Offene Herzen

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Rémi macht gerade sein Wirtschaftsabitur, er arbeitet in einem Gemüseladen und hängt mit seinen Freunden ab. Dann entdeckt er in der Schule die Einladung zu einem Filmcasting. Der Regisseur sucht jemanden, der einen Außenseiter spielt: einen Jungen, der andere Jungen mag. Und Rémi folgt dem Aufruf… Sébastien Lifshitz erzählt in seinem ersten mittellangen Film „Offene Herzen“, den es jetzt in digital restaurierter Fassung im Salzgeber Club gibt, mitreißend vom Coming of Age eines arabischen Teenagers in Paris. Unser Autor Michael Eckhardt beschreibt, wie sich in den düsteren Parisbildern und dem irrlichternden Protagonisten die persönlichen Themen und Motive manifestieren, die das gesamte Spielfilmwerk des Auteurs Lifshitz auszeichnen.

Foto: Salzgeber

Balance auf kippendem Grund

von Michael Eckhardt

Das Kino des französischen Filmemachers Sébastien Lifshitz, Jahrgang 1968, stellt hohe Ansprüche. An sich selbst, an die Entwicklung seiner Protagonisten, an ein aufgeschlossenes Publikum. Lifshitz hat längst seine Themen gefunden: Meist geht es um Entwurzelung, das Finden einer Balance, das Klarkommen in instabilen Familien, Partnerschaften oder Lebensabschnitten. Und instabil ist in der Phase der Adoleszenz an sich alles: schulisch, beruflich, persönlich, sexuell. Und so ist die Hauptfigur in „Offene Herzen“, dem ersten mittelangen Spielfilm von Sébastien Lifshitz, eine wie viele spätere in seinen Filmen: ein Suchender.

Rémi, 18, nordafrikanischer Abstammung, empfindet Langeweile. Auf dem Gymnasium, beim Gelegenheitsjob, in der dunklen Wohnung. Da kommt das Casting bei Marc, dem Regisseur, gerade richtig. Hier kann Rémi kurz entfliehen: der Monotonie seines Lebens, dem kranken Vater, den er zwar aufrichtig liebt, dessen Versehrtheit ihn aber sehr fordert. Beim Schauspiel zeigt Rémi Talent, da verschwindet kurz die Perspektivlosigkeit als ständiger Begleiter. Und der Junge taucht ein in ganz neue Erfahrungen, auch sexueller Art. Mit Marc wird er schlafen, dann wieder mit Frauen, und daraufhin trotzdem neue Männer kennenlernen. Die Straßen von Paris sind nun sein Spielplatz …

Es ist im Gegensatz zu den späteren Spielfilmen „Sommer wie Winter“ oder „Plein Sud“ nicht nur durch das nächtliche Paris ein recht düsterer Film geworden. Weil auch seine Hauptfigur, der die Zuneigung ihres Schöpfers sicher ist, trotz seiner Jugend abgründiger angelegt ist: Rémi findet sich in Pornokinos wieder, er wird die Schule schwänzen, dem eifersüchtigen Marc aus dem Weg gehen, nach dem nächsten schnellen schwulen Fick wieder am Esstisch beim sterbenskranken Vater sitzen. Da irritiert und rührt es an, wenn der ihm mit großer Zärtlichkeit den Kopf streichelt. Rémi schließlich ist reifer, aber noch lange nicht angekommen.

Dieses Thema des Ausprobierens, des Suchens, des Mäanderns, des Bewusstwerdens seiner Herkunft, seiner Zugehörigkeit – das ist Lifshitz’ Thema. Auch in „Wild Side“ ist es das.

Und auch hier gab es das poetische Moment, das über den klaglosen Neorealismus, den das Kino des Franzosen auszeichnet, schwebt. Hier dient zur Ouvertüre das vibrierende Falsett von Antony Hegarty, um von einer leidenschaftlichen Liebe zu einem toten Jungen zu singen. Dieser Performance wohnt auch die schöne Transsexuelle Stéphanie bei. Sie verdient ihr Geld als Sexworkerin, lebt mit einem Russen und dem Stricher Djamel. Eine Art Ersatzfamilie, die richtige verlor sie in einer Zeit, als sie es endgültig aufgab, Pierre zu sein. Doch sie kehrt noch einmal zu ihren Wurzeln zurück, da ihre Mutter im Sterben liegt. Auch hier bestechen die Echtheit atmenden Bilder, das Beobachten von Außenseitern, das Erzählen vom Zurechtkommen und der Sehnsucht nach Akzeptanz. Wenn auch nicht ganz so eindringlich wie bei „Sommer wie Winter“, gelang Lifshitz ein einfühlendes Porträt ungewöhnlicher Leben. In klug fotografierten Bildern, in geschickt montierten Rückblenden steht Lifshitz für eine Intensität, die im Kino selten ist.

Das löst sein erfolgreichster und sicherlich auch bester Film eindrucksvoll ein: In „Sommer wie Winter“ dachte Mathieu, es sei die Liebe seines Lebens. Den attraktiven Cédric lernte er während eines Sommerurlaubs an den endlosen Stränden der Bretagne kennen. Durch die leidenschaftliche Beziehung fühlte sich der introvertierte Junge stark genug, sein Coming-out zu leben. Im darauffolgenden Winter trennen sich die beiden, ohne wirklich zu wissen warum. Jetzt geht es Mathieu richtig scheiße. Er versucht sich umzubringen … Und hier zeigt sich Lifshitz’ Talent im Schaffen einer geradezu fühlbaren Authentizität am besten. Ohne die realitätsfremde Schweinchenrosatüncherei vieler schwuler, meist komödiantischer Luftsprünge erzählt der Regisseur von der Schwierigkeit, Balance zu halten, wenn der Boden kippt. Das Ausleben des Hochgefühls und das verletzte Insichkehren sind ihm weitaus wichtiger, als durch endlose Dialoge die erste Liebe zu zerquasseln.

Sprachliche Reduktion steht auch für den Erstling „Offene Herzen“, es geht ums Suchen und Probieren. Auch wenn für Rémi das Coming-out nicht das alleinige Thema ist. Er ist aber jetzt jemand, der begehrt und begehrt wird, der Liebe und Zuneigung sucht und zumindest Spielarten der Liebe und der Körperlichkeit findet.

Foto: Salzgeber

Und mit dem Verlust des Vaters, mit dem drohenden Zerbrechen der Familie, gibt es durchaus eine Parallele zu Lifshitz’ bislang letztem Spielfilm „Plein Sud“, wenn auch hier Integration nicht das Thema und Coming-out nur das einer Nebenfigur ist: „Plein Sud“ ist ein faszinierender Mix aus Roadmovie, Familiendrama und Liebesfilm. Sam musste als Kind ansehen, wie sich sein Vater beim Streit mit der Mutter im Auto eine Kugel in den Kopf jagte. Fortan erleben sein jüngerer Bruder und er, wie Maman zu trinken anfängt und geradezu schizophren wird. Die Waffe des Vaters hat Sam behalten, hat sie im Gepäck, als er mit den Trampern (und Geschwistern) Lea und Mathieu in Richtung Meer fährt. Mathieu verliebt sich in Sam, dem aber fällt es schwer, Gefühle zuzulassen. Es gibt wie in „Sommer wie Winter“ lichtstarke Szenen am Strand, die Hauptfiguren sind allesamt hübsch anzusehen, die Nacktszenen sind wild-romantisch und natürlich, und Lifshitz entflicht seine Konflikte in gewohnter Subtilität. Und trotz der krassen Kindheitsgeschichte, des schwierigen Kampfes ums Liebenkönnen und Liebenlassen kriegt der Film gerade zum Ende hin etwas Besänftigendes. Vielleicht, weil er schlussendlich einfach über die Möglichkeit von Vergebung räsoniert. „Plein Sud“ bleibt ein wenig rätselhaft, das ist durchaus gewollt so.

Das ist aber ohnehin eine Eigenart des queeren französischen Films, dieses Aussparen, Lückenlassen – im Fragmentarischen liegt eben jene unleugbare Poesie. Es bleibt Deutungsraum. Das tut gut. Darin begründet sich aber auch die eher zögerliche Aufnahme durch das Publikum. Man mag es wohl eindeutiger. Ein Erfolgsfilmer wie François Ozon ist da klarer, wenn auch bei ihm dieses Augenzwinkern, das Überzeichnen und Pathetische Methode haben. Ozons Filme oder die seines spanischen Kollegen Almodóvar sind breiter angelegt. Vielleicht auch, weil sie emotionaler und dramatisierender sind und meist von Frauen erzählen. Das tut Lifshitz nicht. Er erzählt überwiegend von Männern und auch ein wenig von sich. In „Offene Herzen“ taugt dafür auch ein Auftritt Lifshitz’ als Sébastien, der mit Rémi anonymen Sex im Pornokino hat.

Foto: Salzgeber

Das Zurückbleiben, die Orientierungslosigkeit, die Einsamkeit sind bei Lifshitz wiederkehrende Motive: Mathieu wird allein sein, die Transsexuelle Stéphanie nach dem Tod der Mutter letztendlich auch und ebenso Rémi. Das Leben als Glücksthese interessiert Lifshitz nicht. Er strebt nicht nach einem Echtheitszertifikat, sondern erzählt einfach das, was ihn bewegt. Dadurch sind seine Geschichten „echt“, dadurch wirkt auch „Offene Herzen“ bisweilen dokumentarisch. Doch um diese Lebensnähe auf Zelluloid zu bannen, braucht es auch die passenden Gesichter. Deswegen arbeitete Lifshitz mit dem jungenhaften und dennoch virilen Yasmine Belmadi auch nach „Offene Herzen“ mehrfach zusammen. Dies waren durch das Charisma Belmadis in starker Erinnerung bleibende Rollen. Auf ihn wird Sébastien Lifshitz und das Kino leider verzichten müssen, da er bei einem blödsinnigen Mopedunfall mit gerade 33 Jahren verunglückte. Als er sich in voller Fahrt eine Zigarette anzündete, kam er von der Straße ab und krachte an eine Laterne. Wenn man das weiß, denkt man sofort an Rémi. Was weniger mit sentimentalem Kitsch zu tun hat, eher mit dieser anrührenden, verletzbaren Figur.




Offene Herzen
von Sébastien Lifshitz
FR 1998, 45 Minuten, FSK 16,
französische OF mit deutschen UT,

Salzgeber

Hier auf DVD erhältlich.

vimeo on demand

VoD: € 4,90 (Ausleihen) / € 9,90 (Kaufen)

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