Blue (1993)
Trailer • DVD / VoD
Keine Handlung, keine Darsteller:innen, keine bewegten Bilder – sondern nur hypnotisches, statisches, strahlendes Blau. Mit „Blue“, einer durchkomponierten Montage aus Stimmen, Klängen und Geräuschen, lieferte Jarman wenige Monate vor seinem aidsbedingten Tod 1993 eine Bilanz seiner letzten Jahre und eine intime, wütende, poetische Auseinandersetzung mit seiner Erkrankung. Es ist ein in jeder Hinsicht finales und herausforderndes Werk, das für Zuschauer:innen zu einer gleichsam aufwühlenden wie sinnlichen Erfahrung werden kann. Zur exklusiven Erstveröffentlichung des Films in Deutschland als VoD im Salzgeber Club wirft Axel Schock einen Blick zurück auf Jarmans persönlichsten Film. Und er erinnert auch an Jarmans Förderer in Deutschland, Manfred Salzgeber, der als Festivalmacher und Filmverleiher das Werk des Regisseurs in die deutschen Kinos gebracht hat – und dessen Tod sich am 12. August zum 30. Mal jährt.
Es wird etwas sichtbar
von Axel Schock
Blau. Einfach nur blau. 74 Minuten lang strahlt die Leinwand in diesem monochromen Yves-Klein-Farbton. Es ist das Blau seiner so geliebten Monteursanzüge, vielleicht auch das Blau des Himmels über der Küste von Dungeness, wo Derek Jarman in der Einöde einen wundersamen und wundervollen Garten angelegt hatte. Dazu Töne: Geräusche, Stimmen, Musik. Gesprächsfetzen, Gedankensplitter, Momentaufnahmen vermischt mit Natur- und Alltagsgeräuschen, Glockenklang und meditativer Musik von Jarmans langjährigem Kollaborateur Simon Fisher Turner.
„Blau ist sichtbar gemachte Finsternis“ heißt es an einer Stelle im Film (ein Satz, der wortgleich auch in seinem parallel entstandenen Buch „Chroma“ auftaucht). Derek Jarman verweist damit auf den Grund für diese kühne bildnerische Entscheidung. Als er an diesem Film arbeitete, war ihm bereits klar, dass er sein letzter sein würde. 1992 hatte der Filmemacher bei einer Untersuchung im Londoner St. Bartholomew’s Hospital erfahren, dass sich durch eine aidsbedingte Infektion mit dem Cytomegalovirus sein Sehfeld immer weiter verengen und unweigerlich zu einer Erblindung führen würde. Er, der in Arbeiten wie „Caravaggio“ (1986), „The Garden“ (1990) oder „Edward II“ (1991) bewiesen hatte, dass er im Stande war, selbst mit kleinstem Etat farbenprächtige und opulente Bilder zu produzieren, ist damit ein entscheidendes Werkzeug genommen: das Augenlicht. So ist „Blue“ auf gleich mehreren Ebenen Jarmans persönlichster und ungewöhnlichster Film geworden, eine Auseinandersetzung mit dem fortschreitenden Erblinden und dem nahenden Tod. Ein filmisches Testament.
Und zugleich ist „Blue“ einer der denkbar radikalsten und konsequentesten Werke der Filmgeschichte. Auch, weil „Blue“ die Frage stellt, was einen Film eigentlich zum Film macht. Braucht es Schauspielende? Braucht es bewegte Bilder? Braucht es überhaupt Bilder? Ist „Blue“ vielleicht eher eine filmische Installation (immerhin wurde „Blue“ 1993 auf der Biennale in Venedig uraufgeführt und im Anschuss zunächst in einer Reihe von Museen für moderne Kunst – u.a. im Tate Modern London, im MoMa New York und im Getty Museum in Los Angeles – gezeigt). Oder handelt es sich bei „Blue“ vielleicht doch eher um ein assoziatives Hörstück auf Leinwand?
Der Soundtrack wurde auf CD veröffentlicht und im Hörfunk gesendet; in Großbritannien wurde „Blue“ 1993 sogar parallel im TV-Sender Channel 4 und auf BBC Radio 3 ausgestrahlt. So gesehen funktioniert „Blue“ auch als klassisches Hörspiel. Doch seine Wucht entfaltet das Werk erst auf der großen Leinwand. Dann nämlich, wenn der Blick im abgedunkelten Raum unweigerlich in diesem Blau versinkt, die Leinwand sich immer weiter zu dehnen scheint und es kein Entrinnen mehr vor der Farbe gibt. Ein Effekt, der auf dem kleinen heimischen Bildschirm freilich nicht vollständig zu erzeugen ist. Während Yves Klein in seinen Arbeiten das monochrome Blau in Bildrahmen zu fassen versuchte, erweitert Jarman das Blickfeld und ermöglicht den Kinobesucher:innen ein ungeahntes ästhetisches und die Sinne belebendes Erlebnis.
Schauen und lauschen. Darum geht es dann. Im Original sind es die Stimmen von John Quentin, Nigel Terry, Tilda Swinton und Jarman selbst; die deutsche Fassung (übersetzt von Sven Rosenkranz und in der Synchronregie von Christoph Eichhorn) ist nicht minder hochkarätig besetzt und wird eindrücklich gestaltet von Ulrich Matthes, Sylvester Groth, Wolfgang Condrus und Eva Mattes.
Diese Stimmen erzählen von Liebe, von Trauer und Wut. Es sind Erinnerungen Jarmans an seine Kindheit, Geschichten von seinem Alltag als schwuler Mann im London der 1990er Jahre, seinem Leben mit Aids, Beobachtungen in der schwulen Szene und der HIV-Community. Jarman erzählt von seiner dahinschwindenden Gesundheit, von den Stunden, die er in den Wartezimmern von Krankenhäusern verbracht hat, von Nachtschweiß und Schmerzen in den Gliedern, vom Verfall seines Körpers und dem Verlust der Kräfte. Episoden, erschütternd in ihren Details, traurig in ihrer Ehrlichkeit, bisweilen aber auch scharfzüngig, voll schwarzem Humor und beinahe zynisch. Nicht zuletzt ist „Blue“ auch eine Auseinandersetzung mit dem Tod, dem eigenen und dem vieler Freunde und Geliebter.
„In den Brandungswellen
Höre ich die Stimmen toter Freunde
Liebe ist Leben das nicht stirbt.
Mein Herz erinnert sich an euch“
Jarman nennt sie beim Namen: „John. Daniel. Howard. Graham. Terry. Paul.“ Und wiederholt diese Aufzählung mehrmals. Als gelte es, sie vor dem Vergessen zu bewahren. Solange wir uns ihre Namen vergegenwärtigen, sind sie nicht verschwunden.
Derek Jarman klingt dabei nicht verbittert oder selbstmitleidig; sein Ton schwankt vielmehr zwischen schwarzem Humor, Widerständigkeit und Dankbarkeit für die Liebe und Unterstützung seines Freund:innen-Kreises. Er verströmt Kampfeslust, auch angesichts einer unvermeidlichen Niederlage, und Spott für die schwulenfeindlichen Wortführer:innen in der britischen Politik wie auch für jene sich selbst feiernden Aktivisit:innen und für das organisierte Mitleid.
„Ich werde den Kampf gegen das Virus nicht gewinnen – trotz all der Sprüche wie ‚Leben mit AIDS‘. Die Gesunden haben sich das Virus zunutze gemacht – und so müssen wir mit AIDS leben, während sie den Quilt für die Motten von Ithaca über der weinroten See auswerfen.“
Die vielschichtige Auseinandersetzung mit unterschiedlichsten Aspekten von HIV/Aids, seine künstlerische Konsequenz, die Intimität und Direktheit verbunden mit einer poetischen Überhöhung macht „Blue“ zu einem der interessantesten Dokumente der seinerzeit vieldiskutierten „Aids-Kultur“ – und ist auch heute noch ein überzeugendes (Sprach-)Kunstwerk. Derek Jarman war stets nicht nur Filmemacher, sondern auch Maler, Gartengestalter, Homosexuellen- und Aids-Aktivist und eben auch Schriftsteller und Lyriker. Mit „Blue“ reduziert Jarman – aus der Not heraus und mit der Kraft des unbedingten Ausdrucks- und Gestaltungswillens – die Möglichkeiten der (Film-)Kunst bis auf die reine Fläche und den Ton, und schafft damit zugleich einen Film, der im Wesentlichen von der Sprech- und Sprachkunst lebt. Ein Langgedicht, in dem sich die erschreckenden Banalitäten der Krankheit – er zitiert etwa eine schier endlose Liste mit Nebenwirkungen auf dem Beipackzettel seines HIV-Medikaments – gleichwertig neben Aphorismen, impressionistischen Naturbeobachtungen und Alltagsszenen stehen. Und immer wieder dieses Blau.
„Ich trete hinaus in blaue Angst
(…)
Blaue Flaschen klirren
(…)
Blaue Blitze in meinen Augen
Blau meines Herzens
Blau meiner Träume
Zarte blaue Liebe
In Tagen des Rittersporns
Blau ist die unendliche Liebe, in die der Mensch eintaucht –
es ist das Paradies auf Erden“
Jarman umkreist diese Farbe, gibt ihr ein Eigenleben, macht sie zu einem elementaren Teil der Welt, des Lebens und der Wahrnehmung. „Wer den Film sieht“, sagt Jarman, „erkennt, dass Rot und Gelb nicht funktionieren würden. Gelb ist die wahre Farbe der Krankheit. Und Rot ist zu aufwühlend und schwierig. Blau hingegen trägt Hoffnung in sich, immer. Es wird nie zu rührselig.“
Wer sich auf diese assoziative Collage aus Text, Farbe und Sound einlässt, wird unweigerlich dazu angeregt, sich in eine kontemplative, fast tranceartige Stimmung fallen zu lassen und Jarmans Erfahrungs- und Gedankensplitter mit eigenen zu verbinden. So radikal und bezwingend das monotone, statische Blau auf der Leinwand ist, jede:r einzelne Zuschauer:in wird dieses Blau ganz anders, ganz individuell wahrnehmen und zusammen mit dem Soundtrack vor dem inneren Auge zu einem eigenen Film montieren.
Vielleicht deshalb hatte Manfred Salzgeber bestimmt, dass auf seiner Gedenkfeier – die selbstverständlich in einem Kino stattfand, im Filmpalast am Kurfürstendamm – nicht viele Worte gemacht werden sollen, sondern stattdessen „Blue“ gezeigt wird. Salzgeber und Jarman verband eine lange Freundschaft: Als Leiter der Berlinale-Sektion „Panorama“ hatte Salzgeber Jarmans Frühwerk eine Bühne geboten und auch dafür gesorgt, dass „Caravaggio“ 1986 im offiziellen Berlinale-Wettbewerb uraufgeführt wurde; Jarman gelang damit der internationale Durchbruch. Und Manfred Salzgeber hat als Filmverleiher eine ganze Reihe von Jarmans Filmen ins deutsche Kino gebracht – von „Sebastiane“ (1976) über „Angelic Conversation“ (1985) bis „War Requiem“ (1989) und „The Garden“ (1990). Und selbstverständlich auch „Blue“.
Manfred Salzgeber, dessen Tod sich am 12. August zum 30. Mal jährt, hat sich nie in den Mittelpunkt gestellt. Sein Bestreben war es vielmehr, Filmschaffenden und ihrem Werk eine Plattform und die ihr zustehende Aufmerksamkeit zu verschaffen. So war es auch bei dieser Gedenkveranstaltung zu seinen eigenen Ehren. Es war zugleich eine Hommage an Jarman und seinen letzten Film – und die Möglichkeit eines jeden, der an diesem Vormittag im Filmpalast saß, sich an jene zu erinnern, die an Aids verstorben waren und um sie zu trauern. Um Manfred Salzgeber, um Derek Jarman und die vielen anderen Künstler:innen, deren Leben infolge von Aids abrupt beendet wurden, um Freund:innen, Geliebte und Kolleg:innen. Im Dunkel des Saales, den Blick aufs Blau der Leinwand und gleichermaßen ins Innere gerichtet, sah jede:r einen ganz eigenen Film. Aus der individuellen Auseinandersetzung Jarmans mit seiner Endlichkeit wurde eine kollektive Erfahrung. Und der letzte Satz, der in „Blue“ gesprochen wird, so darf man vermuten, war im Geiste an viele bereits abwesende Menschen gerichtet:
„Ich werde einen Rittersporn, Blau, auf dein Grab dir pflanzen.“
Jarman starb am 19. Februar 1994, kaum acht Monate nach der Filmpremiere in Venedig, im Alter von 52 Jahren. Beigesetzt ist er auf dem Old Romney Churchyard in Kent, unweit seines Prospect Cottages in der landschaftlichen Einöde von Dungeness. Die englische Grafschaft ist berühmt für seine Rittersporn-Vielfalt in den Gärten. Auf Jarmans Grab allerdings, das als eines der wenigen auf diesem Friedhof überhaupt bepflanzt ist, blüht eine Stockrose.
Blue
von Derek Jarman
UK 1993, 74 Minuten, FSK 12,
DF & englische OF mit deutschen UT
Als DVD & VoD