Benno Gammerl: anders fühlen

Buch

Die Wege schwulen und lesbischen Lebens in Deutschland waren steinig, und sie sind bis heute weniger geradlinig, als unsere Vorstellung von Liberalisierung hoffen lässt. Mit „anders fühlen“ hat der Historiker Benno Gammerl die erste umfassende Geschichte der Homosexualität in der Bundesrepublik verfasst. Er beschreibt die Lebens- und Gefühlswelten von gleichgeschlechtlich liebenden Menschen seit den 1950er Jahren und lässt Männer und Frauen verschiedener Generationen zu Wort kommen. Unser Autor Marko Martin findet Gammerls Studie präzise und voller Empathie.

Geschichte der vielen Geschichten

von Marko Martin

Einen „Blick in die Gefühlswelten früherer Zeiten“ verspricht der 1976 geborene Historiker Benno Gammerl in seiner umfangreichen Studie „anders fühlen. Schwules und lesbisches Leben in der Bundesrepublik“. Bewusst nennt er sein Buch eine „Emotionsgeschichte“. Glücklicherweise zu jung, um den einstmals ideologisch so wirkungsmächtigen Vorwurf zu fürchten, „falsche Unmittelbarkeit“ verdecke den Blick auf die vermeintlich alles erklärenden „Strukturen“, führt er ebenso leichthändig wie profund vor, dass beides nicht nur möglich, sondern auch geboten ist: Ein (Rück-)Blick auf die emotionalen Gestimmtheiten von Schwulen und Lesben seit Gründung der Bundesrepublik und eine Analyse der politischen, lebensweltlichen und nicht zuletzt auch juristischen Außenbedingungen.

Insgesamt 32 Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner hatte er im letzten Jahrzehnt interviewt, viele von ihnen kommen nun ausführlich im Buch zu Wort, wobei „Frau Schmidt und Herr Meyer“ vom ersten bis zum letzten Kapitel präsent bleiben. Beide inzwischen Mitte sechzig, blicken sie aus lesbischer und schwuler Perspektive auf ihr bisheriges Leben zurück. Seit nunmehr 14 Jahren lebt Frau Schmidt mit ihrer Lebenspartnerin zusammen, erinnert sich an ihre einstige (heterosexuelle) Heirat, spricht von ihren Kindern und den ersten Frauenbeziehungen und Aktivistinnen-Erfahrungen, berichtet von ihrer kürzlich überwundenen Brustkrebs-Erkrankung und zieht am Schluss ein überraschendes Resümee: „Meine Einstellung zu Männern hat sich geändert. Und Frauen und Lesben gegenüber bin ich kritischer als noch vor 20 Jahren. Damals waren die für mich die Guten und die Lieben, und die Männer waren die Bösen … Lesbischsein bedeutet für mich, mich aus jeglichen Konventionen zu befreien.“

Herr Meyer indessen, in einem hessischen Dorf geboren und sexuell sozialisiert beim damals noch semi-klandestinen Cruising, bezeichnet sich als „verrückten Protestanten und schwul bis dorthinaus“. HIV-positiv und „dank meiner einfältigen Gläubigkeit dennoch nicht aus der Bahn geschmissen“, engagiert er sich heute im diakonischen Bereich und sammelt Spenden für Afrika. Die „etwas andere Lesbe“ und der „etwas andere Aktivist“ – wie repräsentativ aber sind sie? Dass sie jedoch keineswegs „repräsentativ“ sein müssen, liegt dabei in der Logik von Gammerls Begrifflichkeit von „anders“. Dieses nämlich wird eben nicht als eine lediglich sexuell abweichende Variante vermeintlicher (heterosexueller) Norm ausbuchstabiert, sondern als konkrete Chance und lebenslange Herausforderung, sich jenseits vorgegebener Muster immer wieder neu zu erfinden.

Benno Gammerl – Foto: F. K. Schulz

In den Zwischenkapiteln, die sich zu einer Sittengeschichte der Bundesrepublik weiten (die DDR, so der Autor, bräuchte ein gesondertes Buch), insistiert Benno Gammerl auf der Heterogenität mitteilenswerter Erfahrungen, da sie sich in einem Rahmen abspielten, der ja ebenfalls alles andere als starr und eindeutig sei. „Gefühle werden vom gesellschaftlichen Rahmen zwar geformt, lassen sich aber nicht auf ihn reduzieren.“ Es spricht für ihn, dass solche Ausdifferenzierung weder im vorwurfsvollen Tremolo des vermeintlichen Tabubruchs vortragen wird noch im mitunter kryptischen Jargon der Sozialwissenschaft. Stattdessen schreibt Gammerl, ruhig und abwägend, Sätze wie diese: „Anders als hoffnungsfrohe liberale oder reformerische Narrative es vorsehen, verlief die Entwicklung nicht immer auf- und vorwärts. Diese Darstellung, so gängig sie auch ist, wird der Komplexität der Zeitgeschichte nicht gerecht und ist auch politisch problematisch: Die Konsumgewohnheiten lockerten sich bereits in den frühen 1960er-Jahren. Migrant*innen und andere Gruppen profitierten mitnichten von der Befreiungsdynamik der 1970er-Jahre. Und rechtsextreme Terrorist*innen trieben auch in den 1980er- und 1990er-Jahren nach wie vor ihr Unwesen.“

Benno Gammerl erinnert an die berüchtigten „Homosexuellen-Prozesse“ und daran, dass 1957 selbst das Bundesverfassungsgericht die NS-Fassung des Paragraphen 175 noch als „ordnungsgemäß erlassenes Recht“ bezeichnet hatte. Im gleichen Jahr war der homophobe Film „Anders als du und ich“ in die Kinos gekommen, gedreht hatte ihn der einstige Nazi-Regisseur Veit Harlan. Die für das Buch befragten Zeitzeug*innen beschreiben eine Realität, die dann sogar noch Ende der 1960er Jahre fortgedauert hatte: Ihr Schicksal als kleine Angestellte, die als „möbilierte Damen und Herren“ unter der Spitzelei ihrer Arbeitergeber und Untervermieterinnen litten, keine „Hausbesuche“ empfangen durften und auch im Kollegenkreis Mimikry betreiben mussten. Zugehängt waren die Fenster plüschiger Bars, hinter denen sich freilich neue, etwas freiere Formen der Begegnung entwickeln konnten – bis dann in den siebziger und achtziger Jahren eine neue Generation ungleich mehr Offenheit wagte, jedoch die altvorderen „Klemmis“ auch mit so manch ungerechtfertigtem Spott überzog.

Es sind nicht zuletzt die häufig verbal rabiat ausgetragenen Konflikte innerhalb der Szene(n), die beklemmend zu lesen sind: Es hatte nicht erst der Aids-Katastrophe der Achtziger bedurft, um Vereinzelung zu schaffen – gleichzeitig aber auch bislang ungeahnte Solidarität zu gerieren. Dass diese freilich allein in den großen Städten möglich gewesen sei, halten einige von Gammerls Gesprächspartner*innen für einen urbanen Mythos und berichteten stattdessen auf eine Weise von schwul-lesbischem Leben auf dem Lande, die bisher noch kaum zu vernehmen war. Fazit: „Deswegen kann ein queerer Aktivismus, der den gegenwärtigen Problemen angemessen begegnen will, nicht allein auf dem Widerstand gegen eine vermeintlich ununterbrochene heteronormative Unterdrückung beharren.“ Und was die gegenwärtige, erfreuliche Weitung von schwullesbisch auf LSBTI* betrifft, schreibt er: „Als Pluralisierung verstanden, führt diese Dynamik zu einem Mehr an Offenheit und an individuellen Wahlmöglichkeiten; als Fragmentierung begriffen, erhöht sie die Unsicherheit darüber, wie und wo und wem gegenüber man den Wunsch nach Sex und Intimität zur Sprache bringen darf und möchte.“

Benno Gammerl gelingt in diesem klaren, detailreichen und stets fair abwägenden Buch, was einst Odo Marquard, der große Skeptiker unter den bundesdeutschen Philosophen, als „Pluralisierung der Geschichte zu den Geschichten“ bezeichnet hatte, als „Sondergeschichten statt einer uniformen Monopolgeschichte“. Chapeau für diese Leistung!




anders fühlen
Schwules und lesbisches Leben in der Bundesrepublik
von Benno Gammerl
Gebunden, 415 Seiten, 25,00 €
Hanser Verlag

↑ nach oben