Ocean Vuong: Auf Erden sind wir kurz grandios
Buch
Im vermeintlichen „Schmelztiegel“ Amerika unterliegen Außenseiter einem starken Anpassungsdruck; oft scheint es die beste Strategie zu sein, sich unsichtbar zu machen. Das gelingt dem jungen Vietnamesen Little Dog recht gut, doch schließlich ist es der weiße „Redneck“ Trevor, ein Arbeitskollege auf einer Tabaksplantage, von dem er sich als Mensch wahrgenommen fühlt. „Auf Erden sind wir kurz grandios“ von Ocean Vuong nähert sich dem amerikanischen Traum vom Rand der Gesellschaft, und man spürt sofort, dass es Zuwanderer wie die Familie von Little Dog sind, die diesen Traum am Leben erhalten. Unsere Autorin Anja Kümmel hat den Roman als große Trauma-Erzählung voller Wucht erlebt.
Klaffende Wunde im Herzen Amerikas
von Anja Kümmel
„Fall nicht auf. Du bist schon vietnamesisch“, ist einer der häufigsten Ratschläge, den Little Dog von seiner Mutter zu hören bekommt. Besonders, nachdem sie frisch von einem Auffanglager nach Hartford, Connecticut übergesiedelt sind und versuchen, sich so gut es geht dem „American Way of Life“ anzupassen. Keine leichte Aufgabe, denn weder Little Dogs Mutter Rose noch seine Großmutter Lan können Englisch; seine Mutter ist zudem Analphabetin. Und: der zarte, allzu „feminine“ Junge mit seinem knallpinken Fahrrad wird schon als Kind verspottet und ausgegrenzt.
In seinem beeindruckenden autofiktionalen Romandebüt „Auf Erden sind wir kurz grandios“ verarbeitet der 1988 in Saigon geborene Ocean Vuong nicht nur eigene Erlebnisse, sondern auch die seiner vom Vietnamkrieg erschütterten Familie. Es ist vor allem eine Geschichte der Frauen und ihres zähen Überlebenswillens, denn die Männer machen sich meist rasch aus dem Staub: Nachdem Lan mit 17 aus einer arrangierten Ehe ausbricht, schlägt sie sich in Saigon mit Sexarbeit durch. Es ist 1967, der Vietnamkrieg tobt. Ein US-Navy-Soldat schwängert sie und Lan bekommt eine Tochter, Rose.
Rose weiß, wovon sie spricht, wenn sie ihrem Kind die Vorzüge der Unsichtbarkeit anpreist: Als hellhäutiges Mädchen in Vietnam wird sie von anderen Kindern mit Büffelscheiße beworfen, „um sie wieder braun zu machen“. Ganz bewusst gibt sie ihrem Sohn den wenig schmeichelhaften Namen Little Dog – einer Tradition folgend, nach der abwertende Namen den besten Schutz vor bösen Geistern darstellen.
Unter dem Radar „böser Geister“ zu fliegen, wird für Little Dog, der mit zwei Jahren in die USA kommt, Segen und Fluch zugleich. Mit seiner unter einer posttraumatischen Belastungsstörung leidenden Mutter und der schizophrenen Großmutter wächst er an den Rändern des langsam ausblutenden „Rostgürtels“ auf, in einem Bezirk von Hartford, in dem fast alle von Sozialhilfe zu leben scheinen. Und das zu einer Zeit, in der die Opioid-Krise der 90er ihren traurigen Höhepunkt erreicht.
Little Dog ist ein Vergessener unter den Vergessenen: Als er in der Schule zur Strafe in die Ecke gestellt wird, vergisst ihn die Lehrerin einfach dort. Angehimmelten Jungs folgt er wie ein unsichtbarer Schatten, bis diese endlich auf ihn aufmerksam werden und ihn verjagen.
Schaut man sich Vuongs Werdegang an – vom übersehenen Kind, das kaum Englisch kann, zum gefeierten Sprachartisten – hätte „Auf Erden sind wir kurz grandios“ leicht eine Erfolgs- und Selbstfindungsstory nach bekanntem Strickmuster werden können. Doch Vuong hatte anderes im Sinn.
„Trauma, das ist die Unmöglichkeit der Narration“, schrieb die Erinnerungsforscherin Aleida Assmann. Folglich muss ein Roman, der vom Trauma nicht nur erzählen, sondern es fühlbar machen will, mit den gängigen Prinzipien geschlossener Identitäten und einer linearen Plotentwicklung radikal brechen. Dies ist das große Wagnis, das Vuong eingeht, und das sein Prosadebüt in seiner verstörenden Wucht, seiner halluzinatorischen Klarheit auf eine Stufe stellt mit großen Trauma-Erzählungen wie etwa Kurt Vonneguts „Schlachthof 5“. Es ist ein Schreiben der Gleichzeitigkeit, ein Schreiben, das Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft beständig gegenüberstellt, ineinander verkeilt, in immer neue Kontexte setzt. Dabei erspart uns Vuong nichts, weder die Ekstase noch die Gewalt, die seinen Roman durchziehen.
Einmal wirft Rose ihrem Sohn eine Legokiste an den Kopf, und versucht dann den Zornesausbruch mit einem Besuch bei McDonalds wiedergutzumachen. „Du musst größer und stärker werden, okay?“, sagt sie zu Little Dog, als wollte sie ihn stählen für einen neuen Krieg.
Etwa in der Mitte des Romans drängt die Handlung ein paar Kapitel lang vorwärts, als Little Dog bei der Arbeit auf einer Tabakplantage den etwas älteren weißen „Redneck“ Trevor kennenlernt. Nicht nur verliebt er sich mit Haut und Haar – sein größter Traum und seine größte Angst erfüllen sich gleichermaßen: Zum ersten Mal nimmt ihn jemand wahr. „Ich wollte es, dass sein Blick mich an diese Welt heftete, der ich mich bloß halb zugehörig fühlte.“
Die beiden Außenseiter beginnen etwas, das beständig zwischen Amour fou und intimer Kumpelfreundschaft changiert. Auch hier erspart uns Vuong nichts: Der Sex ist dreckig, zärtlich und brutal. Man kann den Lehmboden der Tabakscheune förmlich riechen, die süßlichen Briketts, deren Schwelen die Tabaktrocknung beschleunigen soll, die verendeten Motten, die um sie herum abstürzen. Dies sind wohl die sinnlichsten und berührendsten Passagen des Buches – auch weil das rauschhafte Zusammensein mit Trevor immer wieder Erinnerungen an Little Dogs „unsichtbare“ Kindheit heraufbeschwört, die Hassliebe zur Mutter, die wirren Geschichten von Geistern und Napalm, die seine Großmutter erzählt, aus denen sich ein schier überwältigendes Tableau seiner allumfassenden und gleichermaßen gebrochenen Sehnsucht nach Liebe ergibt. Dies ist nicht der Stoff, aus dem Heldengeschichten gemacht sind. Ganz bewusst wählt Vuong das Scheitern als literarisches Prinzip, indem er seine leidenschaftliche Suada als Brief an seine Mutter konzipiert – mit dem Wissen, dass sie ihn nie lesen wird.
„Auf Erden sind wir kurz grandios“ ist eine Ode an die Unmöglichkeit einer Verständigung, die zugleich den Marginalisierten hinter der glatten Benutzeroberfläche des Kapitalismus ein Denkmal setzt – denjenigen, ohne deren Arbeit die Konsumgesellschaft zusammenbräche: Den unterbezahlten Arbeiterinnen in den Nagelstudios, die den ganzen Tag über giftige Dämpfe einatmen, den illegalen mexikanischen Einwanderern auf den Tabakfeldern. Und natürlich Trevor, der mit seinem alkoholabhängigen Vater in einem Wohnwagen lebt, mit seiner Schrotflinte Waschbären schießt und ihnen eigenhändig das Fell abzieht, aber kein Kalbfleisch anrührt, weil er nie ein Kind essen würde.
Es ist ein großes Glück, dass eine viel zu lange an den Rand gedrängte Stimme wie diese endlich „aufgefallen“ ist. Für seinen Lyrikband „Night Sky with Exit Wounds“ wurde Vuong in den USA bereits mehrfach ausgezeichnet. Wie ein Langgedicht oder eine Aphorismensammlung liest sich streckenweise auch sein Romandebüt, was es zu einer Herausforderung im besten Sinne macht – der man sich allerdings am besten auf Englisch stellen sollte, da die deutsche Übersetzung der sprachlichen Wucht des Originals doch nicht ganz gerecht zu werden vermag.
Ein Glück auch, dass dieses in den USA zu Recht als „großer amerikanischer Roman“ gefeierte Werk von einem Autor erzählt wird, der mit sämtlichen Codes der Romanform bricht und gerade dadurch den Finger so tief in die Wunden des Landes steckt wie kaum ein anderer.
Auf Erden sind wir kurz grandios
von Ocean Vuong
Aus dem Englischen von Anne-Kristin Mittag
Fester Einband, 240 Seiten, 22 Euro,
Carl Hanser Verlag