Messer im Herz
Trailer • DVD / Blu-ray / VoD
Neu als DVD, Blu-ray und VoD: Paris 1979. Als die Schwulenporno-Regisseurin Anne von ihrer Partnerin und Cutterin Loïs verlassen wird, beschließt sie, die Geliebte mit einem ambitionierten Filmprojekt zurückzugewinnen. Doch eine brutale Mordserie überschattet den Dreh: Ein mysteriöser Killer dezimiert mit einem Schnappklingen-Dildo Cast und Crew. Als die polizeilichen Ermittlungen nicht vorankommen, will Anne dem Mörder selbst eine Falle stellen. Nach seinem sinnlich-surrealen Debütfilm „Begegnungen nach Mitternacht“ (2013) entwirft der französische Regisseur Yann Gonzalez einen höchstreferentiellen Genre-Mix aus Giallo-Schlitzer, Psycho-Thriller und Erotik-Melodram, der zugleich liebevolle Hommage an das französische Undergroundkino der 70er Jahre ist. An der Seite von Superstar Vanessa Paradis spielen einige der aufregendsten jungen Darsteller Frankreichs, u.a. Nicolas Maury und Félix Maritaud („Sauvage“). Bei seiner Uraufführung in Cannes wurde „Messer im Herz“ als radikales Meisterwerk gefeiert. Im Juli läuft er nun in der queerfilmnacht, ab 18. Juli auch regulär im Kino. Sascha Westphal hat sich in Gonzalez‘ cinephiles Labyrinth begeben und die revolutionäre Vision eines Phantomkinos entdeckt, das in ein Reich der Neurosen und Obsessionen führt, aber auch der Sehnsüchte und Freiheiten.
Reinste Magie
von Sascha Westphal
Ein Frühstück im Grünen ist es nicht. Das wäre für Anne und die anderen wohl auch nicht die richtige Tageszeit. Und doch weckt dieser Nachmittag an der Marne Erinnerungen an Jean Renoir. Für ein paar Stunden will die Produzentin und Regisseurin von Schwulenpornos zusammen mit all ihren Freunden und Mitstreitern einfach nur das Leben feiern. Die letzten Wochen waren traurig genug. Ein Mörder hat auf brutalste Weise mehrere ihrer Darsteller getötet, und die Polizei kümmert sich kaum um den Fall. Die Ereignisse haben sie zwar zu einem neuen Film inspiriert. Aber das war letztlich eine Art Trotzreaktion. Wenn es niemanden interessiert, was mit den Performern ihrer Filme passiert, dann setzt zumindest sie ihnen ein kleines Denkmal. Nun sind die Dreharbeiten zu „Der schwule Mörder“ abgeschlossen.
Die Wirklichkeit und mit ihr der Killer werden sie alle schon bald wieder einholen. Es ist nur eine Frage der Zeit. Doch davon wollen Anne, ihr Kameramann François Tabou, ihr Fluffer Bouche D’or und ihre Darsteller erst einmal nichts wissen. Entsprechend ausgelassen ist die Stimmung während des Picknicks. Eine der transsexuellen Prostituierten, die in der ekstatisch-avantgardistischen Schlussszene von „Der schwule Mörder“ auftreten, bringt – sie ist gerade aus Marokko zurück – eine Flasche Alkohol auf die Welt. Die anderen scherzen und schwelgen in Erinnerungen. Nur über Anne schwebt eine dunkle Wolke. Loïs, ihre Cutterin und große Liebe, ist bisher nicht aufgetaucht.
Die beiden sind schon seit einiger Zeit kein Paar mehr. Aber die Regisseurin kann einfach nicht von Loïs lassen. Die Beziehung ist obsessiv, lässt sie nicht los, Anne verzehrt sich Tag für Tag mehr nach ihrer Geliebten. Als Loïs dann tatsächlich zu ihnen stößt, scheint die Welt für einen Moment zurück ins Lot zu kommen, nur um kurz darauf erneut in eine noch größere Schieflage zu geraten. Ein Kuss bleibt ohne Folgen. Ein Augenblick der Hoffnung gebiert eine Spirale aus Zorn und (Selbst)Hass. Und der Himmel öffnet dazu seine Schleusen. Ein heftiger Regen beendet das Picknick. Die eben noch lachend zusammen saßen, laufen überstürzt davon. Jeder will sich vor dem Regen retten. Keiner achtet mehr auf die anderen, und so findet sich eine von ihnen schließlich in den Armen des Mörders wieder.
„Messer im Herz“, Yann Gonzalez’ zweiter Spielfilm, ist Traum und Albtraum, Utopie und Schreckensvision in einem. Und gelegentlich verwischen sich wie an diesem Nachmittag am Fluß die Grenzen zwischen dem einen und dem anderen. Das Renoir-hafte Idyll ist nicht von Dauer. Auch in diese wundervolle Gegenwelt, die einen für ein paar Augenblicke vergessen lässt, dass Anne und ihre Freunde am Rand der Gesellschaft leben, dringt schließlich der Schrecken ein. Die Gemeinschaft der Außenseiter ist brüchig und vielleicht auch nicht so offen, wie es zunächst scheint. Selbst sie hat noch etwas Ausgrenzendes, auch wenn sich Anne und die anderen dessen gar nicht bewusst sind. Aber genau das macht sie verwundbar. Der maskierte Mörder attackiert sie wieder und wieder, weil er selbst keinen Platz in ihr finden kann. Aber das wird die Filmemacherin erst viel später verstehen, als es längst keine Rettung mehr für den Mann gibt, der mit jedem seiner tödlichen Messerstiche zwanghaft einen lange zurückliegenden Akt von Gewalt wiederholt. Es gibt kein Entkommen aus seinem Trauma, nur einen Kreislauf von Tod und Zerstörung.
Genauso war es auch in den Gialli, diesen italienischen Thrillern der 1960er und 70er Jahre, in denen traumatisierte Männer meist junge Frauen auf ausgeklügelte, nicht selten extrem sadistische Weise töteten. Und wie diese bis heute umstrittenen – teils gefeierten, teils verfemten – Krimis, die sich gelegentlich auch dem Übernatürlichen öffneten, folgt Yann Gonzalez’ „Messer im Herz“ einer Traumlogik. Die Erzählungen von Anne und dem Mörder lösen sich in Szenen und Bildern auf. Psychologie spielt dabei ebenso wie Wahrscheinlichkeit eine eher untergeordnete Rolle. Das Unterbewusste bricht sich in eruptiven Situationen Bahn. Das verbindet den Giallo mit den experimentellen (Schwulen)Pornofilmen der 70er Jahre, denen Gonzalez in den Film-im-Film-Szenen auf eine berauschende Weise huldigt. Die Filme, die die von Vanessa Paradis gespielte Anne zusammen mit François (Bertrand Mandico), Loïs (Kate Moran) und ihrem engsten Vertrauten Archibald (Nicolas Maury) dreht, verströmen einen durch und durch anarchistischen Geist. Sie sind wie „Der schwule Mörder“ der Wirklichkeit entrissen und verwandeln sie in etwas Magisches.
In „Begegnungen nach Mitternacht“, Yann Gonzalez’ Spielfilmdebüt, hatte „La star“, eine seiner exzentrischen Außenseiterfiguren, die Vision eines Phantomkinos, eines Kinos, in dem Träume wie Filme ganz direkt auf eine riesige Leinwand projiziert werden. Und eben dieser Vision folgt Gonzalez’ kompromisslos. Seine Filme sind tatsächlich Zelluloid gewordene Träume. Schon deshalb muss er sie auf analogem Filmmaterial drehen. Denn erst die belichteten 16- und 35mm-Filmestreifen machen sie wirklich greifbar. Aus etwas Ephemeren wird etwas, das man anfassen kann, um es dann wieder in etwas Flüchtiges, in riesige, sich selbst fortwährend auslöschende Bilder auf einer Leinwand, zu verwandeln. Kino ist in seinem Herzen nichts anderes als Alchemie. Ein zauberischer Vorgang, der im Giallo wie in den Pornofilmen der 70er seinen perfekten Ausdruck gefunden hat. Phantome aus Blut und Sperma, beide auf ihre ganz eigene Art ungemein verführerisch. Die einen entführten einen in eine Welt der Neurosen und Obsessionen, des Schreckens und der Gewalt, die anderen in ein Reich der Sehnsüchte und Freiheiten, der Verzückung und Verschwendung. In ihnen offenbarte sich die ursprüngliche Kraft des Kinos, diese wahrhaft unwiderstehliche Macht der bewegten und einen bewegenden Bilder, in ihrer vielleicht reinsten Form.
Und nach eben dieser Kraft verzehrt sich Yann Gonzalez. Dass „Messer im Herz“ im Paris des Jahres 1979 spielt, ist nicht nur eine Hommage an jene Epoche, die einem mittlerweile unendlich fern erscheint, die kaum noch etwas mit unserer durch und durch digitalisierten Gegenwart verbindet. Gonzalez erträumt sich eine parallele Wirklichkeit, in der nicht viel mehr als ein einzelner Schnitt 2019 von 1979 trennt. Das Paris der fallenden Industriebauten und der seltsam menschenleeren Straßen, durch das Anne wie eine Gehetzte treibt, ist letztlich eine Welt jenseits der Zeit, ein Zwischenreich, das es so nie gegeben hat, das wir aber durchaus noch erschaffen könnten. Natürlich beutet Anne ihre Darsteller und Mitarbeiter aus, natürlich benutzt sie die Menschen, um ihre eigenen Dämonen zu zähmen und ihre Sehnsüchte zu stillen. Daran lassen weder Yann Gonzalez noch Vanessa Paradis den geringsten Zweifel. Eine fiebrige Intensität, die einen irritiert, aber auch nicht mehr loslässt, geht von Paradis’ Spiel aus.
Anne ist eine große Liebende und damit zugleich auch eine Zerstörerin. In „Der schwule Mörder“ überlässt sie ihren Part ihrem Freund und Weggefährten Archibald, während sie selbst in die Rolle des Mörders schlüpft: eine Frau, die davon träumt, ein schwuler Mann zu sein, und ihr Verlangen nur auf mörderische Weise ausleben kann. Diese Vision eines Begehrens, das vernichtet, wonach es trachtet, gehört zu Gonzalez’ Vision dazu, das Dunkle, Zerstörerische nicht einfach zu dämonisieren oder gar zu leugnen, sondern es zu akzeptieren und vielleicht sogar in etwas Positives zu verwandeln. Und so ist die wie verrückt liebende Anne, die Loïs regelrecht dazu zwingt, sie zu verlassen, die in ihren Filmen eine utopische Gegenwelt erschafft. Sie, die Frauen liebt, hat einen untrüglichen Blick für männliche Schönheit und Natürlichkeit. So findet sie einen ihrer Darsteller in einer Kiesgrube unter den Arbeitern. Wie sie ihn anspricht und verführt, in ihren Filmen mitzuspielen, erzählt viel über die Hoffnungen, aus denen sich das schwule Pornokino der 70er Jahre gespeist hat.
„… de sperme et d’eau fraîche“ heißt einer von Annes Filmen, und schon der Trailer, der in einer Szene in einem Pornokino zu sehen ist, weckt eine unendliche Sehnsucht nach der zutiefst unschuldigen Euphorie, von der queere Sexfilme einst erfüllt waren. Natürlich gibt es keinen Weg zurück in diese Zeit, die – und davon erzählen die Gialli – selbstredend auch nicht so unschuldig und idyllisch war, wie sie in den Schwulenpornos dieser Ära scheint. Aber Yann Gonzalez gelingt mit seinen Filmen etwas noch viel Beeindruckenderes. Er verbeugt sich nicht nur vor weitgehend verschwundenen filmischen Traditionen, sondern denkt sie noch einmal neu. Gerade aus der Verbindung zweier Genres, die wie die dunkle und die lichte Seite einer Medaille waren, entsteht in „Messer im Herz“ etwas Revolutionäres: ein Kino, das die Gegensätze versöhnt und allen Außenseitern den Glauben an die Möglichkeit einer anderen Welt zurückgibt.
Messer im Herz
von Yann Gonzalez
FR 2018, 102 Minuten, FSK 16,
französische OF mit deutschen UT,
Edition Salzgeber
Hier auf DVD.
Hier auf Blu-Ray.