Saint-Narcisse

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Jetzt im Kino: In seinem neuen Film „Saint-Narcisse“ interpretiert der kanadische Kultregisseur Bruce LaBruce („Otto; or, Up with Dead People“) den alten Mythos von Narziss als queere Selbstfindungsgeschichte. Im Mittelpunkt steht der umwerfend aussehende Dominic, der Anfang der 1970er Jahre nicht nur seine tot geglaubte Mutter, sondern auch seinen Zwillingsbruder kennenlernt. Christian Horn über ein filmisches Vergnügen voller Genrezitate.

Foto: Cinemien

Wie in einem Spiegel

von Christian Horn

Als Provokateur und Grenzgänger zwischen Arthouse, Trash, B-Movie und Hardcore gilt Bruce LaBruce seit den 1990er Jahren und Filmen wie „No Skin Off My Ass“ (1991), „Super 8 ½“ (1994) und „Hustler White“ (1996) als Ikone des queeren Underground-Kinos. Mit dem Zombiefilm „Otto; or, Up with Dead People“ (2008) und der unerwartet zart und konventionell erzählten Romanze „Geron“ über die Liebe zwischen einem Pfleger und einem sehr viel älteren Mann feierte LaBruce Erfolge auch bei der Filmkritik. Sein neuer Film „Saint-Narcisse“ lief 2020 bei den Filmfestspielen von Venedig. Darin verbindet der Festivalliebling LaBruce seine kernige, manchmal auch sperrige und billige Handschrift im Geiste des Exploitationkinos mit einer flirrenden Story um einen jungen Mann, der in mehrerlei Hinsicht in den Spiegel blickt.

Die Geschichte spielt 1972 in Quebec. Der 22-jährige Dominic sieht gut aus, ist schick trainiert und schindet mit seiner Lederhose Eindruck. Um seine Wirkung weiß der Adonis sehr wohl, sein größter Verehrer ist er selbst. Dominic macht ständig Polaroid-Fotos von sich, Quasi-Selfies, die er fasziniert betrachtet. Und in der atmosphärischen Eröffnungsszene in einem Waschsalon hat er nach kurzem Smalltalk wilden Sex mit einer Kundin, den eine Gruppe Passanten gebannt beobachtet – und der sich dann als Tagtraum entpuppt. Was Dominic im Folgenden widerfährt, kann Realität sein oder ein Traum, vielleicht eine Psychose – oder eine Mischung aus alledem.

Die Handlung nimmt an Fahrt auf, als der bei seiner Großmutter lebende Dominic Briefe seiner totgeglaubten Mutter Beatrice findet, die er nie kennengelernt hat. Auf der Suche nach ihr fährt er auf dem Motorrad nach Saint-Narcisse, wo er die im Ort als Hexe verschriene Mutter und deren junge Lebensgefährtin Irene antrifft. Und es gibt auch noch eine Gruppe Mönche aus dem nahe gelegenen Kloster, von denen einer ihm wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Ist Daniel sein Zwillingsbruder, Einbildung, eine Metapher für Dominics Narzissmus? Einmal fotografiert Dominic den seltsam unfremden Mann als Beweis, dass er existiert, und damit erstmals nicht sich selbst – oder etwa doch? Man weiß es nicht. Dabei entscheidet die Beantwortung der Frage darüber, ob wir beim Liebesakt im Wald einem Inzest beiwohnen oder übersteigerter Selbstverherrlichung. So einiges an dieser mysteriösen Variation des griechischen Mythos von Narziss bleibt nebulös und mehrdeutig.

Foto: Cinemien

Im Fokus der Attraktion steht Newcomer Félix-Antoine Duval in einer Doppelrolle. Die von Michel La Veaux geführte Kamera begehrt ihn und sucht immer wieder sein Gesicht, ähnlich wie eine ganze Reihe Figuren im Film auf Dominic und seinen Mönchszwilling scharf sind. Wie bei LaBruce üblich, geht es viel um Körperlichkeit, Erotik und Sex, aber auch um Selbstfindung und -liebe. Zusammen mit seinem Co-Autor Martin Girard setzt er die Zutaten der Filmerzählung wie ein Puzzle zusammen, die zwischen Familiendrama und Psychogramm mäandert. Der Einschlag in Richtung Paranoia wird mit Beobachterperspektiven durch Fenster oder ein Fernglas auch audiovisuell aufgegriffen. Typisch für LaBruce streift der Film verschiedene Genres, die Stimmung wechselt oft brüsk zwischen einer unheilvollen Atmosphäre mit einem Horrorfilm-haften Klangteppich und hemmungslos melodramatischen Szenen, die in weichgezeichneten Rückblenden zur Vergangenheit der Mutter kulminieren. Beim musikalisch dramatisch gestalteten Wiedersehen fallen sich der nackte Dominic und seine Mutter in die Arme.

Foto: Cinemien

In einer derben Nebenhandlung, die an die Frühwerke des Regisseurs erinnert, geht es um sexuellen Missbrauch in der Kirche, der die Rache der Gepeinigten provoziert. Ein Priester projiziert seine Obsession für den heiligen Märtyrer Sankt Sebastian auf Daniel. Onanie-Szenen und Bilder der Selbstgeißelung werden christlichen Ikonen gegenübergestellt und lassen so an die Nunsploitation-Filme der 1970er Jahre denken, in denen Sex- und Machtspielchen hinter Klostermauern nicht nur die guten Sitten provozierten, sondern Kritik an gutbürgerlicher Scheinheiligkeit übten.

Foto: Cinemien

Die Kontroverse ist Bruce LaBruce auch mit seinem neuen Film sicher, selbst wenn „Saint-Narcisse“ weit weniger aggressiv als seine frühen Arbeiten daherkommt. Dem Regisseur gelingt gewissermaßen eine gut austarierte Mischung aus seinen kultisch verehrten Filmprovokationen voller (u.a. pornografischer) Tabubrüche und der melancholisch-queeren Romantik von „Geron“. Wo es in manchen experimentelleren Filmen des Auteurs durchaus zähe Passagen zu überwinden galt, verknüpft er die Fäden hier ziemlich virtuos zu einem faszinierenden Gesamtbild.

Editor Hubert Hayaud trägt wesentlich zu der besonderen Spannung des Films bei, indem er verschachtelt montiert und mit knackigen Zwischenschnitten arbeitet. Am Ende löst sich das Mysterium um Dominic und seinen Doppelgänger nicht eindeutig auf. Geht es bei Dominics geheimnisumwobenen Begegnungen womöglich um die Suche nach einem Platz im Leben, den er am Ende tatsächlich in einer amourös verstrickten Wahlfamilie findet? Vielleicht sitzt Dominic aber auch immer noch im Waschsalon und fantasiert vom spontanen Quickie mit einer Unbekannten. So oder so ist es ein filmisches Vergnügen, dabei zuzuschauen.




Saint-Narcisse
von Bruce LaBruce
CA 2020, 101 Minuten, FSK 16,
englische OF mit deutschen UT,
Cinemien

Ab 25. November im Kino.

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