Ammonite

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Nachdem der Kinostart mehrfach verschoben werden musste, hat das Warten nun ein Ende: Ab 4. November ist das historische Liebesdrama „Ammonite“ mit Kate Winslet und Saoirse Ronan regulär auf der großen Leinwand zu sehen. Im Nachfolger seines rauen schwulen Liebesfilms „God’s Own Country“ erzählt Francis Lee von einer leidenschaftlichen lesbischen Beziehung im England Mitte des 19. Jahrhunderts: zwischen der Fossiliensammlerin Mary (Winslet) und der jungen Ehefrau Charlotte (Ronan). Der Film wirft damit ein neues Licht auf die bekannte britische Paläontologin Mary Anning und lässt sie ein Begehren ausleben, das ihr die offizielle Geschichtsschreibung nie zugestand. Beatrice Behn über das spannende Unterfangen, sich aus einer historischen Versteinerung zu lösen.

Foto: Tobis Film

Steinschnecken lecken

von Beatrice Behn

Irgendwann in der Mitte von „Ammonite“, wenn Kate Winslet sich trotz aller sedimentären Kühlheit der blassen Schönheit von Saoirse Ronan hingibt und ihr – Gesicht voran – in den Schritt springt, als gäbe es kein Morgen mehr, musste ich an sie denken: Die Bedenkenträger*innen. Die aufgeregten Fingerzeiger*innen, die ganz rot im Gesicht ins Internet schrieben, wie schlimm und nicht historisch korrekt es ist, diese Frau so zu zeigen.

Gemeint ist Mary Anning (1799-1847), Fossiliensammlerin aus dem immer feucht-kalten Lyme in England und Begründerin der modernen Paläontologie, die in Francis Lees „Ammonite“ porträtiert wird. Aber nicht als prüde Frau, die eben keinen Mann hatte, weil die Arbeit so wichtig war, sondern als eine, die arbeitet, schlau ist und nebenbei noch Mösen leckt. Da steckt schon ein wenig Genialität dahinter, den Spieß einmal umzudrehen, denn die Filmgeschichte kennt mehr als genug historisch verbürgte Persönlichkeiten, deren Queerness gleich als erstes aus dem Drehbuch getilgt wurde. Dass der fiktiven Anning jetzt ein sexuelles Begehren zugesprochen wird, passt einigen aber nicht ins Bild der properen und arbeitsamen Wissenschaftlerin – und das ist wahrlich ein geschichtlicher Treppenwitz.

Denn Annings Leben, sowohl das historisch verbürgte als auch das in „Ammonite“, ist geprägt davon, was Männer ihr zuschreiben und was nicht. Wissenschaftlerin darf sie sein, aber nicht öffentlich anerkannt. Ihre Fundstücke stellt man nur zu gern im Museum aus, aber nicht unter ihrem Namen. In Lyme, England als Single leben, na gut. Aber nur, wenn man ihren ungemachen Status als lästiges Übel der harten Arbeit sehen darf und nicht etwa als nicht an Männern, Heirat, Kindern interessiert, weil sie es so will oder kann. Und nein, eine Sexualität, ein Begehren oder gar Liebe, das sprach man ihr ebenfalls ab, ganz so, wie es die christlich geprägte Idee der Märtyrerei will. Die Anning, die gibt es nur im Zusammenhang mit Steinen. Sie sammelt Fossilien, weil sie irgendwie selbst eins ist. Mehr darf nicht sein, denn es ist wichtig, selbst heutzutage noch, solche außergewöhnlichen Menschen zu kompartmentalisieren und zu zerhacken, denn wer kein cis-heterosexueller Mann ist, der braucht kein ganzer Mensch zu sein.

Foto: Tobis Film

Und so kommt es der fiktiven Geschichte nur zu Gute, dass Mary hier mehr ist als nur eine Abstauberin und Auskratzerin von versteinerten Schneckenhäusern. Diese Mary ist ein ganzer Mensch, wenn zunächst auch nur rudimentär, denn sie hat wenig Platz, sie selbst zu sein. Ihr Zuhause wird bestimmt von der alten Mutter, die am Ende ihrer Tage mehr raunender Schrecken als lebendiger Mensch ist und dennoch ein fleischgewordenes Symbol dafür, was das Patriarchat Frauen antut. Was sie nicht davon abhält, das System trotz allem mitzutragen. Nur am Strand hat Mary Platz, doch auch hier gibt es alsbald eine Invasion. Ein schnöseliger, englischer Gentleman namens Murchison will von ihr lernen und mit auf ihre Strandrunden gehen. Er zahlt gut und bleibt nicht lang, es ist also nicht allzu schlimm. Doch nachdem er ein bisschen Spaß hatte, stellt er seine psychisch labile Frau Charlotte bei Mary ab. Weil Frauen ja so gut in der Pflegearbeit sind und so.

Es dauert eine Weile, bis die beiden Frauen zusammenfinden. Was sie vereint, ist die Einsamkeit, die die Welt, in der sie leben, über sie hat kommen lassen. Charlotte, die ihrer Pflicht als Gebärende nur unzulänglich nachgekommen ist und das Kind verlor, werden von männlichen Ärzten kühle Luft, kalte Bäder und keinerlei Stimulation verordnet, damit sie bald wieder gebären kann. Wie Mary ist auch sie eine aufgeteilte, von außen definierte Frau. Da mögen Worte auch wenig erklären und so setzt der Film vor allem auf Hände. Marys verschlissene Arbeitshände, die Fossilien suchen. Charlottes zarte Hände, die irgendwann Marys halten. Die tiefe Einsamkeit der Frauen, sie lässt sich am besten haptisch zwischen Steinen und Fleisch erkunden. Und wenn diese Hände dann endlich die warme Haut der anderen finden, dann wird es überraschend explizit.

Foto: Tobis Film

Beim Sex ist Mary wie beim Graben nach Ammoniten nicht gerade zimperlich. Natürlich kommt einem bei „Ammonite“ sofort Céline Sciammas „Porträt einer jungen Frau in Flammen“ in den Sinn. Doch während deren Protagonistinnen sich jung und leidenschaftlich einander hingeben, so erinnern Mary und Charlotte eher an Ennis und Jack in „Brokeback Mountain“. In Francis Lees Film, so wirkt es manchmal, ficken sie nicht aus Liebe, sondern ums Leben. Keine Spur von den sonst so üblichen Darstellungen zart-streichelnder Lesbenliebe im Kerzenlicht. Hier geht es darum, überhaupt mal wieder etwas an sich heran und in sich herein zu lassen. Es geht darum, im Akt – und wenn auch nur für einen kleinen Moment – ein wenig freizuräumen, ja regelrecht freizukratzen, was unter Schichten von Kleidung und Schichten von sozialer Unterdrückung schon fast selbst zu Stein geworden ist. Man muss hier innehalten, denn diese Körperlichkeit ist so eckig, dass sich die Idee von queerer Körperlichkeit ganz eindeutig und markant als etwas Andersartiges positioniert.

Foto: Tobis Film

In gewisser Weise nutzt der Film Queerness als Ausdrucksmittel. So sehr, dass sich „Ammonite“ schon fast nicht nach einem klassisch queeren Film anfühlt, sondern eher einem Meta-Diskurs, der diese sexuelle und romantische Devianz als Werkzeug nutzt, um die Idee von historischer Weiblichkeit Stück für Stück freizulegen und zu einem Ganzen zusammenzufügen, was stets in Stücke zerlegt war. Und dies geht nur, indem man einen Schritt aus der patriarchalen Ordnung der Geschichte heraustritt. Devianz als Lösungsmittel sozusagen. Und eine Weile tut die Queerness ihren Dienst, doch auch sie vermag dem engen Korsett eines Filmes, der letztendlich doch seiner Historizität dienen will, nicht zu entkommen.

Auch wenn es letztlich nicht komplett gelingen mag, Mary Anning wenigstens als Figur zu befreien, so ist „Ammonite“ doch ein spannender Ansatz, sich aus historischer Versteinerung zu lösen und, wenn auch nur für einen Moment, einigen Leuten ein bisschen Angst zu machen, ihre schöne Geschichtsschreibung sei dahin.




Ammonite
von Francis Lee
UK 2020, 118 Minuten, FSK 12,
englische OF mit deutschen UT und DF,
Tobis Film

Ab 4. November im Kino.

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