Carol
Trailer
Endlich: das große lesbische Melodram! Keine Infragestellung des Begehrens selbst, kein tragischer Ausgang, große Gefühle, A-Cast, Hollywood. Aber es brauchte fast 20 Jahre, um Patricia Highsmiths Kultroman „The Price of Salt“ angemessen auf die Leinwand zu bringen. Und die problematische Produktionsgeschichte ist, genauso wie die anschließende Ignoranz der amerikanischen Filmakademie gegenüber „Carol“, vor allem ein Ausweis der Schwierigkeit, einen Film ohne männliche Hauptrollen in den Mainstream einzuspeisen. Auch dem weiblichen Begehren bleibt im Film nichts anderes übrig, als sich in den Spiegelungen der Oberflächen der heteronormativen Welt hinweg zu treffen.
Liebe zwischen den Bildfeldern
„You so prefer things reflected in glass, don’t you?“
(Carol zu Therese in „The Price of Salt“ von Patricia Highsmith)
Therese, die Carol lieben wird, sieht das Fenster der Cafeteria des Warenhauses, in dem sie arbeitet, als ein abstraktes Gemälde von Piet Mondrian. Eines der vielen, ineinander gestapelten Rechtecke öffnet sich nach draußen. So etabliert Patricia Highsmith in „The Price of Salt“ von 1952, der Romanvorlage zu Todd Haynes „Carol“, gleich zu Beginn Thereses bildhafte Wahrnehmung ihrer Umgebung.
Das Buch – seiner Zeit voraus – eine der bewegendsten Schilderungen der zufälligen Begegnung zweier Menschen, des Sich-Verliebens zweier Frauen in der US-amerikanischen Literaturgeschichte. Der Film – die Zeit durchkreuzend – findet zu einer Farbgebung und Bildsprache für Begehren, die ein lesbisches Zeichen in der queeren Filmgeschichte setzt.
Haynes Film entwickelt eine visuelle Sprache, die den Zuschauer_innen im Schauen selbst begegnet: in den Blickwechseln der Figuren, aber auch in ihren eigenen cineastischen Sehgewohnheiten und Projektionen.
Auf der Grundlage von Phyllis Nagys Drehbuchadaption entfaltet sich „Carol“ als Liebesgeschichte im New York der frühen 1950er zwischen einer jungen Teilzeitarbeiterin mit fotografischen Ambitionen (Rooney Mara als Therese Belivet) und einer wohlhabenden Hausfrau und Mutter, die diesem Label in glamouröser Hinsicht widerspricht (Cate Blanchett als Carol Aird).
In Zusammenarbeit mit Nagy, die den ersten Entwurf des Scripts schon vor achtzehn Jahren schrieb und ihn immer wieder an die Forderungen und Ideen neuer Auftraggeber anpassen musste, kehrte Haynes zum eigentlichen Ton der Vorlage zurück. Begehren vollzieht sich im Inneren der Figuren, ist getragen von Sehnsüchten, unausgesprochenen Gefühlen, Antizipation und Verletzlichkeit in den Gesichtern, aber auch Zugewandtheit und Herausforderung in der Körpersprache. Die Interaktionen zwischen Therese und Carol sind von einem ständigen Abwarten und Abwägen, spiegeln das Unwissen über die Gefühle der Anderen, die Suche nach Anzeichen, die etwas zu erkennen geben.
So erklärt auch der Journalist Dannie, der Filme schaut, weil er eigentlich Autor werden will, in den Projektorraum eines Kinos gezwängt, von dem aus Therese und ihre Freunde „Sunset Boulevard“ schauen: „Ich skizziere das Verhältnis zwischen dem, was die Figuren sagen, und dem, was sie wirklich fühlen.“
Nicht in den Dialogen, sondern in den Blicken und Gesten sammelt sich die Anziehung in „Carol“. Cate Blanchett lässt Kalkül und Erstaunen um ihre Mundwinkel spielen, wenn sie Therese eine Zigarette anbietet. Hält immer den richtigen Scherz bereit, solange sie sich Thereses Interesse noch nicht sicher sein kann, schiebt Thereses Weihnachtsgeschenk, eine Kamera, mit dem Fuß durch die Tür. Rooney Maras subtile Mimik schwankt zwischen Verlegenheit, Fassungslosigkeit und schließlich Entschlossenheit. Zur Liebesszene kommt es erst in der zweiten Hälfte des Filmes, bis dorthin begleiten Redepausen, eine Hand auf der Schulter, ein nur für Therese sichtbares Augenzwinkern Carols die Begegnung.
In Highsmith semi-autobiografischen Roman steht Thereses Zustand voll entrückter Gefühle, unterdrückter Anziehung, Zweifel und Projektionen im Zentrum ihres inneren Monologs. „The Price of Salt“ handelt von Therese. „Carol“, so sagt es schon der Titel, handelt von Carol.
Denn sie ist es – zu Beginn alle Fäden in der Hand haltend und der jüngeren Therese fast amüsiert begegnend –, die am Ende am meisten zu verlieren hat. In Anspielung auf „Christmas Carols“ spielt der Titel bereits auf die Jahreszeit an, die eine der Spannungsebenen des Melodrams einleitet. Carols Noch-Ehemann Harge, mit dem sie in einem Scheidungsverfahren steckt, und seine Familie werden versuchen, Carols Tochter als Druckmittel zur Rückkehr in den heterosexuellen Nukleus zu benutzen. Bereits zu Beginn des Films holt Harge Rindy mitten in der Nacht für den Urlaub mit den Großeltern ab und stiehlt Carol den Weihnachtsabend. Dabei erblickt er Therese und schickt Carol, die offensichtlich nicht zum ersten Mal weiblichen Besuch hat, eine Sorgerechtsverfügung wegen moralischen Fehlverhaltens hinterher.
Aber – und das sei gleich gesagt – auch wenn die deutsche Rezeption in einer regelrechten Wahrnehmungssperre häufig in den Versuch zurückfiel, ein heterosexuelles Beziehungsdrama zum Ausgangspunkt des Films zu erklären bzw. diesen über ein solches erst erklärbar zu machen: „Carol“ ist ein Film über lesbisches Begehren, in dem männliche Protagonisten keine zentralen Rollen einnehmen, nicht den Fokus weiblicher Figuren bilden. Allein durch diese Verschiebung subvertiert „Carol“ androzentrische Erzählmuster des heterosexuellen Kinos.
Die Einschränkung, die ein gesellschaftliches Koordinatensystem mit sich bringt, das in eine ständige Inszenierung von Heterosexualität investiert, wird zunächst darin spürbar, dass die Figuren dem Frame nie ganz entkommen, sich ausschließlich zwischen den Bildfeldern bewegen können. So sitzen Carol und Therese, nachdem sie dem Privatdetektiv von Carols Noch-Ehemann begegnet sind, in den äußeren Ecken ihrer Autositze. Als Therese einem Panikanfall nahekommt, wechselt Carol in ihr (Handlungs-)Fenster hinüber.
Die Unterbrechung durch andere Charaktere wird zum zentralen Motiv. Fast immer sind Carol und Therese von anderen Figuren umgeben, sei es die Menschenmenge in der Spielzeugabteilung, in der sie sich zum ersten Mal begegnen, Thereses Chefin, die einem Telefongespräch beiwohnt oder eine Kundin, die sich zwischen die Blickachse von Carol und Therese schiebt.
Es ist vor allem diese Formsprache des Films, die den heterosexuellen Blick und seine Sehkonventionen sichtbar macht, indem Ed Lachmanns Kamera die Figuren stets durch einen Filter vermittelt ins Bild setzt, durch den das Publikum Carol und Therese zwar beiwohnen darf, sie dabei aber nie besitzen kann.
Zum einen überzieht die Körnigkeit des 16mm Films, auf dem „Carol“ gedreht wurde, den Film mit einer weiteren Filmschicht. Zum anderen greift die Kamera die Mondriansche Aufteilung der Umwelt in immer kleinere Felder, über die im Roman Thereses Wahrnehmung erzählt wird, auf, und überträgt sie auf das bewegte Bild. Einem abstrakten Gemälde gleich rahmt Haynes seine Figuren, sie sind umgeben von Fensterrahmen, Wänden, Strukturen. Immer ist da ein Frame im Frame. Fast nie sind die Figuren unverstellt im Bild. Wir sehen Therese und Carol in Glasscheiben gespiegelt, weit von der Kamera entfernt in einem Türrahmen, hinter verregneten Autoscheiben. Vor dem ersten Kuss sehen sich Carol und Therese über einen Spiegel in die Augen.
So wird der Film zur Hommage an die New York School of Photography, im Besonderen an Saul Leiter, der der Fotografie über ebensolche Fensterrahmen und reflektierende Glasscheiben eine Abstraktionsebene beigab, wie sie auch im Film zu finden ist. Und die, wie Haynes es formulierte, die Frage aufwirft: „Who is looking at whom?“
Angesichts dieser rahmenden Bildkomposition stellt sich ein Gefühl intimer Distanz ein, das sich in Innen- und Außenräume gleichermaßen einzuschreiben scheint; die private Nähe der beiden Hauptfiguren ist den Zuschauer_innen nur im Abstand zugänglich. Carol und Therese selbst wahren einen gewissen Grad an Distanz in der Öffentlichkeit, die unmittelbare Umgebung formt aber auch eine Oberfläche, unter der flirtende – später sind es liebende – Blicke und Gesten unerkannt bleiben können. Umso stärker nimmt die Kamera in entscheidenden Momenten des Alleinseins der beiden, aber auch über Menschenmengen hinweg, die erste Person ein und lässt das Publikum plötzlich doch für einen Moment ganz nah und subjektiv die Gewissheit einer Liebe teilen.
In der Darstellung prekärer Intimität kommt womöglich auch Ed Lachmanns Herkunft aus der Malerei zum Vorschein. Therese, gegen Ende des Films mit gepacktem Koffern auf dem Bett sitzend, wirkt, wie eine Figur aus eine Edward Hopper Gemälde, vollkommen allein. Die Stimmung, die „Temperatur“ des Films, entsteht neben der Rahmung der Figuren, auch aus der zurückhaltenden Farbigkeit in Lachmanns Bildern.
Nicht die ikonischen Primärfarben, die mit Mondrians Neo-Plastizismus verbunden werden, bestimmen „Carol“, sondern die pastellartigen, gedeckten Grün- und Gelbtöne seiner früheren Farbflächen. Nicht die über-satten, am Sirk’schen Kino der späten 1950er orientierten Töne, wie Haynes und Lachmann sie in „Far From Heaven“ (2002) zelebrierten, inspirieren die Stimmung, sondern Vorbilder aus Fotojournalimus und künstlerischer Fotografie der Nachkriegszeit, aus den Anfängen der New Yorker Straßenfotografie in Farbe bei Vivianne Meier und Ruth Orkin, die mit dem gedämpften Farbspektrum von Ektachrome-Filmen experimentierten.
Therese selbst betrachtet Carol durch den Filter ihrer Kamera. Was sie nicht aussprechen kann, bildet sie ab. Carol wird zu ihrem ersten Subjekt. Zunächst erklärt sie, dass das Fotografieren von Menschen ihr wie eine Invasion in die Privatsphäre vorkommt. Doch Carols Präsenz, ihre stets rote Kleidung, zwingt sie zum Hinschauen, zum Festhalten.
Bis sie es ist, der Carol aus einem Taxi hinterher schaut, nun selbst in Rot gekleidet, zur professionellen Fotografin für die Times aufgestiegen. Die Machtachsen verschieben sich, und in der durch „Brief Encounter“ (1945) inspirierten Wiederholung der Anfangsszene, in der Therese und Carol erst durch eine Nebenfigur als Protagonistinnen des Films erscheinen, und wie so oft in ihrer Intimität von einem Außenstehenden gestört werden, ist es Carol, die jeglicher Gewissheit beraubt, ihr Innerstes mit aller Kraft zusammenhält.
Carol
von Todd Haynes
US 2015, 118 Minuten, FSK 6,
deutsche SF, englische OF mit deutschen UT
DCM