Patagonia
Trailer • Kino
Yuri ist 20 und lebt bei seiner Tante in einem kleinen Dorf in den Abruzzen. Als er bei einem Kindergeburtstag dem Animateur Agostino begegnet, ist er sofort elektrisiert. Agostino ist älter, selbstbewusst und auf wilde Weise unabhängig. Yuri heuert als Agostinos Assistent an und fährt im Wohnmobil mit ihm fort. Ihr großes Ziel ist Patagonien, das Land des Feuers. Mit brennenden Bildern erzählt der italienische Regisseur Simone Bozzelli in seinem Debütfilm von einer vergessenen Jugend, für die nur ein Leben am Rand der Gesellschaft und in ständiger Bewegung in Frage kommt, um den unbändigen Hunger nach Aufrichtigkeit und Freiheit zu stillen. Getragen von einer kompromisslosen filmischen Vision, von Respekt gegenüber den Figuren und zwei überwältigenden Hauptdarstellern zeigt „Patagonia“ eine ambivalente Liebe als verzehrendes Machtspiel zwischen Zärtlichkeit und Destruktion. Philipp Stadelmaier über ein raues Roadmovie, das im August in der Queerfilmnacht zu sehen ist und am 22. August auch regulär im Kino startet.
Faustrecht und Freiheit
Von Europa aus gesehen erscheint Patagonien, der südliche Teil Argentiniens, wie das Ende der Welt. Was in der Vergangenheit einigen Filmen immer wieder dabei geholfen hat, sich vom alten Kontinent zu emanzipieren und entlang einer Fluchtlinie räumlich und zeitlich auszudehnen, auf der Suche nach einem Schatz, einer Person oder einem Traum. Nach Patagonien verschlägt es in Lisandro Alonsos „Eureka“ (2014) Ende des 19. Jahrhunderts einen dänischen Leutnant, der die Landschaft auf den Spuren seiner Tochter durchquert. Am Schluss springt Alonsos Film ins heutige Europa, wo Elemente der Expedition wieder auftauchen und sich die Frage stellt, in wie weit die eine Seite der Welt – und die eine historische Periode – ein Traumbild der anderen ist. „The Tale of the King Crab“ (2021) von Alessio Rigo de Righi und Matteo Zopi spielt ebenfalls im 19. Jahrhundert und beginnt in Italien, um später der aus ihrem Dorf verstoßenen Hauptfigur nach Feuerland auf Schatzsuche zu folgen. Auch dieser Film „springt“ in der Zeit, mit einem kleinen Abstecher ins Jetzt.
In „Patagonia“ von Simone Bozzelli, der im letzten Jahr beim Filmfestival von Locarno Premiere hatte, bleiben wir hingegen komplett in Europa: Die beiden Hauptfiguren Yuri und Agostino träumen nur von Patagonien, ohne ihre italienische Provinz je zu verlasen. Auch die historischen Epochen sind hier nicht auseinandergezogen, sondern zusammengefaltet. Wie in den Filmen von Alice Rohrwacher, der Taktgeberin des zeitgenössischen italienischen Autor:innenkinos, spielt „Patagonia“ nicht in unserer Gegenwart, aber auch in keiner anderen präzisen Epoche. Der Film evoziert die späten Neunziger- oder frühen Nullerjahre, in denen noch CDs in Autoradios gehört und Autofahrten auf gedruckten Straßenkarten geplant wurden. Andererseits läuft auf dem Computer im Reisebüro, von wo der ersehnte Trip nach Patagonien gebucht werden soll, eine Software der heutigen Zeit.
Wir befinden uns also in einer phantasierten Ära, während auch die Abruzzen, wo der Film spielt, etwas Phantastisches und Außerweltliches an sich haben, als würden sie die Erinnerungen an andere, ferne Orte in sich bewahren. Neben Patagonien wäre das die kalifornische Wüste, mit ihren von Außenseiter:innen, Ausgestoßenen und Arbeitslosen bewohnten Trailerparks, wie sie Gianfranco Rosi in „Below Sea Level“ (2008) so eindrucksvoll dokumentiert hat.
In einen solchen Trailerpark, einem Ort für Post-Hippies, Junkies und andere Nomad:innen, verschlägt es bei Bozzelli nun das sehr ungleiche und unwahrscheinliche Paar, das Yuri und Agostino formen. Yuri ist zwanzig und im neurodiversen Spektrum angesiedelt: Noch halb ein Kind, muss er von seinen Tanten, die ihn baden und pflegen, umsorgt werden. Bis er bei einem Kindergeburtstag den Clown Agostino kennenlernt, einen Badboy und Freiheitsnarren ohne festen Wohnsitz, der mit seinem Wohnmobil durch die Gegend fährt und, seinen pyromanischen Neigungen folgend, regelmäßig die Dinge verbrennt, die er nicht mehr braucht. Nach einem kurzen Spiel der Annäherung und Verführung steigt Yuri bei Agostino ein – und brennt mit ihm durch.
Was nun in eine queere „Bonnie & Clyde“- oder „Thelma & Louise“-Geschichte übergehen könnte, ein Roadmovie, eine Reise in die Freiheit und eine sexuelle Befreiung (sowie in eine Befreiung von bestimmten Genderrollen, heteronormativen Ordnungen etc.), endet rasch in der Enge des Trailerparks sowie einer Beziehung, die für die Figuren zum Gefängnis wird. Die Rollen sind klar verteilt: Agostino ist der Harte, Starke, Coole und Skrupellose, der kein Problem damit hat, Yuri zu demütigen und aus ihm eine Hausfrau zu machen, der auf das Kind aufzupassen hat, das Agostino mit einer anderen Bewohnerin des Trailerparks hat. Agostinos Bisexualität, sein Freiheitsdrang und das im Vergleich zu Yuri eher Neurotypische seiner Person verleihen ihm mehr Flexibilität und machen aus ihm den „Mann“ gegenüber dem weiblich konnotierten Yuri, der seine schwule Sexualität gerade erst entdeckt.
Das „Bestrafen“, die „punizione“, spielt im Verhältnis zwischen den beiden Männern zunehmend eine Rolle und verleiht ihm eine sadomasochistische Note. Irgendwann sticht Agostino Yuri ein Piercing in die Brustwarzen, die sich daraufhin entzünden; als Yuri sich beschwert, pinkelt Agostino auf die wunden Stellen – eine sadistische Variante der Golden Shower, in der die Lust auf der Strecke bleibt. Die Schwierigkeit in dieser ungleich verteilten Ökonomie der Liebe besteht darin, dass die Abhängigkeit zu einseitig bleibt, ohne dass klar wird, was Agostino umgekehrt an Yuri kettet. Darin besteht der Gegensatz zu Fassbinder, dessen Erforschung von Machtverhältnissen auch im queeren Spektrum (wie im genialen „Faustrecht der Freiheit“ von 1975) luzider war: Wer sich ausbeuten lässt, muss etwas zu bieten haben, was der oder die Ausbeutende will – zum Beispiel Geld.
Andererseits macht gerade die Unwahrscheinlichkeit des Paares dessen Besonderheit aus: Yuri ist von Agostino angezogen, projiziert seine Idee von Liebe aber auf einen Clown, während Agostino von Yuri nicht loskommt, ohne dass es dafür einen besonderen Grund gäbe. Auf diese Weise bündelt sich hier die Idee der Anziehung und der Liebe mit einer gewissen Unbegreiflichkeit. „Verrückt“ sind jedenfalls beide, und beide auf ihre Weise.
In seinen intensiven Farben und der Musik strotzt der Film vor Energie, auch die beiden beeindruckenden Schauspieler geben alles. Dennoch findet diese Energie wenig Platz, um sich zu entfalten. Die nah an den Figuren geführte Handkamera engt die Körper stark ein. Deren Gegensätzlichkeit ist so überzeichnet, dass ihre visuelle Erscheinung fast an Comicfiguren erinnert, also erneut an ein starres, statisches Bild. Der kindlich-sensible Yuri ist ein offenes Buch, seine ausdrucksvolle Mimik begleitet und unterstreicht jede seiner Emotionen. Der punkig-harte Bad Boy Agostino scheint hingegen Luc Bessons „Das fünfte Element“ entsprungen zu sein, der 1997 ins Kino kam: Das Unterhemd erinnert an Bruce Willis, die roten Haare an Milla Jovovich. Was dazu führt, dass hinter der Maske des „Clowns“ und Spaßmachers Agostino (dem „Augustin“ oder „Ago“, wie er von Yuri genannt wird) ein gemeines, anarchisches und sadistisches Wesen steckt, das eine kindliche Figur wie Yuri verführt – und ihr Angst macht.
Der karnevaleske Charakter der Trailerpark-Feste erinnert an einen anderen Granden der Neunziger: an Emir Kusturica und seine fröhlich-barocken Porträts von Balkan-Communities. Der roughe erotische Naturalismus à la Harmony Korine oder Larry Clark, dessen „Kids“ (1995) hier durch die Kombination von Yuris Kindlichkeit mit Agostinos Brutalität nicht weit entfernt liegt, ist ebenfalls ein Kind dieser Ära. Im Rahmen der italienischen Tradition kann man außerdem an die Rohheit homoerotisch grundierter sozialer Randexistenzen bei Pasolini oder in Sergio Cittis „Ostia“ von 1970 denken, wo es auch um ein Dreieck aus zwei Männern und einer Frau ging und der Drang nach Freiheit und Genuss in Gewalt endete.
Den wahren Zug Richtung Freiheit findet man hier jedoch weniger bei Yuri und Agostino als bei einem anderen Trailerpark-Bewohner namens Morgan, von dem man sich gewünscht hätte, dass der Film ihm mehr Raum ließe. Er ist die einzig wahrhaft unabhängige Figur, die es aus der geschlossenen Phantasiewelt und dem Traum-Patagonien des Films hinaus in die reale Welt und die Ferne treibt. Für einen Moment, eine weiten Einstellung über die trockene und heiße Landschaft, spüren wir den Aufbruchsgeist, den der Titel verspricht. Da laufen Yuri und Morgan nebeneinander her, über die unbegrenzten Weiten, und man sagt sich, dass sie es gemeinsam tatsächlich bis ins echte Patagonien schaffen könnten, um etwas Neues, Anderes, Schönes zu entdecken – bevor Yuri es sich dann doch anders überlegt.
Patagonia
von Simone Bozzelli
IT 2023, 110 Minuten, FSK 16,
italienische OF mit deutschen UT
Ab 22. August im Kino