Concussion

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Durch eine heile, aber nicht wirklich eingespielte Vorstadt-Regenbogen-Familie geht ein kleiner Riss. Ausgelöst durch eine Gehirnerschütterung („concussion“), begreift eine der beiden Mütter in Stacey Passons abgründigem Debüt, dass ihre Welt zu klein geworden ist, dass eine größere aber vielleicht auch nicht so anders aussehen würde. Der von der New-Queer-Cinema-Veteranin Rose Troche produzierte Film wurde auf der Berlinale 2013 mit einem Special-Teddy ausgezeichnet und steht für ein noch immer hochaktuelles Thema im nicht-heterosexuellen Kino: dass Glücklichwerden auch nach der Emanzipation und rechtlichen Gleichstellung kein Automatismus ist. The Moms are not all right.

Foto: Edition Salzgeber

Die Erschütterten

von André Wendler

Bewegung, Lärm, Schwitzen, Energie. Es wird davon gesprochen, von wem man sich was ins Gesicht spritzen lassen würde. Erst kurz darauf sehen wir ein gutes Dutzend ordentlich trainierter Frauen beim Indoor-Biking. Sie treten in die Pedale und bewegen sich keinen Schritt nach vorn. Sie trainieren, um auszusehen, als könnten sie allen möglichen Herausforderungen begegnen. Sie sind bereit für jedes Abenteuer. Die Ironie in ihren Sätzen weiß, dass die Bereitschaft ausreicht, weil es für die weiße Mittelschicht keine Abenteuer mehr gibt. Ereignisse sind hier höchstens theatralische Un- oder Zwischenfälle, etwas zu rotes Kunstblut inklusive.

Die Welt, in der sich der Film für einen Augenblick eine Erschütterung vorstellt, ist eine Welt der gedeckten Farben: grau, beige, mauve, taupe, greige, dazu Silber, Bronze, Edelstahl, mattes schwarz und alle möglichen Erd- und Holzfarben. Die bequemen Sofas, gut gepolsterten Betten, Küchenstühle und gemütlichen Bänke in diesen Farben sind so unaufdringlich, dass es weh tut. Wie viele Einrichtungsgegenstände in diesem wohltemperierten Farbschema kann ein Mensch ertragen? Abby hat es sich in dieser hellen Welt mit ihrer Frau und den beiden Kindern so gemütlich gemacht wie es eben geht. Sie sorgt dafür, dass der Garten ordentlich, die Wäsche faltenfrei, das Essen für die Kinder nahrhaft und gesund ist.

Nachdem der Sohn ihr einen Baseball an den Kopf geworfen hat, sucht sie die Veränderung. In Manhattan renoviert sie mit einem Freund ein Loft. Kreative Beschäftigungstherapie für saturierte Mittelstandsmütter. Wie sehr solche kleinen Ausbrüche schon mit einkalkuliert sind, zeigt sich daran, dass hier die Fragen die gleichen wie dort im Suburb sind: Wie sieht der Holzboden am besten aus, welche Farbe soll der Bettüberwurf haben, verkörpern diese Küchenfliesen den Spirit der Wohnung? Irgendwann ist das Loft fertig, es ist so perfekt wie alle wohlgeplanten Familienbehausungen dieser Welt. Immer wieder tastet die Kamera die Einrichtungsgegenstände in Schwenks ab: Flacons, Bilderrahmen, Uhren, Aschenbecher, Grafiken, Bücher. Sie liegen herum und werden von uns und den Filmfiguren angestarrt, aber sie können nichts erzählen. Aus einstmals nützlichen oder bedeutungsvollen Dingen ist hübscher, farblich passender Dekorationsplunder geworden, der Besucher_innen sagen lässt: „You seem cultured.“

Das amerikanische Kino ist normalerweise wie besessen davon, uns das Außen dieser hermetischen Welten zu zeigen: Seine Protagonist_innen entkommen in fremde Länder, auf unbekannte Planeten, in eine Welt im Kleiderschrank. Oder sie begegnen den großen anderen, die ein für alle mal alles ändern: Außerirdische, die große Liebe, der verlorene Vater, der alles umstürzende Held. „Concussion“ quält uns nicht mit solchen sinnlosen Utopien, sondern sieht der Realität ins Angesicht. Die Flucht aus einem grau-beigen Haus führt in ein anderes grau-beiges Haus. Die Aussicht ist überall dieselbe: Es gibt diese oder jene Aussicht auf die New Yorker Skyline oder irgendwelche benachbarten Vorgärten. Es ist bewundernswert, wie der Film es schafft, die Gefährdung und gleichzeitige Stabilität dieser Welt zu zeigen. Es ist ein bisschen die lesbische Version von David Lynchs „The Straight Story“ (1999): Die Bedrohungen und Brüche sind subtil und manchmal kaum zu sehen. Oft ist es nicht mehr als ein entgleister Mundwinkel, ein aus Versehen entblößter blauer Fleck oder ein kurzer Moment, in dem man das Auto einfach an den Straßenrand fahren muss, um aus dem Fenster zu starren.

Foto: Edition Salzgeber

Wir sehen die Gesichter von Menschen, die alles haben, was man sich wünschen kann, und die doch die Leere nicht länger übersehen können. Es sind diese typisch amerikanischen Fernsehgesichter: gute Haare, gute Zähne, gute Haut, gute europäische Gene. Sie sehen wahlweise amazed, happy, tired, sad oder bored aus. Gute Schauspieler_innen habe noch einige Adjektive mehr für ihre Gesichter. Wenn Abby ihre Mini-Revolution noch ein bisschen weitertreibt und sich auf beiden Seiten der Transaktion mit Sex für Geld beschäftigt, wird ihr Loft zu einem regelrechten Casting-Studio. In der Reihenfolge ihres Auftretens: ein schwarz-langhaariges Victoria-Secret-Model mit aufdringlich trainiertem Bauch und verwegenen Tattoos; eine etwas übergewichtige und wahnsinnig nervöse Women’s-Studies-Studentin auf der Suche nach ihrem ersten Kuss; ein überambitionierter Girls-Sidekick mit psychoanalytisch einschlägigen Ohrringen; eine im Innersten zerbrechliche aber nach außen hart gewordene Akteurin des Kunstbetriebes mit dünnen rötlichen Haaren; eine junge Frau, die ihre Widerständigkeit durch ihr „we are in hell“-Tattoos beglaubigt haben will; die Frau eines Goldman-Sachs-Analysten mit einem obszön großen Diamentring. Diese Frauen kommen und gehen, sie plaudern, kommen wieder, bäumen sich beim Orgasmus auf, verteilen romantische Küsse danach und zahlen, was vereinbart war. Das klingt hoffnungslos und ist es wohl auch, aber in „Concussion“ ahnt man, dass es so etwas wie Hoffnung gibt.

Dass unter jeder professionellen Maskerade verletzbare Menschenkinder hausen, die eine Berührung suchen und keinen anderen Ausweg wissen, als dafür ein paar hundert Dollar zu investieren. Abby kann an dem Leben dieser Menschen so wenig ändern wie an ihrem eigenen. Der einzige Skandal an dieser Welt ist, dass es keine Skandale gibt. Wenn eine Ehe auseinandergeht, weiß keiner so recht, woran es gelegen hat, aber es gibt gute Anwälte, die alles in Ordnung bringen. Wenn einem mal jemand unter den Rock gefasst hat, während man hinter einer Dragqueen am Unisexklo angestanden hat, dann ist das eine tolle Geschichte, um sie auf einer Party zu erzählen. Alles ist möglich, alles lässt sich integrieren, solang es irgendwann als Ware, Dienstleistung oder gute Unterhaltung in den allgemeinen Tauschkreislauf eingebracht werden kann.

Foto: Edition Salzgeber

Das gilt nicht nur für alles und jede_n in „Concussion“, sondern auch für den Film selbst. Die lakonische Kamera hat weder Angst vor Kalauern noch vor pathetischen Momenten. Sie schenkt uns die New-York-Bilder, auf die wir alle warten, und überrascht uns mit kleinen zauberhaften Anordnungen, die erst auf den zweiten Blick verraten, was sie sind, woher ihre Symmetrie stammt oder wieso in ihnen verrückte Lichteffekte blitzen. Der leicht verdauliche Totalitarismus des Films und seiner Welt kommt auch in seinen immer passend getönten Bildern zum Ausdruck. Sieht alles sehr schön aus, passt alles gut zusammen, gibt keinen Ausweg. „Concussion“ findet immer wieder Bilder, um diesen Zustand sichtbar zu machen. Das ist so subtil, dass man es kaum beschreiben kann. Man muss es sich anschauen.

Dieser Text könnte hier zu Ende sein, so wie der Film zu Ende sein könnte, wenn Abbys Partnerin Kate merkt, wie sinn- und hoffnungsleer ihre Welt ist. Es gelingt dem Film, seinen Schauspieler_innen und seiner Regisseurin aber, einen subtilen doppelten Boden zu installieren, der diesen ganzen heteronormativen, kapitalistischen Irrsinn weder erträglicher oder besser, dafür aber verständlich macht. Das beginnt schon zu Anfang. Eine Freundin erklärt Abby, dass sie einen Beitrag für ein Elternmagazin schreibt über die Träume junger Mütter. Abby hat ihr aufgeschrieben, dass sie träumte, wie sie ihren kleinen Sohn entweder in die Mikrowelle setzte oder ihn heiratete. „My poor baby. I didn’t know whether to kill him, fuck him or eat him.“ Ihre Freundin findet das unangebracht und erklärt Abby, dass sie eher an Träume dachte, in denen man vergisst sein Kind zu füttern, weil man so unter Druck steht. Abby ergibt sich in ihr Schicksal: „OK. I dreamt I forgot to feed him.“

Foto: Edition Salzgeber

In dieser Gesellschaft sind alle ständig auf der Suche nach Ereignissen, nach Geschichten, nach ungewöhnlichen Personen und Konstellationen. Wann immer sie eine treffen, sind sie enttäuscht, dass ihre Erwartungen von Ereignissen, Geschichten und ungewöhnlichen Personen nicht mit diesen übereinstimmen. Wenn Abby ihre Kundinnen erst auf einen Kaffee treffen möchte, sind diese zunächst mit nichts anderem beschäftigt als dieses Treffen in die Kategorien von Date oder Sexjob einzuordnen: „But I do pay you.“ Abby ist halb schockiert und halb ernüchtert, dass es ihr nicht gelingt, die Grenzen ihres bürgerlichen Gesellschaftsmodells zu finden. Sie ist aber wohl auch froh darüber. Am Ende sind ihre Pläne, am Wochenende die Haustür neu zu streichen, das Auto in die Werkstatt zu bringen und sich um die Sprinkleranlage zu kümmern. Was sie wirklich will? „I wanna take a hot yoga class after this.“

Sie sagt das mit diesem besonderen Gesicht, das sie die ganze Zeit durch den Film trägt. Es ist ein vernünftiges Gesicht: aufgeräumt, gut erhalten, angemessen dekoriert, bewegt genug, um die notwendigen Adjektive zu zeigen: amazed, happy, tired, sad, bored. Ihr Lächeln erscheint aber etwas zu schnell, der Aufschlag ihrer Augen erfolgt etwas zu automatisiert, eine empörte Mimik ist zu bereitwillig zu Hand, wenn sie gebraucht wird. Ich habe das zu oft gesehen, um noch daran glauben zu wollen. Schaut Carry Bradshaw nicht viel glücklicher, wenn sie die Skyline von Manhattan sieht? Zieht Hannah Horvath ihre Augenbrauen nicht viel lakonischer nach oben, wenn sie ihre Mitbewohnerin beim Sex auf dem Esstisch überrascht? Abby ist eine Frau, die einem nicht leid tun muss und die am Ende jede Illusion über ihr Leben verloren hat. In der letzten Einstellung schaut sie mit festem Blick in die Kamera, in ihre Zukunft. Es wird wohl ungefähr so weitergehen, strampeln auf dem Indoor-Bike, eine neue Veranda bauen, Innenräume schaffen. Die Klugheit von „Concussion“ besteht darin, nicht den großen Ausbruch zu simulieren, sondern die Bedingungen zu schildern, unter denen wir uns so lang selbst verbessern dürfen, wie alles beim alten bleibt. Vor etwas mehr als hundert Jahren hat man sich „The love that dare not speak its name“ als einen Ausweg vorgestellt. Nun hocken die Namenlosen in gedecktfarbigen Familienbehausungen und beobachten an sich und ihren Nächsten die wenigen sichtbaren Erschütterungen. „Concussion“ ist das großartige Familienalbum der Erschütterten




Concussion
von Stacie Passon
US 2013, 96 Minuten,
FSK 16,
englische OF mit deutschen UT,
Edition Salzgeber

Hier auf DVD.

vimeo on demand

VoD: € 4,90 (Ausleihen) / € 9,90 (Kaufen)

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