Finden, das Erwachsen, passiert nicht nur diesen einen Sommer mit sechzehn, sondern noch zwanzig Jahre später.
Und Tschernobyl? Ist Drohkulisse und Metapher zugleich – für das Ausgeliefert-Sein, die grundlegende Veränderung und für die atomare Strahlkraft erster Liebe.
Light Light Light
von Inari Niemi
FI 2023, 91 Minuten, FSK 12,
finnische OF mit deutschen UT
Als DVD und VoD