Die Zeugen (2007)

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2007 lief „Die Zeugen“ von André Téchiné, dem schwulen Altmeister des französischen Autorenfilms, im Wettbewerb der Berlinale. Aids ist ein Thema, 1984 in Frankreich, aber vor allem geht es um das Glück einer Gemeinschaft, prekär und bedroht, von Téchiné tänzerisch leicht in Bewegung versetzt. Michel Blanc, Sami Bouajila, Julie Depardieu und Emmanuelle Béart spielen die verzauberten Zeugen der Geschichte von Manu, dem Johan Libérau eine spektakuläre körperliche Präsenz und eine eigene Geschwindigkeit gibt. Fritz Göttler über einen Klassiker des Aids-Kinos, der dem beginnenden Schrecken der Epidemie die Kraft der Ersatzfamilie entgegensetzt.

Foto: Salzgeber

Eine andere Atemlosigkeit

von Fritz Göttler

Julie mag das Foto nicht, das von ihr bei ihrem Bruder Manu am Bett steht. Da schau ich aus, sagt sie, wie eine Blinde. Es gibt eine schöne Koketterie zwischen den beiden, sie hat ein Zimmer in einem Stundenhotel in Paris und darf dort auch üben, sie will Opernsängerin werden, ein Apartment können sie sich nicht leisten. Wie seh ich aus, fragt Manu, als er unvermutet bei der Schwester auftaucht, und fährt sich kurz durch die schwarzen Haare, grinsend. Immer noch so narzisstisch, meint Julie. Wenn er spät nachts zurückkommt und sich auszieht, schwitzend und müde von Freunden und Liebhabern, liegt ein Hauch von Keuschheit und Erregung über dem Zimmer. Ist dir das unangenehm, fragt er Julie, wenn du mich nackt siehst? Er hat noch nie mit einem Mädchen geschlafen.

Blockaden

„Les beaux jours“ heißt der erste Teil des Films, die schönen Tage, Sommer 1984. Ein Paar kriegt ein erstes Kind, Sarah und Mehdi (Emmanuelle Béart, Sami Bouajila). Der Mann ist bei der Sittenpolizei, die Frau schreibt Kinderbücher, nun aber, als sie sich an einem Erwachsenenbuch versucht, hat sie einen writer’s block. Sie gestehen einander alle Freiheiten zu. Ihr Freund Adrien (Michel Blanc) ist Klinikarzt, ein Mann im besten Alter, homosexuell, er verliebt sich in Manu, aber der hält ihn auf Distanz. Plötzlich aber steckt Manu in einer intensiven Beziehung mit Mehdi, dem strengen, steifen Sittenwächter, der sein Vaterglück genießt.

Mit somnambuler Sicherheit bewegt sich Manu auf den dunklen Pfaden im Gay-Quartier unter dem Eiffelturm. Als Adrien ihn direkt anspricht, macht er ihm überhaupt keine Hoffnungen, aber dann läuft er ihm nach, damit Adrien seine Jacke hält, wenn er sich mit anderen Jungs einlässt. Adrien setzt sich auf eine Bank, verwirrt, aber nicht verletzt.

Sie sind dann doch viel zusammen und glücklich dabei, Manu und Adrien, durch Paris gleitend, auf einem Bateau-mouche. Manu steigt lässig über die Stange, die den Fahrgastbereich abschließt, er geht ein Stück weiter auf das Deck, setzt sich hin und hebt den Kopf gegen die Sonne. Adrien, dem er zuwinkt es ihm gleichzutun, bleibt an der Stange stehen, wie es sich gehört. Manu kennt keine Grenzen, keine abgesonderten Bereiche, in den heißen Nächten überquert er gern die Straße und bezaubert mit seinem Lächeln die Nutten auf der anderen Seite.

Keiner filmt den Sommer so intensiv, mit solchen Glücksmomenten wie André Téchiné. Süchtigkeit nach Licht und Wärme, nach Körperlichkeit und Gemeinsamkeit und oft nach dem offenen Meer dringt aus den Bildern in seinen Filmen. Die Menschen müssen die Augen schließen vor lauter Glück. Es ist existentielles Glück, das auch das Glück ist vor dem Zusammenbruch, dem Nichts.

Foto: Salzgeber

Eine der schönsten Sommersequenzen, wenn Sarah im Ferienhaus im Süden den Hang hinunter eilt, um die Freunde zu begrüßen, im gelben Kleid zwischen den gelben Büschen, unterwegs ganz für sich, träumerisch, hinter ihr die Leere, die Weite des Meeres, mehr zu ahnen als zu sehen. Es gibt sie zweimal diese Einstellung, im ersten und im zweiten Sommer.

Eine Passage von Camus, aus „Noces/Hochzeit des Lichts“, 1938: „Ich liebe dieses Leben von ganzem Herzen und will frei von ihm reden: ich danke ihm den Stolz, ein Mensch zu sein. Und doch hat man mich oft genug gefragt, worauf ich denn so stolz sei. Worauf? Auf diese Sonne und dieses Meer, auf mein von Jugend überströmendes Herz, auf meinen salzigen Leib und diese unermessliche Pracht aus Glanz und Glück, aus Gelb und Blau. Ich muss all meine Kräfte aufbieten, um dieser Fülle standzuhalten…“

Die Geschichte eines Neuankömmlings. Manu, der aus den Bergen kommt, den Bergler nennt ihn Adrien ironisch, liebevoll. Er verkörpert die Lebenslust, die Sinnlichkeit, er kocht und bäckt, führt Adrien die Hände, wenn er einen dünnen Teig in eine Form legt. Das bedeute das Intime mit dem Kollektiven vereinen, sagt Téchiné von seiner Arbeit als Filmemacher. Manu, das ist ein Glück, das nicht auf einzelne Partner fixiert ist. Der Neuankömmling ist auch Eindringling. Er bringt Beziehungen durcheinander, Balancen ins Schwanken, stört das Gleichgewicht. Aber schafft dadurch eine alle umfassende Intimität.

Foto: Salzgeber

Der Winter ist Krieg

Dies ist einer der wenigen Filme, die aus dem Auftauchen von Aids, aus dem Schock, der Verzweiflung, der Wut der ersten Monate mit der Krankheit keine Tragödie machen. Es gibt keine einzige dramatische oder desperate, keine melodramatische Szene. Gelassen sieht man immer wieder, sommers wie winters, ein Bateau-mouche auf der Seine passieren, gleichgültig, vorübergehend, passager ist der französische Ausdruck.

Der Narzissmus, den Johan Libéreau als Manu entwickelt, ist hinreißend, es steckt keine Spur von Überheblichkeit oder Schuld darin. Manu ist burschikos, trägt immer die gleichen bürgerlich karierten Hemden, und in seinem spontanen Lachen steckt immer ein kleiner Zug Naserümpfen.

Eine Kunst der Hemdsärmeligkeit. „Man darf diese Körper nicht fetischisieren“, schrieb Serge Daney zu Téchinés Film „Rendezvous“, und das gilt aufs Komma auch für die „Zeugen“, „sondern es gilt die Geschwindigkeit zu würdigen, derer sie fähig sind, dieses Tempo, das sie schon in sich tragen… Es ist wie eine Dokumentation über diese Elans, diese abgebremsten Startversuche, diese erworbenen Tempi… Diese Körper sind nicht manipuliert, sie bewegen sich einfach mit verschiedenen Geschwindigkeiten.“

Foto: Salzgeber

Keine Spur von Manipulation, dafür überall eine unglaubliche Diskretion. Michel Blanc, wie er lässig elegant unter den jungen Strichern herumstreicht, ist wie von einer anderen, einer ganz eigenen Welt, und ist doch ganz ihnen zugeneigt. Eine merkwürdige Omnipräsenz, als Arzt, als Eingeweihter. Wenn er gegen Aids in die Schlacht zieht, ist er wie Napoleon, da steckt etwas Königliches, auch fast Göttliches in ihm.

„La guerre“ heißt der zweite Teil des Films, Winter ’84/’85. In dem Moment, da Manu mit seiner Krankheit körperlich verfällt, erscheint er wie ein Erlöser, von einer zärtlichen, einer traurigen Gestalt, und sein Jünger Adrien wird zum treuen Sancho.

Lernen allein zu sein, sagt André Téchiné, das ist ein großes Abenteuer heutzutage, ein Widerstand gegen den gesellschaftlichen Druck, die Repression. Das ist so kühn und bedeutend, wie ein Paar zu bilden. Und ich finde es schade, dass vom Wort Einsamkeit sich so schmerzensreiche Implikationen herleiten. Ich glaube, in dieser Geschichte verstehen Figuren wie Julie oder Adrien allein zu sein – und das ist eine Stärke, eine Öffnung, das ist überhaupt nicht trist.

Foto: Salzgeber

Mimosen pflanzen

Téchiné mag keine exzessiven, obsessiven Momente, von Erinnerungen niedergedrückt. Bruder und Schwester filmt er gern, das sind die Beziehungen, die am produktivsten sind, am utopischsten und am gewagtesten, manchmal. Einer, der lernt für zwei zu leben. Es steckt eine Menge Familiensinn in diesen Filmen, Familien als Versuchssysteme, von den Müttern offen gehalten auf die Zukunft hin.

Du pflanzst Blumen im Winter, fragt Sarah erstaunt die Mutter, als sie in der Schaffens- und Liebeskrise – Mehdis Affäre! Hat er sich bei seinem Lover infiziert? – nach Hause fährt. Ja, sagt die Mutter, das ist die beste Zeit. Ich dachte erst an Mimosen. Aber sie sind so fragil. Sarah kommt nicht klar damit, dass sie nun Mutter ist, sie schottet sich ab und stülpt sich sogar Kopfhörer über, wenn sie auf ihrer Schreibmaschine hämmert, damit das Baby sie nicht stört mit seinem Geschrei. Sie wird Manus Geschichte schreiben, als Zeugnis, für sich: Le nouveau venu.

Das ist Kunst, sagt Sarah zur Sängerin Julie bewundernd, aber nein, sagt Julie, das ist keine Kunst, das ist Sport. Die Stimme ist ein Muskel. Man kann das Singen lehren, die Vokale, und trotzdem muss man weiter an Rimbauds Verse von den Vokalen denken, wie die Laute und die Stimme zusammenhängen mit dem Denken und dem Leben.

Am Ende gehört der Film ganz Julie, die von Julie Depardieu mit schöner Klarheit gespielt wird. Sie hofft nicht auf eine Karriere, sondern auf eine feste Stelle, wird dafür nach München gehen. Wenn sie die Arie der Barbarina singt, nach der Trauerfeier für den Bruder, das ist wie ein eigenes kleines Requiem, ein Gottesdienst auf offener Bühne, aber ganz privat und intim, und Adrien sitzt im Publikum und versteht das genau.

Mich interessiert, sagt André Téchiné, wenn eine Figur sich aufrecht hält und ihren Schatten wirft, und dass sie in unbegreiflicher Bewegung ist, wie im wirklichen Leben. Es ist eine andere Atemlosigkeit in seinen Filmen als jene, die die Nouvelle Vague provozierte und propagierte. Der Tod ist keine Lösung, hat er Fritz Lang zitiert im Zusammenhang mit den „Zeugen“, der berühmte Satz aus „Die Verachtung“ (1963), dem legendären Sommerfilm Godards. Dem Tode nahe, verliert Manu, wie der alte Fritz Lang, auch die Kraft zu sehen. Nur das grelle Licht der Sonne bleibt, bei einem Spaziergang mit Adrien. Die Wahrheit der Sonne, noch einmal Camus, die auch die Wahrheit meines Todes sein wird.




Die Zeugen
von André Téchiné
FR 2007, 110 Minuten,
französische OF mit deutschen UT,
Salzgeber

Als DVD und VoD

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