Lola und Bilidikid (1999)

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Kreuzberg Mitte der 1990er. Murat ist 17 und schwul, aber das dürfen seine aus der Türkei stammenden Eltern nicht wissen. Auf einem seiner Streifzüge durch die verbotenen Parks und Schwulenbars lernt er die Dragqueen Lola kennen und freundet sich mit ihr an – ohne zunächst zu wissen, dass sie sein von der Familie verstoßener älterer Bruder ist. Als Lola eines Nachts ermordet wird, macht sich Murat mit ihrem Geliebtem Bilikid auf die Suche nach den Tätern. Kutluğ Atamans „Lola und Bilidikid“ ist eine funkelnde Perle des queeren Kinos aus Deutschland, die es unbedingt wiederzuentdecken gilt. Toby Ashraf hat sich auf die Spuren ihrer Entstehung gemacht, alte Drehorte besucht und mit Regisseur Kutluğ Ataman, Produzent Martin Hagemann und Darsteller Mesut Özdemir über den Film und das Leben danach gesprochen. Eine Liebeserklärung als Rekonstruktion.

Bild: Zero Fiction Film

Die Gastarbeiter:innen

von Toby Ashraf

I. Prolog

„Es waren mal ein Mann namens Lola und ein Mann namens Bili. Am Anfang waren sie überglücklich. Sie waren wahnsinnig verliebt. Aber weil Bili so ein Macho-Typ war, hatte er bald keine Lust mehr als Schwuler mit einem Schwulen zusammenzuleben. Also bat er Lola sich den Schwanz abschneiden zu lassen und eine Frau zu werden, damit sie heiraten und ein Leben führen könnten wie die anderen auch. Lola tat es, weil sie ihn liebte. Da stand sie nun in ihrer Schürze und putzte jeden Tag die Wohnung und backte Plätzchen, aber eines Tages kam Bili nicht mehr nach Hause. Lola wartete. Die ganze Nacht. Und die Nacht darauf. Und die Nacht darauf. Aber Bili kam nicht. Sie wartete wie die Heldin in einem Kitschroman. Sie wartete und fing an ihn zu hassen. Aber Bili kam nicht mehr zurück. Warum glaubst du hat Bili Lola verlassen? Weil die Frau, die er geheiratet hat, nicht mehr der Mann war, in den er sich verliebt hatte.“ (Lola)

II. Gruß, M.

Am 31.07.2024 bekomme ich ein Päckchen, darin eine Tüte. In ihr: Lolas rote Perücke. Eine von zweien, wie mir Produzent Martin Hagemann sagt. Hagemann hat sein Archiv aufgelöst und freut sich, dass ich mich darüber freue. Lola schwimmt im Film nach einer guten Stunde in dieser roten Perücke regungslos in der Spree nahe der Warschauer Brücke. „Bist du eine Meerjungfrau?“, fragt ein ganz in Rot gekleidetes Mädchen durch einen Zaun. Es ist die damals dreijährige Tochter des Produzenten, Carla Hagemann. Dem Paket liegt keine Nachricht bei, auf der Tüte im Paket steht mit Edding geschrieben: „Gruß, M.“

III. Credits

„Lola und Bilidikid“, der zweite Langspielfilm des türkischen Regisseurs Kutluğ Ataman, wurde von Ende Oktober bis Anfang Dezember 1997 in 30 Drehtagen in Berlin mit einem Budget von 2,5 Millionen D-Mark gedreht. Der Film feierte am 11. Februar 1999 seine Weltpremiere als Eröffnungsfilm der Sektion Panorama der Berlinale. Seinen deutschen Kinostart hatte „Lola und Bilidikid“ am 11. März 1999. Knapp 30.000 Zuschauer:innen sahen den Film damals in deutschen Kinos, verliehen vom Delphi Filmverleih von Claus Boje. „Lola und Bilidikid“, wurde in die Türkei, die UK, die USA, die Niederlande, nach Belgien, Luxemburg, Bulgarien, Tschechien, Slowenien, Ex-Jugoslawien, Ungarn, Island, Polen, Rumänien und Südafrika verkauft und wird nach wie vor regelmäßig aufgeführt. Kutluğ Ataman hatte vorher nie einen Film in Deutschland gedreht und sprach kein Deutsch.

IV. Interlude

„Ich habe überhaupt kein Problem für den Rest meines Lebens eine Perücke zu tragen, aber mehr ist nicht drin.“ (Lola)

V. Begrifflichkeiten

Über den Film aus heutiger Sicht zu sprechen, stellt die Herausforderung dar, aktuelle sprachliche, soziologische und politische Diskurse auf einen Text zu übertragen, der vor mehr als einem Vierteljahrhundert entstanden ist in einer Zeit, in der das Sprechen über geschlechtliche und ethnische Zugehörigkeiten ein anderes, wesentlich reduzierteres Vokabular bereitstellte. Es stellen sich heute Fragen, die schwierig bis unmöglich zu beantworten sind: Wer ist zum Beispiel Lola? Ein schwuler Mann, der abends als Frau auftritt, aber nur als trans Frau mit einem schwulen Mann in der Beziehung leben kann? Ist der schwule Mann Bili nach Lolas gewünschter Geschlechtsangleichung überhaupt noch schwul? Sind die Figuren im Film transident, Transvestiten, gender-queer, genderfluid, Drag Queens, Tunten oder sind sie Schwule, die manchmal gerne als Frauen auftreten? Zudem: Sind die Figuren Türken, bzw. Türk:innen, türkisch oder „aus der Türkei“ (Türkiyeli)? Oder sind sie Deutsche? Sind sie deutsch-türkisch, türkisch-deutsch, migrantisch oder post-migrantisch?

VI. Murat, Lola, Bili, Iskender, Kalipso, Osman, Fatma, Şehrazat, Hella, Friedrich, Ute und die Neonazis

Dass Kutluğ Atamans Film „Lola und Bilidikid“ heißt, verwundert mich immer noch. Lola (Gandi Mukli) verlässt den Film frühzeitig und bleibt trotz roter Perücke überraschend blass, wenn man sich die illustre Riege der übrigen Figuren anschaut. Bili (Erdal Yildiz), das muss auch gesagt werden, trägt als türkischer James Dean mit seiner Energie und Leinwandpräsenz den Film bis zum Schluss. Dann ist da aber noch Lolas Bruder Murat (Baki Davrak), die eigentliche Hauptfigur, die zwei der einprägsamsten Szenen des Filmes bestimmt: Bei einem Klassenausflug ins Olympiastadion cruist Murat auf der Toilette mit einem blonden Deutschen, der sich als Teil einer Neo-Nazi-Gang herausstellt in einer Szene, die durch die Mischung aus Erotik und Gewalt extrem zweideutig ist. Murat wird zusammengeschlagen und bepisst, und danach in einer ebenso besonderen Szene von seiner Mutter in einer Blechwanne in der Küche der Kreuzberger Wohnung gewaschen. Eine Waschung, bei der die Wahrheit über Lola zum ersten Mal ans Tageslicht kommt.  Der Bruder von Lola und Murat, der Taxifahrer Osman (Hasan Ali Mete), hat nur wenige Szenen, spielt aber eine Schlüsselrolle im Film. Dann ist da Iskender (Murat Yilmaz), der aggressive Callboy, der sich vom adeligen Muttersöhnchen Friedrich (Michael Gerber) zum Essen und zur Sexarbeit einladen lässt. Theaterlegende Inge Keller als Friedrichs Mutter Ute hätte ohnehin ihren eigenen Film verdient, wenn sie ohne mit der Wimper zu zucken dabei zusieht, wie einige ihrer Statussymbole verschwinden und das nonchalant kommentiert. Über Kalipso (Mesut Özdemir) wird später noch zu sprechen sein, aber auch Şehrazat (Celal Perk), Fatma (Nisa Yildirim) und die Imbissverkäuferin und gute Seele des Hermannplatzes Hella (Gundula Petrovska) tragen zum starken Ensemble bei, das zur Hälfte aus erfahrenen Schauspieler:innen und zur Hälfte aus Anfänger:innen oder Laien aus der Berliner Szene bestand.

VII. Interlude

„Was hältst du davon, wenn wir in die Türkei zurückgehen? Du könntest dich da operieren lassen. Wir könnten an die Küste gehen, eine Bar aufmachen, eine Riesen-Hochzeitsparty feiern. Ich habe darüber nachgedacht: Wir werden verheiratet sein. So wie diese deutschen Schwuchteln können wir nicht zusammenleben. Wir müssen wie ganz normale Leute leben, wie Mann und Frau, eben eine ganz normale Familie: Ich komme nach Hause und du bist da.“ (Bili)

VIII. Kutluğ

„Ich habe versucht, unrealistische Situationen in einer möglichst realistischen Art zu zeigen und das mit meiner poetischen Lizenz zu rechtfertigen. Ich wollte keinen unzugänglichen Film machen und habe deshalb versucht, zugängliche Szenen zu bauen und ihren Symbolismus dabei so gut es geht zu verstecken“, sagt Kutluğ Ataman schmunzelnd im Gespräch über „Lola und Bilidikid“, als ich ihn danach frage, warum Murat von seiner Mutter in einer viel zu altmodisch wirkenden Blechwanne mitten in der Küche gewaschen wird. Atamans Antwort lässt sich auf fast alle Szenen des Films übertragen, die eine Realität überhöhen, mit der der Regisseur und Drehbuchautor selbst nicht großgeworden ist. Ataman filmte als junger Erwachsender in der Türkei die Proteste gegen Polizeigewalt und engagierte sich politisch, was nach dem Staatsstreich 1980 dazu führte, dass er verhaftet und im Gefängnis gefoltert wurde. Der Sohn eines Diplomaten floh noch, bevor er 20 war, ohne große Englischkenntnisse in die USA, wo er an der University of California Film studierte und nach seinem Debütfilm „Dark Waters“ (1994) zuerst plante, „Lola und Bilidikid“ in Istanbul zu drehen, um den Film schließlich für Deutschland umzuschreiben, da er in der Türkei weder Finanzierung noch Unterstützung für das Projekt erhalten hätte.

Ich erreiche Kutluğ Ataman per Video-Call auf seiner Ranch in Ostanatolien. Das Sprechen über den Film ist in Teilen anekdotisch und die Erinnerung nicht immer scharf, zu lange ist alles her. Dennoch ergeben sich für „Lola und Bilidikid“ im Nachhinein zahlreiche interessante Schlüssel. Der Fokus auf Männer, die sich als Frauen kleiden, und das Erzählen von Sexarbeit sind Elemente, die von einem türkischen Publikum anders wahrgenommen wurden als von einem deutschen, sagt Ataman. Als offen schwuler Mann in der Türkei zu existieren, war damals keine Option; sich als Frau auszugeben, dadurch sexualisiert und objektiviert zu werden und Sexarbeit zu betreiben, hingegen schon. Ein Narrativ, das sich in den Lebenswirklichkeiten und Filmen anderer Länder aus der Mittelmeerregion oder dem Nahen Osten spiegelt. „Lola und Bilidikid“ wurde demnach zuerst auch von türkischen Festivals abgelehnt, nur um nach dem Erfolg auf der Berlinale dann doch gezeigt und auf den Filmfestivals in Ankara und Istanbul mit Preisen bedacht zu werden. Zum Kinostart in der Türkei, so erzählt Ataman, waren die frühen Vorstellungen fast leer, die Spätvorstellungen hingegen brechend voll. Zu groß war die Gefahr, so mutmaßt der Regisseur, im Tageslicht gesehen zu werden bei einem schwulen Film, der sowohl in der türkischen Queer-Community in Berlin als auch in der Türkei einiges verändert hat.

„Lola und Bilidikid“ sollte ein Film über Rassismus und Ausgrenzung werden, erzählt Ataman. Auch ein Film über Minderheiten, die Minderheiten unterdrücken, womit nachträglich die türkisch-deutsche und türkisch-deutsche queere Community gemeint sind. Die deutschen Figuren und das Auftreten der Neonazis sind dem Umzug des Films nach Deutschland geschuldet. In Berlin wurde Kutluğ Ataman ein Team an Übersetzer:innen und Assistent:innen an die Seite gestellt, da er selbst kein Deutsch sprach. Die Laiendarsteller:innen hat er in ihrem Soziolekt sprechen lassen und sich Unterstützung aus der Szene geholt.

2023 geht Ataman nach Istanbul zurück und dreht den Film „Hilal, Feza & Other Planets“, der Ende der 1990er angesiedelt ist und drei Frauen (davon eine trans Frau) und ihre Kämpfe um Menschenrechte in den Mittelpunkt stellt. Es wirkt beinahe wie eine späte Versöhnung mit einem einmal anders geplanten Projekt. Mittlerweile ist Kutluğ Ataman weniger als Kinofilmregisseur, sondern als arrivierter Video-Künstler bekannt. Seine Installationsarbeiten und Videos werden weltweit ausgestellt und sind Teil renommierter Sammlungen. Mir fällt in Bezug auf „Lola und Bilidikid“ vor allem eine Arbeit ins Auge: Die Vier-Kanal-Installation „WWWW“ – Women Who Wear Wigs. Es geht um vier Frauen, die aus verschiedenen Gründen Perücken tragen und darüber sprechen.

Bild: Zero Fiction Film

IX. Orte

Die Drehorte von „Lola und Bilidikid“ sind entweder gut erkennbar oder verschwunden. Das Kumpelnest und den Grünen Salon der Volksbühne gibt es noch immer, genau wie die Wandinstallation „Am Haus“ der türkischen Künstlerin Ayse Erkmen von 1994 in der Oranienstraße 18 am Heinrichplatz, der heute allerdings Rio-Reiser-Platz heißt. Die Sonnenallee hat sich verändert, das Imbisshäuschen auf dem Hermannplatz hat oft seine Besitzer:innen gewechselt und verkauft heute Baklava. Die Toilette im U-Bahnhof, in der im Film und im wahren Leben unter Männern gecruist wurde, ist verschwunden.

X. Interlude

„Warum können wir nicht einfach so glücklich sein? So wie wir sind. Wir lieben uns doch!“ (Lola)

XI. Martin

„Ich habe gemerkt, wie „Lola und Bilidikid“ von der Community geliebt wird, und wie er am Leben geblieben ist“, sagt Produzent Martin Hagemann, den ich für ein Gespräch treffe. „Es erfüllt einen mit Stolz, wenn man das Gefühl hat, man hat einen Film gemacht, der Leuten etwas bedeutet. Das ist am Ende des Tages wichtiger als der kommerzielle Erfolg. Es ist ein Film, der Menschen berührt hat und bis heute berührt. Deshalb liebe ich diesen Film.“ Martin Hagemann ist Inhaber und Geschäftsführer der zero fiction film, die „Lola und Bilidikid“ damals produziert hat. Hagemann hat Filme wie Thomas Arslans „Der Schöne Tag“ (2002), Béla Tarrs „Das Turiner Pferd“ (2011) oder Edward Bergers „Jack“ (2014) produziert, bzw. co-produziert. Insgesamt gehen seit Anfang der 1990er-Jahre über 40 Filme auf sein Konto. Dass „Lola und Bilidikid“ einen unverkennbaren US-amerikanischen Look hat, lässt sich auf Hagemanns Kooperation mit „Good Machine Productions“ zurückführen, der von Ted Hope und James Schamus gegründenten Independentfilm-Firma, die von 1990 bis 2003 existierte und keinen unerheblichen Beitrag zur Produktion unabhängiger queerer Stoffe geleistet hat. James Schamus, mittlerweile dreifach Oscar-nominiert, wurde als Drehbuchautor und Produzent von Ang Lee bekannt und hatte zum damaligen Zeitpunkt bereits Klassiker des New Queer Cinema wie „Poison“ (1991) und „Swoon“ (1992) sowie „Das Hochzeitsbankett“ (1993) und Kutluğ Atamans „Dark Waters“ (1994) mitproduziert. Obwohl „Lola und Bilidikid“ ausschließlich mit deutschen Geldern produziert wurde, sind die Bildgestaltung des US-Amerikaners Chris Squires und die Ausstattung von John Di Minico der Zusammenarbeit mit James Schamus geschuldet. Zwei weitere Namen sind hier nicht ganz unwichtig: Martin Wiebel, Redakteur beim WDR, Dramaturg und großer Unterstützer des Films, erscheint als Ko-Produzent, genau wie Zeynep Özbatur Atakan, deren Name oft fällt, und die später als Produzentin der Filme von Nuri Bilge Ceylan bekannt werden soll.

„Kutluğ Ataman wusste sehr genau, was er will, und sehr genau, was er macht“, sagt Hagemann auf die Dreharbeiten zurückblickend. „Lola und Bilidikid“ war sein erster größerer Film, der Durchbruch als Produzent für Hagemann und zudem ein „extrem ambitioniertes Projekt“, was man dem Film bis zum dramatischen Showdown in einer stillgelegten Berliner Fabrikhalle in jeder Szene ansieht. Als „perfekte amerikanische Indie-Produktion ohne die Mittel der Amerikaner“ bezeichnet Martin Hagemann den Film und betrachtet ihn aus heutiger Sicht als Mischung aus europäischem und amerikanischem Arthaus-Film, ohne das eine oder das andere richtig zu sein. Bei den Dreharbeiten trafen amerikanische und deutsche Arbeitsweisen nicht immer reibungslos aufeinander, was nach Hagemanns Einschätzung an der großen, vor allem erzählerischen Ambition des Films und dem damit verbundenen Druck lag. Das Interesse war es, einen unterhaltsamen Film mit wichtigen Themen und einem gewissen kommerziellen Potential für den internationalen Markt zu machen, sagt Hagemann. Er fügt trocken hinzu: „Wir haben mit dem Film nie einen Pfenning verdient.“ Am Ende zählt das Weiterleben des Films.

XII. Interlude

„Ich bin eine echte Frau: Ich mach euch heiß und mach euch kalt.“ (Kalipso)

XIII. Sabuha

„Der Film hat mich befreit“, sagt Mesut Özdemir über „Lola und Bilidikid“. 25 Jahre sind seit der Premiere vergangen, aber Mesut, der die Drag-Performerin Kalipso spielt, erinnert sich an jede Szene, als hätte er den Film als Vorbereitung zu unserem Gespräch gerade noch einmal gesehen, obwohl das tatsächlich mehrere Jahre her ist. Die erste Version, die er vom Film besaß, war eine VHS-Kassette, danach kaufte sich Mesut nach eigener Schätzung zehnmal die DVD, die er immer wieder verlieh und nie zurückbekam. Der Film ist Teil seiner DNA, sagt er. Seine Augen glänzen, wenn er über „Lola und Bilidikid“ redet und über Kalipso. Und der Film hat viel verändert, sagt er. Wir treffen uns im Südblock am Kottbusser Tor, einem Ableger der Möbel Olfe – beides queere, linke Orte in Berlin-Kreuzberg unweit der Filmwohnung der Kalipso in der Oranienstraße, die wiederum direkt neben dem ehemaligen Café Anal liegt, das man noch aus Michael Stocks „Prinz in Hölleland“ kennen kann und das es längst nicht mehr gibt. Orte der Gastarbeiter:innen, der Schwulen, der Hausbesetzer:innen, Orte, die sich rapide verändert haben. Richard Stein ist im Südblock. Er hat das Möbel Olfe mitbegründet und den Südblock und ist einer der vielen Weggefährt:innen von Mesut, die sich seit den späten 1990er-Jahren kennen. Mesut Özdemir ist in der Türkei geboren und lebte 17 Jahre lang in Nordrhein-Westfalen, bevor ihn ein Familienmitglied zwangsoutete und er nach Berlin floh, um dort kurze Zeit später nicht nur in fast allen Berliner Stadtteilen als Friseur zu arbeiten, sondern auch den „Salon Oriental“, eine queere, hauptsächlich türkische Varieté- und Bühnenshow zu gründen. Mesut Özdemir ist in Berlin seit den späten 1990er-Jahren bekannt als Sabuha Salaam, als Performerin, Friseurin und Kaffeesatzleserin. Zwischen Mesut und Sabuha gibt es keinen Unterschied, nur dass Sabuha frech sei und gerne flirte, während Mesut gerne erobert werden will, sagt er schmunzelnd.

Foto: Zero Fiction Film

Regisseur Kutluğ Ataman sah Sabuha bei einer Show im SchwuZ und gab ihr die Rolle der Kalipso, die in „Lola und Bilidikid“ eine kleine Nebenrolle mit großen Szenen ist. Pronomen sind Mesut nicht wichtig, eigentlich sei Mesut das Drag-Alter-Ego von Sabuha. Das spielt besonders eine Rolle in jener Szene, die für Mesut (und viele andere) die wichtigste im ganzen Film ist und gleichzeitig eine der lustigsten, gedreht im Treppenhaus der Wohnung der Kalipso: Während Lola und Hakan (Fatma Souad) – zusammen mit Kalipso Teil der Drag-Performance-Gruppe „Die Gastarbeiterinnen“– vor der Tür warten und aus Spaß weibliche türkische Vornamen rufen, um zu gucken, wie viele Frauen im Haus daraufhin das Fenster öffnen,  macht Kalipso einen Schlussstrich und zieht aus. Sie wirft ihre Plastiktasche auf die Straße und entscheidet sich am helllichten Tage und als Frau „dieses beschissene Haus“ zu verlassen. Im Flur begegnet sie ihrer Nachbarin (Hatice Tolgay), einer Muslimin mit Kopftuch. Wer sie sei? „Fikret.“ (Es ist das einzige Mal im Film, dass Kalipsos männlicher Name genannt wird). Als Frau? Was sie denn da anhabe? „H&M natürlich!“ Sie sähe aus wie eine Hure, im Haus lebten Familien. Sie hätte schon immer gewusst, dass mit ihr etwas nicht stimme. Tut, als wäre sie ein Mann, schimpft die aufgebrachte Nachbarin und spuckt. „Was hätte ich denn machen sollen? Als Frau unter euren geilen Männern?“, fragt Kalipso. „Mir war klar: Mädchen, das ist eine Männerwelt. Wenn du deine Ehre behalten willst, musst du dich als Mann verkleiden. Es ging um meine Jungfräulichkeit, um meinen Stolz, meine Ehre, meine Selbstachtung, meine Würde.“ Und Kalipso fügt noch hinzu: „Ich werde dich vermissen. Allah weiß, du warst so nett zu mir“, um dann zu ergänzen: „Aber dein Mann war noch netter.“ Lachend verlassen „Die Gastarbeiterinnen“ das Treppenhaus, während die Nachbarin ihnen ein letztes Mal hinterherspuckt. Solche Szenen voller Selbstbewusstsein, Witz und Selbstbestimmung, die auch noch im türkischen Milieu in Kreuzberg angesiedelt sind und Identitätsfragen zwischen queeren und konservativen Türk:innen verhandeln, gab es vorher nicht und in dieser Form auch später nicht noch einmal.

Sabuha ist neben Filmkollegin Fatma Souad und Ipek Ipekçioglu Mitorganisatorin der „Gayhane“-Party im SO36, das man im Film sieht, als Kalipso ihre Wohnung verlässt. Gegründet wurde die Party 1999, im Jahr des Erscheinens von „Lola und Bilidikid“. Danach trauten sich viele Männer, so Mesut, in Kleid und Perücke in der Oranienstraße in der Schlange zu stehen, anstatt sich heimlich in den Innenräumen umzuziehen aus Angst vor Gewalt und Anfeindungen. Kalipso bleibt bislang Mesuts einziger Filmauftritt. Er wird bis heute in der Türkei und in Berlin darauf angesprochen.

XIV. Epilog

Die Premierenparty von „Lola und Bilidikid“ findet am 11.02.1999 ab 23 Uhr im „SO 36 Berlin Kreuzberg, Oranienstraße 180“ statt, so steht es auf dem Flyer, den mir Martin Hagemann digital zukommen lässt. Ein Busshuttle stehe dafür vor dem Royal-Kino zur Verfügung. Das Royal-Kino, 1965 als Royal Palast eingeweiht, wurde 2006 abgerissen. Mesut Özdemir muss die Premiere des Films frühzeitig verlassen, weil er bei der Premierenparty im SO36 auftreten wird. Die akademischen Texte zum Film füllen mittlerweile kleine Semesterapparate. Kutluğ Ataman und Martin Hagemann planen „Lola und Bilidikid“ in nächster Zeit digital restaurieren zu lassen, um das Erbe eines in so vielerlei Hinsicht wichtigen Films weiterhin zu garantieren.

 

 



Lola und Bilidikid
von Kutluğ Ataman
DE/TR 1999, 93 Minuten,
türkisch-deutsche OF


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